Mittwoch, 30. März 2011

Zukunftsfähigkeit der IKT in Deutschland

Im Januar hatte ich in diesem Blog auf zwei Dokumente hingewiesen, die für den Dresdener IT-Gipfel vorbereitet worden waren. Eines stammte vom Münchner Kreis, das andere vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Da ich damit vermutlich Hoffnungen geweckt hatte, habe ich letzte Woche beide Berichte nochmals gelesen. Im Folgenden also einige Kommentare dazu. Die Abkürzung IKT steht für Informations- und Kommunikationstechnologie und Medien. Sie umfasst neben der Informatik auch die frühere Nachrichtentechnik und die Unterhaltungs­elektronik.

Zunächst zum Bericht des Münchner Kreises. In diesem Arbeitskreis sind neben einigen Professoren der Münchner Hochschulen (Eberspächer, Picot) auch die im süddeutschen Raum tätigen Kommunikationsfirmen vertreten (Siemens, Deutsche Telekom, Telefonica O2 und Vodafone), sowie die SAP AG. Das Dokument hat den Titel „Offen für die Zukunft – Offen in die Zukunft“ und umfasst etwa 170 Seiten. Im Wesentlichen wird über eine Umfrage unter deutschen und europäischen Experten berichtet, die im Jahre 2010 durchgeführt wurde. Drei große Komplexe werden behandelt: Kompetenzen, Sicherheit und neue Geschäftsfelder. 

Mit Kompetenzen sind hier die Fähigkeiten der Nutzer gemeint, die sie benötigen, um mit neuen IKT-Angeboten umgehen zu können. Es ist viel von der digitalen Spaltung (engl. digital divide) die Rede. Neben dem Zugang sollte auch der kompetente Umgang mit dem Internet ermöglicht werden. Die Verantwortung dafür, dass Jugendliche in dieser Hinsicht nicht auf sich allein gestellt bleiben, liege beim öffentlichen Bildungswesen, also beim Staat. Dass man möglichst früh lernen sollte, in der Flut von Informationen Qualität und Relevanz zu beurteilen, klingt zwar schön. Wie dieses Ziel erreicht werden kann, wird jedoch offen gelassen. Neu für mich war die Existenz einer 70:20:10-Regel. Danach erfolge das Lernen zu 70% bei der Arbeit (engl. on the job), zu 20% von Kollegen und zu 10% durch Information. Diese 10% kamen in der Vergangenheit aus Büchern, in Zukunft werden sie wohl aus dem Internet kommen. Wenn das stimmt, erwarten wir eindeutig zu viel vom Internet.

Bei der Frage der Sicherheit seien Nutzer und Anbieter gleichermaßen gefordert. Der Staat müsse nur für eine adäquate Regulierung sorgen. Als Chancen für die Zukunft wird eine Liste von 18 Geschäftsfeldern vorgestellt, beginnend mit Sicherheits­technologie, über Energiesteuerung, Gesundheitsvorsorge und Internet der Dinge bis zu Semantic Web und Augmented Reality. Es fehle lediglich an Risikokapital, um hier erfolgreich loslegen zu können. In den IKT-Kernbereichen – so heißt es − sei wohl der Zug für Deutschland abgefahren.

Die ZEW-Studie hat den Titel „ITK als Wegbereiter für Innovationen“ und ist (nur) 48 Seiten lang. Sie wurde von BITKOM in Auftrag gegeben und vom Bundeswirtschafts­ministerium finanziert. Man beachte die gegenüber dem andern Bericht geänderte Abkürzung. Sie steht für Informations- und Telekommunikationstechnologien. Die Studie soll zeigen, dass die ITK-Branche zu den innovativsten Branchen Deutschlands zählt. Das wird mit einer Menge von Zahlen belegt. Leider bin ich nicht in der Lage, alle Zahlen zu verifizieren. So wird z.B. die Größe der Gesamtbranche im Jahre 2010 durch folgende drei Zahlen charakterisiert: Anzahl der Unternehmen 115.000, Beschäftigte 840.000, Umsatz 240 Mrd. Euro. Erst wenn man die Aufteilung in Teilbranchen sieht, kann man sich ein Gefühl dafür verschaffen, über was geredet wird.

  ITK-Teilbranchen in 2010

Mit der ersten Zeile sind Computer-Systeme, periphere Geräte und Unterhaltungs­elektronik (engl. consumer electronic) erfasst. Die Software-Branche müsste nach diesen Angaben im Jahre 2010 etwa 330.000 Beschäftigte gehabt haben. Diese Größenordnung stimmt ganz gut mit der Zahl 300.000 für die Primärbranche überein, die ich in meinem früheren Beitrag über die Software-Industrie für das Jahr 2005 erwähnt hatte. Die eigentlichen Aussagen des Berichts sind von der Art, dass von der ITK-Branche etwa 7 % des Umsatzes in Innovationsprojekte reinvestiert werden, etwa doppelt so viel wie in einigen andern Branchen. Nur die Pharma- und die Automobil­industrie sind innovativer. Als Innovationsleistungen werden Forschung und Ent­wicklung gerechnet, aber auch Marketing und Investitionen in neue Netze und Geräte. Andere zentrale Aussagen sind, dass rund 400 von 1000 befragten Unternehmen im Jahre 2010 ITK-basierte Innovationen eingeführt haben, und dass 12 % aller ITK-Patentanmeldungen aus Deutschland stammen.

  Patentanmeldungen im Jahre 2010 für IPC ‚G06F‘

Der letzten Zahl versuchte ich etwas auf den Grund zu gehen, indem ich in öffentlich verfügbaren Patentdatenbanken nachschaute. Das Problem dieser Zahl besteht darin, dass weder der Zeitraum angegeben ist, noch das Gültigkeitsgebiet, noch die internationale Patentklassifikation (IPC). Ich habe daher in der obigen Tabelle die Anzahl der Anmeldungen des Jahres 2010 sowohl für das Europäische Patentamt (EPA) wie für die Weltpatentorganisation (WIPO) für den Patentklasse G06F aufgelistet. Dieser Klasse wird die Mehrzahl der Informatik-Patente zugeordnet, nicht aber die TK-Erfindungen. Innerhalb dieser Klasse wurden von in Deutschland wohnenden Erfindern beim EPA etwa 9% der Patente angemeldet, von den WIPO-Patenten jedoch nur 5,1%. Die Aussage ist also nur bedingt richtig.

Die WIPO listet alle Patente, die bei einem ihrer 184 Mitgliedstaaten angemeldet wurden. Interessant ist, dass bei den WIPO-Patenten China Deutschland bereits vom dritten Platz verdrängt hat. Taiwan ist kein WIPO-Mitglied. Die Zahlen für Indien konnte ich nicht feststellen. Erwähnen möchte ich einige der Firmen, die bei deutschen Informatik-Erfindungen des Jahres 2010 auftauchen. Es sind ABB, AMD, BMW, Bosch, Conti, Deutsche Telekom, Ericsson, Fraunhofer-Gesellschaft, Giesecke & Devrient, IBM, Philips, SAP, Siemens, Software AG und Telefonica O2.

Einige Aussagen in dem Bericht haben mich etwas überrascht, etwa die, dass 35% der befragten Unternehmen heute bereits Clouds nutzen. Hierbei ist unklar, wie repräsentativ diese Unternehmen für die Gesamtwirtschaft sind. Mit Bedauern wird festgestellt, dass Deutschland – außer bei Unternehmens-Software – technologisch und wirtschaftlich nur Mitläufer ist. Vor allem so richtungsweisende Innovationen wie Google, iPad, iPhone und Facebook kamen von außen. Als neue Innovationstrends werden Cloud Computing, mobiles Internet und intelligente Netze genannt. Mit diesem Allerweltsbegriff ist sowohl der flächendeckende Ausbau der Bandbreiten gemeint wie die Erschließung neuartiger Anwendungen. Diese werden vor allem in den Bereichen öffentliche Verwaltung, Gesundheitswesen, Energieverteilung und Verkehrsteuerung (z.B. für Elektroautos) gesehen. Was hier recht prosaisch klingt, erhält natürlich ein ganz anderes Flair, wenn man für das Anwendungsgebiet das entsprechende englische Wort verwendet und ein kleines ‚e‘ davorsetzt, wie in eGovernment. 

"Für Deutschland als eine der führenden Industrienationen ist eine leistungsstarke einheimische ITK-Industrie von großer Bedeutung“ heißt es apodiktisch im Manage­ment Summary (S.9). Daraus wird gefolgert, dass gerade bei den erwähnten neuen Trends sich Deutschland als Innovationsführer positionieren kann und soll. Man fragt sich, wer sich dadurch angesprochen fühlt, hoffentlich nicht nur Regierungsbeamte.

Wie Sie bemerkt haben werden, bin ich nicht der Ansicht, dass der zu erwartende Wissensgewinn es dringend erforderlich macht, die beiden Berichte im Detail zu studieren. Beim ersten Bericht besteht sogar die Gefahr, dass man das Abfragen von Expertenmeinungen mit einer echten Marktanalyse verwechselt. Im zweiten Fall wurden einige Daten herausgefiltert, die zu einer vorgegebenen Hypothese passten. Ob es auch Daten gibt, die der Hypothese widersprechen, wird nicht erwähnt. Mit beiden Studien wird der Politik zugearbeitet. Man kann den Autoren deshalb nicht vorwerfen, dass sie mehr politisch argumentieren als wissenschaftlich.

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