Freitag, 20. Dezember 2013

EU-Gelder zur Erforschung der Sicherheit des Internets

Wenn dieser Tage die EU-Kommission ihre Forschungsgelder vergibt, darf das Thema Internet-Sicherheit natürlich nicht fehlen. Nach den Enthüllungen der letzten Monate wurde uns allen klar, mit welchen Risiken die Milliarden Nutzer des Internets tagtäglich konfrontiert sind. Außer den Kleinkriminellen und dem Organisierten Verbrechen waren es vor allem staatliche Dienste, die uns überrascht haben bezüglich des Aufwands, der Rücksichtslosigkeit und der Cleverness, mit der sie ihre Ziele verfolgen. Das massenhafte Ausspähen sämtlicher elektronischer Kommunikation schien uns die Illusion eines freien und fairen Internets gründlich zu verderben. Alles, was die auf dem Gebiet der Netzsicherheit tätigen Firmen und Forschergruppen versprochen hatten, war plötzlich nichts mehr wert.

Sicherheitsforschung

In meinem ersten Beitrag zur Snowden-Affäre warnte ich davor, der Forschung den schwarzen Peter zuzuschieben. Dort konnten Sie lesen:

Es wurden bisher viele Millionen in die Sicherheitsforschung investiert. Obwohl es schwer ist, hierfür den Ertrag nachzuweisen, wäre es fatal, würde man die Bemühungen jetzt reduzieren. Jeder Fall enthält neue Lehren. Diese zu erkennen und dem Fachwissen, das weitervermittelt wird, hinzufügen, ist das Gebot der Stunde.

Meine Sorge war offensichtlich unbegründet. Die Forschergemeinde hat überlebt und hat sich erstaunlich schnell von dem Schock erholt. Zuerst meldete sich die nationale Forschung zu Wort. Ich stieß unter anderem auf ein Positionspapier des Fraunhofer-Instituts für Sicherheit in der Informationstechnik (SIT) vom September 2013. Darin hieß es: IT-Sicherheit erfordert Forschung. Deutschland ist ein wichtiger und erfolgreicher Forschungsstandort. Als konkrete Fragestellungen wurde unter anderem genannt:
  •  Wie kann man im Internet tatsächlich sicher und unbeobachtbar kommunizieren, im Allgemeinen oder zumindest vis-a-vis Massenüberwachung durch fremde Dienste?
  • Wie geht man mit dem Konflikt zwischen Privatsphärenschutz einerseits und Online Social Networks, Big Data, Ubiquitären und mobilen Systemen andererseits um?

Förderung der EU

Dieser Tage verkündete die EU-Kommission per Presseverlautbarung vom 18.12.2013, dass der Europäische Forschungsrat Förderungen in Millionenhöhe an 13 EU-Forschungsprojekte vergeben hat.

Insgesamt sind 45 Forscher aus elf Ländern beteiligt, zwölf davon kommen aus Deutschland. Die so genannten Synergie-Finanzhilfen gehen an Teams von zwei bis vier Spitzenforschern, die sich aufgrund ihrer ergänzenden Fähigkeiten, Kenntnisse und Ressourcen einzigartige und bahnbrechende Ergebnisse zum Ziel setzen können. Die Projekte erhalten für die kommenden sechs Jahre jeweils bis zu 15 Mio. Euro.

In Deutschland erhalten unter anderem Michael Backes von der Universität des Saarlandes sowie Peter Druschel, Rupak Majumdar und Gerhard Weikum vom Max-Planck-Institut knapp 10 Mio. Euro für ihr Forschungsprojekt zur Internetsicherheit. Die vier führenden Computerspezialisten wollen in ihrem Verbundprojekt imPACT gemeinsam mit Juristen, Sozialwissenschaftlern und Wirtschaftsexperten Lösungen für eine bessere Privatsphäre und mehr Datenschutzes finden. Ziel ist es, den Internetnutzern von morgen die Kontrolle über ihre persönlichen Daten zurückzugeben. Die Prototypen-Software, die sie in dem Projekt entwickeln und die Messdaten aus ihren Feldversuchen mit Internet-Dienstleistungen werden frei verfügbar sein.

Das Max-Planck-Institut (MPI) für Softwaresysteme in Saarbrücken (mit Druschel) und Kaiserlautern (mit Majumdar) und das MPI für Informatik (mit Weikum) in Saarbrücken und die Uni Saarbrücken (mit Backes) sind anerkannte Forschungsgruppen. Sie setzten sich europaweit gegen rund 450 Anträge durch. Vier Teilthemen sind Gegenstand des Projekts: Schutz der Privatsphäre (Privacy), Nachweis von Aktionen durch bestimmte Personen im Internet (Accountability), Einhalten von Vereinbarungen vonseiten der Software und der Plattformen (Compliance) und Vertrauen in die Korrektheit von Daten und Diensten (Trust). Es ist ein Zeitrahmen von sechs Jahren vorgesehen.

Realistische Erwartungen

Es besteht kein Zweifel, dass die beteiligten Forscher sich sehr wichtige Themen vorgenommen haben. Das Internet ist inzwischen das zentrale Thema für jede Informatik-Forschung. Die Sicherheitsaspekte des Internets haben zwar Hochkonjunktur, sie sind aber nicht alles. Benutzbarkeit, Zuverlässigkeit, Kapazität, Effizienz, Energieverbrauch und Abfallentsorgung sind weitere Aspekte der Internet-Forschung.

Die vier für das Saarpfälzer Projekt angegebenen Teilthemen sind alle äußerst relevant. Sie sind nicht erst jetzt entstanden als Folge der Ereignisse des letzten Halbjahres. Es wurde daran schon seit Jahren gearbeitet. Es ist nicht so, dass es für sie eindeutige und optimale Lösungen gibt. Die Lösungen müssen Kriterien erfüllen, die sich teilweise widersprechen. So widerspricht der Wunsch nach Anonymität der Forderung nach eindeutiger Verantwortlichkeit. Eine Lösung muss nicht nur algorithmisch definierbar sein, sie muss auch technisch realisierbar sein. Es reicht vor allem nicht, sie nur in einer kontrollierten Umgebung zu implementieren, also in einem Schaukasten. Sie muss im Feldversuch getestet werden, am lebenden Körper. Dieser ‚Körper‘ ist in seiner Größe und Gestalt nicht genau zu beschreiben, außerdem verändert er sich laufend. Der Feldtest hat in der Informatik inzwischen dieselbe Bedeutung wie in der Pharmaindustrie. Auch gibt es eine Schwelle für die Produkteinführung, die einer Zulassung entspricht.

Es ist klug, keine kurzfristigen Antworten zu versprechen. Hochschulen oder hochschulnahe Forschungsinstitute können bestenfalls Vorschläge für Antworten machen. Ob diese von der Wirtschaft überhaupt in Betracht gezogen werden, ist nicht selbstverständlich. Welche Lösung letztendlich implementiert wird, hängt wieder von völlig anderen Kriterien ab. Es können auch mehrere Lösungen sein. Eine Lösung, die in Deutschland oder Europa viele Anhänger hat, mag es schwierig haben, international akzeptiert zu werden. Nicht alle Implementationen werden zu einem Markterfolg.

Fazit: Das Internet ist viel zu wichtig, um abwarten zu können, welche Lösungen aus der Forschung sich ergeben. Es gibt heute Hunderte von sehr starken Akteuren, die sich ein ‚besseres‘ Internet wünschen oder von ihm profitieren würden. Nur ein Teil von ihnen ist in der Lage, konkret und konstruktiv einzugreifen. Wichtiger als auf die Forschungsergebnisse der EU zu hoffen, ist es, dass diese Akteure zusammenfinden und beschließen, etwas zu tun. Ich glaube nicht einmal, dass irgendeine Regierung etwas tun muss oder tun kann, weder die amerikanische noch die EU, geschweige denn die deutsche Regierung. Dass mag nicht allen Beteiligten gefallen, noch ist es aber so.

Nachtrag am 22.12.2013

Wie aus den von Snowden entwendeten Informationsquellen ersichtlich, hat die NSA der Firma RSA Millionen gezahlt, damit sie 'Hintertüren' in ihre Software-Produkte einbaut. Dagegen ist die beste Forschung machtlos. Der Ruf dieser von den drei Informatik-Professoren Rivest, Shamir und Adleman gegründeten Firma dürfte ruiniert sein.

Freitag, 13. Dezember 2013

Joachim Gauck: Mehr Bürgergesellschaft wagen!

Die obigen drei Worte bildeten den Titel der Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung, mit der Bundespräsident Joachim Gauck am 12.12.2013 des 50. Todestags seines ersten Amtsvorgängers gedachte. Er hatte rund 900 Zuhörer in die zwei großen Hörsäle der Universität Stuttgart gelockt. Gauck hatte vorher zusammen mit Politikern aller Couleur das Grab von Theodor Heuss auf dem Stuttgarter Waldfriedhof besucht. Auch war er im Theodor-Heuss-Museum gewesen, das sich in Heuss‘ früherem Wohnhaus in Stuttgarter Hanglage (‚dem Heuss seinem Häusle‘, wie der Schwabe sagt) befindet.

Der Titel von Gaucks Vortrag, der auf Willy Brandts Regierungserklärung anspielte, war nicht nur sehr aktuell. Er erschien auch der besonderen Stuttgarter Situation angemessen zu sein. Zwei Teilaspekte des Themas, die in der aktuellen Diskussion eine große Rolle spielen, stellte er an den Anfang, Volksabstimmungen und Wahl des Bundespräsidenten. In beiden Fällen konnte er sich derselben Argumente bedienen, die bereits Theodor Heuss, einer der Verfasser unseres Grundgesetzes, benutzt hatte.

Volksabstimmungen gibt es nur in einigen Landesverfassungen, nicht jedoch auf Bundesebene. Den Verfechtern einer Einführung auf Bundesebene legte er nahe, sich über die Gründe klarzuwerden, die Heuss und seine Zeitgenossen bewogen, von diesem Verfassungsmittel Abstand zu nehmen. Bei einem Quorum von 20% können bereits 10% der Stimmberechtigten eine Entscheidung bestimmen. Eine solche Zustimmung ist leicht zu gewinnen, vor allem wenn es um emotional belegte Themen geht. Heuss stand unter dem Eindruck der Volksabstimmungen, die Hitler arrangiert hatte, etwa zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. Das Thema Euro kann heute damit sehr gut verglichen werden. Selbst in der Schweiz, wo Volksabstimmungen zur demokratischen Tradition gehören, mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass Demagogen es lieben, Themen, für die sie im Parlament keine Mehrheit bekommen können, dem Volk direkt vorzutragen.

Würde die Wahl des Bundespräsidenten direkt durch das Volk geschehen, würde dies – zumindest indirekt – ihm mehr Macht verleihen, als er aufgrund unserer Verfassung besitzt. Das Volk fühlte sich sogar mit Recht betrogen. Auch wenn er nicht die Richtlinien der Politik bestimmt, kann er wichtige Diskussionen anstoßen und beeinflussen. Genau so sieht auch Gauck dieses Amt.

Im Hauptteil der Rede ging er  ̶  bildlich gesprochen  ̶  mit Theodor Heuss zusammen durch unser Land. Er erinnerte daran, dass es heute eine Vielzahl von direkten Beteiligungsmöglichkeiten gibt, die Heuss und seine Zeitgenossen nicht kannten. Auch der aktuelle Koalitionsvertrag spricht von ihnen (Seite 151). Die Beteiligung der Öffentlichkeit an umweltpolitisch relevanten Entscheidungen und an Verkehrsinfrastruktur- und Zukunftsprojekten ist schon fast selbstverständlich geworden  ̶  nicht zuletzt dank der Stuttgarter Erfahrungen. Die neuen Medien bewirken, dass insbesondere die Jugend sich besser informieren und einbringen kann.

Die Parlamentarier wie die Regierung können mit einer Schnelligkeit und in einem Umfang mit ihren Wählern interagieren, die man früher nicht für möglich gehalten hatte. Die repräsentative Demokratie hat sich ohne Zweifel bewährt. Es besteht kein Grund, ihre Vorteile nicht auszunutzen. Sie kann den Volkswillen sehr gut zum Ausdruck bringen. Vor allem aber ist ein Parlament in der Lage Kompromisse auszuhandeln. Ohne Kompromisse kommt eine Demokratie nicht aus. Sie leidet unterm 'ohne mich' und lebt vom 'mit uns', so drückte es Heuss einst aus.

Inhaltlich war diese Rede nicht ganz auf dem Niveau seiner Europa-Rede vom Februar 2013. Er hatte ja auch ein anderes Publikum vor sich. 

Die ungewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen, die das Bild der Veranstaltung bestimmten, waren etwas gewöhnungsbedürftig. Nicht neu war jedoch, dass man anschließend bei Wein und Brezel mit dem Referenten noch diskutieren konnte. Nur dass es diesmal unser Staatsoberhaupt war, dem die Rolle eines Bürgerpräsidenten nicht ungelegen zu sein schien.

Mittwoch, 11. Dezember 2013

Rätselhaftes Zentralafrika von Mungo Park bis Al Qaida

Der Teil Afrikas, der südlich der Sahara-Wüste beginnt, war für Europäer lange Zeit ein großes Rätsel. Nach den Phöniziern drangen die Araber und Portugiesen an der Westküste nach Süden vor. Der Araber Ibn Battuta kam im 14. Jahrhundert im Osten bis Mogadischu, im Westen bis nach Tanger. Nachdem sie Kap Mogador umschifft hatten, gelangten die Portugiesen bis in den Golf von Guinea. Neben Guinea-Bissau wurde die Insel Fernando Po ihr Stützpunkt. Als die Engländer im 18. Jahrhundert die USA verloren und sich mit Kanada begnügen mussten, begannen sie sich für Afrika zu interessieren.


Einer der ersten, der zuerst privat und dann im Staatsauftrag die Sahelzone erforschte, war der Schotte Mungo Park. Eine private ‚African Association‘, zu der der Botaniker Joseph Banks den Kontakt hergestellt hatte, finanzierte die Reise. Ein englischer Handelsvertreter in Gambia besorgte ihm ein Pferd und zwei afrikanische Begleiter auf Eseln. Er erreichte 1796 den Niger bei Bamako, geriet aber danach in die Gefangenschaft von Arabern. Völlig mittellos und demoralisiert konnte er fliehen. Er war von da an allein unterwegs und vollkommen auf die Hilfe Einheimischer angewiesen. Er wurde schließlich von einem einheimischen Sklavenhändler aufgenommen und lebte sieben Monate bei ihm (in Kamalia). Nach Ende der Regenzeit konnte er sich einer über 70-köpfigen Sklavenkarawane nach Gorée in Gambia als Begleiter anschließen. Von dort gelangte er an Bord eines Sklavenschiffs in die Karibik und dann 1797 zurück nach England.

Sein Reisebericht ‚Travels in the Interior of Africa von 1799 wurde ein Bestseller und gilt noch heute als Klassiker. Er enthält sehr viel Information über Land und Leute. Die mohammedanischen Araber aus dem Norden gebären sich als Unterdrücker gegenüber den Negern im Süden, gleichgültig ob diese den Glauben des Propheten Mohammed angenommen haben oder nicht. Besonders ausführlich beschreibt Park den Sklavenhandel. Er vermutet, dass seine Ursprünge in der Antike liegen und dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung sich in der Sklaverei befindet. Nach seiner Rückkehr übte Park den Beruf eines Landarztes im schottischen Hochland aus.


„Ansicht von Kamalia“, Tafel aus Parks Erstausgabe

Im Herbst 1803 versuchte die englische Regierung Park für eine zweite Reise zu gewinnen. Man bewilligte ihm, was er wollte. Sein Schwager (Alexander Anderson) und ein Freund (der Zeichner George Scott) fuhren mit. Die Besatzung bestand aus einem Leutnant, zwei Seeleuten, einem Sergeant, einem Korporal und 33 einfachen Soldaten. Diese konnte er in dem Sklavenumschlagplatz Gorée in Gambia anwerben, und zwar unter solchen, die dorthin strafversetzt worden waren. Zu den 45 Europäern kamen noch 20 afrikanische Handwerker, darunter vier Schiffszimmerleute, die vor Ort Boote bauen sollten. Unterwegs kaufte er noch fünfzig Esel und sechs Pferde. Die Karawane startete im Juni 1805 mit Verspätung erst zu Beginn der Regenzeit und benötigte doppelt so viel Zeit wie ursprünglich geplant, um bis Bamako zu gelangen. Vom Einsetzen der Regenzeit bis zur Ankunft am Niger starben 31 Personen, d.h. zwei Drittel der Mannschaft, an Krankheiten und Erschöpfung. Park ließ dennoch ein primitives Boot bauen und setzte sich flussabwärts in Bewegung. Alle erhaltenen Briefe an Angehörige, Freunde und Gönner belegen seine Entschlossenheit. Außer durch die üblichen Geschenke machte er sich die afrikanischen Anwohner des Flusses gewogen, indem er versprach, dass nach der Entdeckung der Mündung des Niger englische Händler die begehrten europäischen Güter (Waffen, Werkzeuge) direkt liefern würden und so der sehr teure arabische Zwischenhandel ausgeschaltet würde. Genau das rief jedoch den erbitterten Widerstand der Araber hervor.


Park passierte die Stadt Timbuktu, ohne sie zu besuchen, weil es ihm zu gefährlich erschien. Obwohl sein Schwager nach langer Krankheit starb, wollte er bis zur Mündung des Niger vorstoßen. In Bussa wurde er im Februar 1806 von einem starken Verband der Tuareg angegriffen und kam dabei ums Leben. Sein einheimischer Führer überlebte und geriet in Gefangenschaft. Erst Jahre später nach seiner Freilassung erfuhr die Welt durch ihn Einzelheiten. Park soll auf dem letzten Teil der Reise sich sehr brutal gegen alle Angreifer gewehrt haben und viele von ihnen getötet haben. Die Suche nach Park bzw. seiner Leiche, an der sich auch Parks zweiter Sohn Thomas beteiligte, blieb erfolglos. Erst 1830 wurde das Mündungsdelta des Nigers entdeckt. Der Strom erwies sich aufgrund der vielen Stromschnellen als sehr wenig geeignet für den Transport von Handelsgütern ins Landesinnere.

Das Gebiet um Timbuktu gehört heute zu Mali. Der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth hielt sich in britischem Auftrag von September 1853 bis April 1854 in der Stadt auf. Ihm wurde sowohl über Mungo Parks Erscheinen berichtet, als auch über andere Europäer, die Timbuktu zwar erreichten, jedoch ihre Reise nicht überlebten (Alexander Gordon Laing, René Caillé). Wegen seiner baulichen Schätze gilt Timbuktu heute als Weltkulturerbe. Besonders bemerkenswert sind die vielen arabischen Handschriften aus dem mittelalterlichen Andalusien, die sich teilweise im Privatbesitz befinden.


Anfang 2012 rückte Mali ins Licht der Weltöffentlichkeit. Im Verbund mit Söldnern, die aus Libyen zurückkehrten und der Al Qaida nahestanden, versuchten Tuaregs den nördlichen Teil des Landes zu erobern. Sie erklärten dessen Unabhängigkeit (als Republik Azawad) vom südlichen Mali. Im März 2012 kam es in der malischen Hauptstadt Bamako zu einem Militärputsch gegen den Präsidenten, dem vorgeworfen wurde, den Aufstand nicht entschlossen genug zu bekämpfen. Als frühere Kolonialmacht sah sich Frankreich Anfang 2013 veranlasst mit Truppen einzugreifen. Sie konnten einige der besetzten Städte wiedererobern, unter anderem Timbuktu.

Hier hatten die Islamisten bereits einige historische Denkmäler zerstört. Neben den Lehmmoscheen haben auch einige Manuskripte (des Institut des hautes études et de recherches islamiques Ahmed Baba) gelitten, obwohl die Mehrzahl rechtzeitig in Sicherheit gebracht wurde. Außerdem wird von Menschenrechtsverletzungen in Form von Auspeitschungen, Amputationen und Hinrichtungen berichtet. Inzwischen verstärken mehrere westafrikanische Staaten die Truppen der Zentralregierung und hoffen die Islamisten weiter zurückzudrängen.

Freitag, 6. Dezember 2013

Ist Deutschlands Zukunft wirklich so klar?

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zukunft sollte eigentlich sehr nützlich sein. Schon einmal hatte ich mich im Januar dieses Jahres mit diesem Superthema befasst. Damals hatte ich mich mit dem Journalisten Matthias Horx und dessen Ansatz auseinandergesetzt. In der Zielsetzung vergleichbar, aber im Ansatz völlig anders geht Horst Opaschowski das Thema an. Er war Professor an der Universität Hamburg und wurde als Leiter des BAT Freizeitforschungsinstituts bekannt. Seine Klientel war die Tourismusbranche, die von ihm wissen wollte, wo und wie die Deutschen ihren Urlaub verbringen. Seit seiner Emeritierung veröffentlicht er ein Buch nach dem andern. Sein vorletztes 2011 erschienenes Buch hat den Titel Der Deutschland-Plan. Die wichtigsten Aussagen des Buches sind auf seiner Homepage als ‚Deutschland-Vision 2030‘ zusammengefasst. Mit drei Mal zehn Thesen beschreibt er dort die Essenz seiner Analysen.

Demoskopische Methode

Opaschowskis Kredo ist die Befragung der Bürger, die Demoskopie. Für jede nur denkbare Frage hat er ein Umfrageergebnis. Dass diese Methode nicht immer der Wahrheitsfindung dient, soll gleich am Anfang an einem Beispiel gezeigt werden. Oder anders ausgedrückt, das Ergebnis mag zwar wahr sein, im Sinne von ehrlich und korrekt, das Ergebnis ist aber nicht sehr hilfreich.

Gefragt, ob die Menschen gerne Genaueres über ihre Zukunft wissen möchten, ist die Mehrzahl dafür. Daraus wird geschlossen, dass die meisten Menschen ein großes Interesse an Zukunftsfragen (also an Opaschowskis Spezialgebiet) haben. Das ist aber nicht der Fall. Gefragt, ob man Politikern glaubt, ist die Antwort sehr negativ. Gefragt, was man von Politikern hören möchte, so sind dies Visionen für die Zukunft. Es sollten dies aber keine Illusionen oder ideologisch geprägte Idealvorstellungen sein, sondern verlässliche Aussagen, wie es wirklich kommt. Ein weiterer klarer Widerspruch. Zum Glück – so möchte ich hier einfügen – gibt es kaum Politiker, die sich bemühen, diesem Wunschbild gerecht zu werden. Das können sie nämlich nicht. Trotz dieser Kritik am Ansatz macht Opaschowski eine Reihe von Aussagen oder benutzt Schlagworte, über die man nachdenken sollte.

Zunehmende Brasilianisierung

Uns wird eine krasse Klassengesellschaft vorhergesagt, in der sich die sozialen Ungleichheiten eher verschärfen als reduzieren. In unsern Großstädten entstünden Ghettos ähnlich wie in Brasilien. Die Armen zögen sich zusammen, aber auch die Reichen. Dabei ist der Begriff ‚arm‘ sehr relativ. Die Grenze verschiebt sich im Laufe der Zeit, da nach der offiziellen EU-Definition sie sich an dem sich ändernden Haushaltseinkommen der Gesamtbevölkerung ausrichtet. Arm ist, wer unter dem Durchschnitt liegt.

Größerer Anteil alter Menschen

Die Fortschritte der Medizin führen zum rasanten Anstieg der Lebenszeit. Als Folge davon werden die Menschen nicht nur länger arbeiten. Der Anteil von Senioren und Invaliden an der Bevölkerung steigt. Die Wohnungswelt muss sich dem Anpassen. Die Einweisung in ein Altersheim ist nur eine mögliche Lösung. Das Zusammenleben von mehreren Generationen in einem Haus gewinne an Bedeutung. Es sei sogar möglich, dass Generationenbeziehungen wichtiger werden als Partnerbeziehungen.

Vermehrte Bürgerbeteiligung

Da das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politiker aller Couleur abgenommen habe, drängen Bürger zu stärkerer Direktbeteiligung. Nicht regierungs- oder parteigebundene Organisationen (NGOs) drängen sich vor. Stuttgart 21 mit der im Fernsehen übertragenen Schlichtung durch Heiner Geißler gilt als Musterbeispiel. Die verschiedensten Themen oder Projekte führen zu spontanen Aktionen der Zivilgesellschaft. Bürger möchten mitmischen. Es bestehe ein Trend, möglichst keine langfristigen Bindungen mehr einzugehen. Manchmal heißt es, man begnüge sich immer mehr mit einer Zuschauerrolle. Das ist zwar ein Widerspruch. Dennoch mag beides richtig sein.

International gesehen nehmen Kriege zwischen Ländern ab, umso öfters komme es zu Bürgerkriegen. In Anbetracht der Übermacht der globalen Finanzbeziehungen trete eine gewisse Ohnmacht der Staaten zutage. Der Einzelne sähe sich immer mehr eingeschränkt bezüglich seiner Privatsphäre. Die Bedrohungen stammten ebenso sehr von internationalen Organisationen wie vom eigenen Staat. [Dieses Thema war wiederholt Gegenstand dieses Blogs].

Nicht-Ökonomisches als Fortschritt

Dass als Maß des Fortschritts einer Gesellschaft das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht besonders aussagefähig ist, wird von vielen Seiten beklagt. Die von Frankreichs vorletztem Staatspräsident Nikolas Sarkozy ins Leben gerufene Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission hatte sich bereits mit dieser Frage auseinander gesetzt.

Auch Opaschowski regt an, nicht nur quantitatives ökonomisches Wachstum anzustreben. Er schlägt vor, Fortschritt als ein Weiterkommen in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Hinsicht anzusehen. Wohlstand umfasse auch die immateriellen Werte, die eine Gesellschaft auszeichnen. Als Beispielbereiche benennt er Gesundheit, Kultur, Natur, Nachbarn und Freunde. Vor allem müssen die Interessen der nachfolgenden Generationen berücksichtigt werden. Dazu gehört, dass unsere Generation durch Schuldenabbau und Nachhaltigkeit aller Projekte keine Belastungen für die Zukunft ansammelt. [Die Kritik der Opposition am derzeitigen Koalitionsvertrag setzt unter anderem hier an].

Wandel der gesellschaftlichen Werte

Obwohl Opaschowski angeblich das Ohr am Puls der Massen hat, sind einige seiner Aussagen für mich etwas überraschend. So stellt er fest, dass das Interesse für Kinder-, Familien- und Altenbetreuung seit der Jahrtausendwende im Ansteigen begriffen sei. Ähnlich wie die Finnen möchten auch junge Deutsche einen Rechtsanspruch für Kinderbetreuung haben. Die Stellung der Familie würde derzeit eine Aufwertung erfahren. Außerdem nimmt er an, dass es einen Wunsch nach Steuervergünstigung für soziales Engagement gibt. Wir kämen nicht umhin, Ehrenämter aufzuwerten und ihnen verstärkte Anerkennung zu verschaffen. Die für ganze Nachbarschaften eingerichteten Helferbörsen zeigten einen Weg.

Dass sich der in Großstädten in den letzten Jahrzehnten festzustellende Trend zu Singles oder Kleinstfamilien umkehren wird, ist zwar noch nicht zu erkennen. Es wäre dann nur noch eine Frage der Zeit, bis der Umschwung erfolgt.

Sinnsuche jenseits der Erwerbstätigkeit

Eine auf die Maximierung des Wohlstands ausgerichtete Gesellschaft sei nicht ohne weiteres in der Lage, auch die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten. Sie stelle sich unweigerlich und unentwegt. Woher die Antworten kommen, lässt Opaschowski jedoch offen. Ob es eine Renaissance des Religiösen geben wird, wie viele hoffen, sei dahingestellt. Dass die berufliche Tätigkeit überhaupt keine Rolle dabei spielen soll, ist zumindest bei akademischen Berufen nicht zu verstehen. Nur Zweitjobs lieferten Sinnbezug und Anerkennung, schreibt er. Man fände sie vor allem in Freizeitangeboten.

Unvorhersehbares in den Modellen

Die meisten Zukunftsforscher kommen zu ihren Aussagen, indem sie bereits beobachtete Trends extrapolieren. Natürlich werden sie nicht von zwei Jahren gleich auf zwanzig Jahre hochrechnen. Sie können auch die Verknappung von Ressourcen in Ansatz bringen oder den Fortschritt der Technik. Nur was aus Bestehendem heraus sich weiterentwickelt oder wächst, lässt sich vorhersagen. Auch Opaschowski unterliegt denselben Beschränkungen.

Sehr schwierig ist es, in Zukunftsmodellen Vorkehrungen für sporadische Ereignisse zu treffen. Es gibt eine Vielzahl von Ereignissen, die zwar relativ selten sind, aber mit Gewissheit eintreten werden. Die Frage ist lediglich wann. Beispiele von Ereignissen, die bestimmt Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung haben werden, sind Orkane, Hochwasser, Frost- und Dürreperioden, Währungskrisen und Inflationen, Konkurse großer Unternehmen, Strom- oder Gasausfälle, größere Unfälle oder Katastrophen bei Kraftwerken oder im Verkehr, Streiks im öffentlichen Dienst oder bei der Bahn, Piloten- oder Lotsenausstände im Flugverkehr, Volksaufstände, drohender Staatsbankrott, Machenschaften von Mafia oder Rauschgift-Kartellen sowie die Unterwanderung durch fremde Volksgruppen.

Nur wenn man diese grundsätzliche Schwäche aller Vorhersagemethoden berücksichtigt, kann man die Aussagen von Zukunftsforschern richtig einordnen. Erinnerungen an die Denkweise eines levantinischen Autors (Nassim N. Taleb) drängen sich auf. Er machte den Ausdruck ‚Schwarze Schwäne‘ in Politik und Wirtschaft populär, um nicht vorhersagbare, aber reale Ereignisse zu beschreiben.

Samstag, 30. November 2013

Koalitionsvertrag als verlängerter Wahlkampf

Ein Koalitionsvertrag wird von manchen Leuten mit der Bemerkung zur Seite geschoben, dass sei nur ein Stück Papier und Papier sei geduldig. Obwohl das Medium Papier nicht mehr im Vordergrund steht, halten viele dennoch an dieser Meinung fest. Im Folgenden will ich versuchen zu beschreiben, was ich aus dem Koalitionsvertrag herauslese, der in den letzten Wochen zwischen Union und SPD ausgehandelt wurde.

Allgemeiner Eindruck

Dieser Koalitionsvertrag ist in erster Linie als Wahlkampf-Dokument zu sehen. Weil den SPD-Mitgliedern die Rolle von Superwählern eingeräumt wurde, geht der Wahlkampf noch einige Wochen weiter. Er geht so zu sagen in eine zweite Runde. Statt alle 61,8 Millionen Wahlberechtigte zur Neuwahl aufzurufen, dürfen jetzt 470.000 SPD-Mitglieder entscheiden, welche Regierung gebildet wird. Die SPD-Mitglieder an der Basis haben ihren plötzlichen Machtzuwachs erkannt, und werden es denen da oben zeigen. Die zu Zuschauern degradierten 61,3 Millionen anderen Wähler müssen abwarten. Falls das Abstimmungsergebnis negativ sein sollte, sind alle 185 Seiten des Dokuments Makulatur. Die wochenlange Arbeit von etwa 50 Spitzenpolitikern des ganzen Landes wäre umsonst gewesen.

Immer wieder wird uns Lesern eingehämmert, dass es das letztendliche Ziel jeder Politik ist, zum Glück der Menschen in einem sozialen Gemeinwesen beizutragen. Aspekte dieses Glücks sind Wohlstand, Freiheit, Sicherheit, Frieden und Gesundheit. Wer mehr erwartet, wird mit Recht enttäuscht sein. Der Staat kann viel. Über das hinaus, was der Staat reguliert, gibt es jedoch auch noch Leben.

Zwei Dinge fallen mir auf, wenn ich den Vertrag auf mich wirken lasse. Er setzt sich von einem nur von der Union verfassten Dokument ab, indem er einige von der SPD im Wahlkampf gegebene Versprechen (Mindestlohn, doppelte Staatsangehörigkeit für Kinder von Einwanderern, Rente nach 45 Beitragsjahren) ausdrücklich ausweist. Diese Zugeständnisse werden relativiert, indem auf die vielen Dinge verwiesen wird, bei denen die Politik der bisherigen Regierung unverändert fortgesetzt wird. Dies ist auch der Grund, warum das Dokument im Vergleich zu früheren Koalitionsverträgen derart an Länge dazu gewonnen hat. Es entstand eine Bestandsaufnahme der derzeitigen Politik plus Fortschreibung. Dass neue Sozialleistungen, wie die verbesserte Mütterrente, Geld kosten, sollte niemanden überraschen.

Bei manchen Punkten hat man den Eindruck, dass sie für Leser im Ausland geschrieben sind. Es geht dabei vor allem um die Bevölkerung derjenigen Länder, die glauben unter der deutschen Vorherrschaft zu leiden. Die Botschaft heißt: Es ist nicht allein der Euro, der Deutschland stark macht, sondern die Politik, die richtige Anreize gibt und Schwerpunkte setzt. Bei uns hat die Politik die Wirtschaft einschließlich der Gewerkschaften voll im Griff. Außerdem sind bei uns Politik und Wirtschaft äußerst lernfähig. Wenn alle Länder Europas eine damit vergleichbare Politik betrieben, gäbe es keine Probleme mehr. Die Wahl des nächsten Europa-Parlaments steht nämlich vor der Tür. Zu befürchten sind einerseits eine geringe Wahlbeteiligung, anderseits das Vorrücken europa-feindlicher Parteien. Beidem muss entgegen gearbeitet werden.

Ganz deutlich ist die Botschaft der EU-Kommission gegenüber. Die PKW-Maut ist eine Art Köder für die EU. Böte man uns den gleichen Betrag (nur wenige Mrd. Euro), den diese Steuer auf Holländer, Österreicher, Polen und Italiener uns einbringen würde, dann ließe sich ein Deal machen. Der übrigen Welt gegenüber stellen wir uns als bescheidene Mittelmacht dar, die bereit ist Aufgaben zu übernehmen, sei es im Klimaschutz oder bei der Terrorbekämpfung. Dass CIA und NSA (also die USA) zu weit gehen, darin sind sich bei uns alle einig.

Detailpläne

Einige Details will ich noch kurz hervorheben. Es betrifft die geplante Wirtschafts- und Europapolitik sowie die Maßnahmen, die die Wissenschaft und hier speziell die Informatik berühren. Die SPD ist auf die Haltung der CDU/CSU eingeschwenkt, was die Steuer- und Währungspolitik betrifft. Es gibt (zunächst) keine Steuererhöhungen für Besserverdienende. Außerdem soll die Vergemeinschaftung von Schulden zwischen den Euroländern (etwa durch Ausgabe von Eurobonds) vermieden werden. Der Euro steht nicht zur Diskussion. Eine Erweiterung der Europäischen Union, etwa um die Türkei, wird nicht forciert. Die Finanzmärkte sollen stärker reguliert werden. Bankenaufsicht und Finanz-Transaktionssteuer sollen kommen. Zumindest in Deutschland ist man sich da einig. Ob man in Europa, und vor allem in England, damit durchkommt, ist fraglich.

Die Breitband-Versorgung ländlicher Gegenden wird weiter ausgebaut. Jedermanns Datenpakete sollen gleichberechtigt transportiert werden (auch als Netzneutralität bekannt). Die Vorratsdatenspeicherung soll kommen, allerdings mit einer auf drei Monate verkürzten Sperrfrist. Mit andern Ländern Europas will man einen ‚Schengenraum‘ für sichere Kommunikation im Internet schaffen, hoffend, dass da die fünf angelsächsischen ‚Rowdies‘ (USA, UK, Kanada, Australien und Neuseeland) nicht hinein können. Das Geschäft mit den Clowds will man ihnen entreißen. Europäischen Telekommunikationsanbietern soll verboten werden, den USA ihre Kundendaten zur Verfügung zu stellen. (Dass unsere Geheimdienste ohne amerikanische Daten schlecht aussehen, wird nicht erwähnt).

Industrie, Verwaltung, Verkehr und Gesundheitswesen sollen weiter digitalisiert werden. Aber auch unser Kulturgut soll durch Digitalisierung vor dem Verfall geschützt werden. Ergebnisse aus der Spitzenforschung kämen mittels Digitalisierung schneller zur Anwendung. ‚Big Data‘ wird ausgebaut, natürlich mit verbesserter Sicherheit. Man möchte deutsche Wagniskapitalgeber dazu bringen, auch in Deutschland zu investieren (Sie tragen nämlich ihr Geld heute mit Vorliebe in die USA). In vier Jahren sollen die Weichen gestellt sein, dass Deutschland und Europa eine Führungsrolle bei der ‚konsequenten, sozialverträglichen, vertrauenswürdigen und sicheren Digitalisierung der Gesellschaft und Wirtschaft einnehmen.‘

Die Informatik-Ausbildung in Grundschulen und Gymnasien soll bleiben und sogar verstärkt werden. (Auf die einschlägigen Diskussionen hatte ich in einem früheren Eintrag hingewiesen). Medienkompetenz soll bereits in Kitas gelehrt werden. Da dies bekanntlich nicht in den Kompetenzbereich des Bundes fällt, hat diese Aussage wenig zu bedeuten. Das Urheberrecht, so wie es heute steht, wird als wichtig anerkannt. Alle Forschungsprogramme, bei denen der Bund den Ländern hilft, werden beibehalten oder ausgebaut. Forschungsanstrengungen, insbesondere bei der IT-Sicherheit, werden intensiviert. Es soll einen Forschungscluster ‚IT-Sicherheit und kritische IT-Infrastruktur‘ geben. Die Bürgerinnen und Bürger werden aufgefordert, national entwickelte IT-Sicherheitstechnologien einzusetzen.

NB: Hier wird wieder der Karren vor den Esel gespannt. Wer Bürger aufruft, etwas zu nutzen, was gerade erforscht wird, klingt nicht sehr überzeugend. Diesen Denkfehler habe ich auch früher immer wieder beklagt.

Außer Sicherheit und Kryptografie werden die folgenden IT-Schlüsseltechnologien als förderungswürdig genannt: Netzwerktechnik, Embedded Systems, Prozess- und Unternehmens-Software,  Machine-to-machine-Kommunikation (S. 20). Mit dem Etikett ‚Software made in Germany‘ könnte ein Qualitätsversprechen verbunden werden. Weitere Informatik-Themen, die teilweise im Zusammenhang mit andern Tätigkeitsbereichen erwähnt werden, sind: Telearbeit, Gesundheitskarte, Telemedizin und Internet der Dinge. Wer auf einem nicht genannten Gebiet tätig ist, mag dieses weiterhin für wichtig und interessant halten. Sicherlich wird es schwieriger sein, an die für die Förderung erhofften öffentlichen Gelder heranzukommen.

Tipps an die Akteure

Zurück zur Bundespolitik. Sollte der vorliegende Koalitionsvertrag bei der SPD-Basis durchfallen, sollte Angela Merkel eine Minderheitsregierung bilden. Einige der an der Ausarbeitung des Koalitionsvertrags beteiligten Parlamentarier der SPD müssten eigentlich in der Lage sein, ihre Politik zu unterstützen. Sie ist jetzt sogar erstaunlich gut dokumentiert. Sigmar Gabriel scheint dem Unheil vorbeugen zu wollen, indem er keine Ministerkandidaten benennt, die dann ohne Hemd da stehen würden.

Mittwoch, 27. November 2013

Nochmals: Große Herausforderungen der Informatik

Das Thema ‚Große Herausforderungen‘ (engl. grand challenges) hatte mich schon im Januar 2012 in diesem Blog beschäftigt, also vor rund zwei Jahren. Ich hatte damals nicht nur drei damals bekannte Aktivitäten (Technische Informatik, Kerninformatik, Wirtschaftsinformatik) verglichen, sondern auch selbst einen Vorschlag generiert.

Inzwischen hat die Gesellschaft für Informatik (GI) unter Leitung von Frau Simone Rehm, der Vizepräsidentin, das Thema aufgegriffen. Ein entsprechender Aufruf befindet sich auf der Homepage der GI. Diese Aufforderung führte inzwischen zu einer Liste von über 20 Vorschlägen. Die GI beabsichtigt, auf der Basis der Einreichungen zu einer konsolidierten Liste von Vorschlägen zu gelangen. Es ist anzunehmen, dass dies im ersten Halbjahr 2014 geschieht. Ich will nicht die einzelnen Vorschläge diskutieren, sondern einige generelle Bemerkungen zum Thema und zum Auswahlverfahren machen. Dabei nehme ich Bezug auf Diskussionen, die ich im letzten Monat mit dem Kollegen Peter Mertens aus Nürnberg hatte.

Die Aufgabe, gute Vorschläge zu generieren und anschließend eine Auswahl zu treffen, ist alles andere als einfach. Ich möchte die damit befassten Kolleginnen und Kollegen sehr dazu ermutigen, diese Aufgabe nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Hier meine Gedanken.
 
(1) Man muss sich klar werden, was man überhaupt erreichen will und kann. Es besteht die Chance, die Fachdiskussion innerhalb der Informatik von vielen persönlichen Einzelzielen oder partikularen Gruppenzielen weg zu einer breiten Diskussion über das Potential des ganzen Fachgebiets zu lenken. Es werden damit keine direkten Fördermittel eingeworben oder versprochen. Es hilft jedoch Leuten die Förderprojekte ausschreiben, sich zu orientieren. Es zeigt, was die Fachleute (in ihrer Gesamtheit) für wichtig und lösbar halten. Es kann Erfindergeist beflügelt werden, sofern die zu lösenden technischen Probleme klar beschrieben sind und damit stärker ins Bewusstsein der technischen Community gebracht werden. 

(2) Man muss sich überlegen, wen man wie anspricht. Es wäre schön, wenn jede Informatikerin und jeder Informatiker sich angesprochen fühlte und hinter den Vorschlägen stehen würde. Das sollten nicht nur die paar Hundert Kolleginnen und Kollegen an deutschen Hochschulen sein, sondern mehrere Tausend in der ganzen Branche weltweit. Man muss die Ziele so beschreiben, dass auch Außenstehende sich etwas darunter vorstellen können. Mit Außenstehenden sind außer Nicht-Fachleuten vor allem Politiker und junge Menschen gemeint. Jungen Leuten kann es zeigen, was wir (Alten) als lösbar ansehen, wofür uns lediglich die Zeit fehlte. Zur Lösung dieser Probleme sind keine Heerscharen von Genies erforderlich noch wundersame Erleuchtungen. Es ist jedoch den Schweiß vieler Kollegen wert. 

(3) Man muss auf das Problem fokussieren. Man muss sich hüten, sowohl zu allgemein als auch zu spezifisch zu sein. Greift man ein zu breites Ziel auf, heißt es, man will die Welt verbessern (‚Boiling the ocean‘ sagen die Angelsachsen). Ist man zu speziell, sagt jemand, dass er jemanden kennt, der bereits an einer Lösung arbeitet. Insgesamt sollte man sich auf weniger als zehn prägnant formulierte Probleme einigen, an deren Lösung sich unser Fachgebiet in Zukunft messen lassen will. Bei jeder Zeitangabe müssten sich, zumindest intern, auch Zwischenschritte angeben lassen. Sonst taugt die Zeitangabe nichts, es sei denn man hofft auf Erleuchtungen. 
 
(4) Vor allem darf sich eine Beschreibung nicht mit Überschriften allein zufrieden geben. Einerseits geht dadurch sehr viel wichtige Information verloren. Andererseits schreckt man mit Überschriften (mit ein oder zwei Fachbegriffen, ohne Erklärung) jeden Nicht-Fachmann ab. Selbst Fachleute werden oft in die Irre geführt. Aus der Stoffsammlung muss anschließend eine leicht verständliche Publikation entstehen, die sowohl Fachleute wie Nicht-Fachleute anspricht und zum Nachdenken anregt. Das kostet einige Arbeit.

Sollte ich einen Leser erreicht haben, der relevante Ideen zu diesem Thema hat, würde ich mich freuen, davon zu erfahren.

Nachtrag am 2.12.2013:

Im Gegensatz zu vielen andern Buch- und Einzelhändlern hält Jeff Bezos bekanntlich Jammern nicht für eine gute Lösung. Noch hofft er, dass die nächste Regierung hilft. Hier sein neuestes Beispiel auf Youtube. Die Zulassung durch die Behörden fehlt noch.

Die Auslieferung per Drohnen verbessert den Service, reduziert den Einfluss der Gewerkschaften, entlastet die Straßen, verstopft stattdessen die Lüfte. Drohnen sind nach ihrer Bewährung beim Militär eine Lösung auf der Suche nach Problemen, d.h. zivilen Anwendungen. Das ist der Normalfall bei vielen technischen Errungenschaften, etwa Internet und GPS. Bei Grand Challenges ist es umgekehrt. Es geht meist um Probleme, die übersehen zu werden drohen oder zur Seite geschoben werden, weil kein Einzelner sie lösen kann. Selbst das Militär ist überfordert oder desinteressiert.

Mittwoch, 20. November 2013

Kaiser Karls Jugend im Frankenreich

Karl der Große (748-814) starb vor nunmehr 1200 Jahren. Da seine Figur für Historiker und für viele andere Leute eine starke Anziehungskraft ausübt, nimmt sich der Büchermarkt dieses Themas gerne an. Allein auf iBooks gibt es zwölf Biografien, die Hälfte davon frisch aus der Presse. Eine der Besonderheiten des großen Karls ist, dass Deutsche und Franzosen jeder ihn gerne für sich vereinnahmen möchte. Auch dieser Blog hat sich ihm bereits genähert, indem er Alchwin von York, seinem als Kulturminister anzusehenden Berater, einen Eintrag widmete. Heute möchte ich mich mit Karl selbst beschäftigen. Um den vielen verfügbaren Biografien nicht zu sehr in die Quere zu kommen, werde ich mich auf seine Jugend konzentrieren. Es sind dies die 20 Jahre zwischen 748 und 768, also von seiner Geburt bis zum Tode seines Vaters Pippin dem Jüngeren (714-768).

Geburtsjahr und -ort

Als sein Geburtstag gilt der 2. April. Lange waren sich die Historiker bezüglich des Geburtsjahrs nicht einig. Es wurden Daten zwischen 743 und 748 für möglich gehalten. Inzwischen hat man sich auf 748 geeinigt. Als ein Beweis gilt eine Urkunde aus Paris, in der festgehalten wurde, dass der siebenjährige Karl seinen Vater begleitete, als dieser im Jahre 755 anlässlich der Überführung der Gebeine des Hl. Germanus in  Paris weilte. St. Germain des Prés, so heißt heute noch ein bekannter Stadtteil von Paris (und eine Fußballmannschaft). Karl hatte einen drei Jahre jüngeren Bruder mit Namen Karlmann.

Der Ort seiner Geburt ist in den zeitgenössischen Biografien nicht vermerkt. Da sein Vater Pippin sich im Frühjahr des Jahres 748 in seiner Pfalz in Düren aufhielt, spricht vieles für Düren. Ich erinnere mich, irgendwo gelesen zu haben, dass er in Mürlenbach in der Eifel geboren sei. Das ist nicht allzu weit von Düren entfernt. Als anderer Geburtsort kommen andere Pfalzen Pippins in Frage. Genannt werden St. Denis, Compiègne und Soissons. Weder die sehr bekannte Pfalz der Karolinger in Ingelheim gilt als Kandidat, noch eine der etwa 50 anderen.

Sehr interessant fand ich den Hinweis in einer der neueren Biografien (J. Fried), dass seine Muttersprache Moselfränkisch gewesen sei (was eine Gemeinsamkeit mit diesem Autor bedeuten würde). Sofern das stimmt, gibt das Anlass für eine Reihe von Spekulationen. Seine Mutter war Bertrada die Jüngere (725-783). Sie war eine Tochter von Heribert von Laon. Wo genau dieser Zweig der Familie wohnhaft war, ist nicht belegt. Jedenfalls ist besagter Heribert zusammen mit seiner Mutter Bertrada der Älteren in der Gründungsurkunde des Klosters Prüm in der Eifel vermerkt. Bertrada die Ältere ihrerseits war eine Tochter der Irmina von Ören, der Gründerin des Klosters Echternach. Zwei Erklärungsmöglichkeiten bieten sich an. Entweder wurde Karl von Frauen (oder Männern) mit Abstammung in Luxemburg oder der Eifel erzogen, oder Moselfränkisch hatte einen wesentlich größeren Verbreitungsbereich als heute. Heute wird Moselfränkisch nur noch in Luxemburg und den angrenzenden Eifel- und Moselkreisen gesprochen.

Ausbildung und Kenntnisse

Ursprünglich im Nordwesten Germaniens zuhause hatten die Franken seit dem 5. Jahrhundert das Gebiet zwischen Trier und Paris besiedelt. Mit geschätzten 200.000 Angehörigen bilden sie fortan die militärisch starke, aber ungebildete Oberschicht in einem Gebiet mit etwa zwei Millionen gallisch-römischen Einwohnern. Unter den Königen aus dem Geschlecht der Merowinger (Childerich, Chlodwig) übernahmen sie alsbald die Verwaltungs- und Ordnungsfunktion der Römer. Beginnend mit Karl Martell (688-741), dem Vater Pippins, ging die politische Macht von den Merowingern zunächst als Hausmeier, dann als Könige, auf die nach ihm benannten Karolinger über. 

Karls Jugend spielte sich vorwiegend in den königlichen Pfalzen ab. Mindestens zwei Mal, wenn nicht vier Mal pro Jahr wechselte der Hofstaat seine Residenz. Mehr als tausend Menschen brachen mit Ochsenwagen auf und verlegten ihren Wohnsitz immer dann, wenn sie alle Vorräte verzehrt, die Wege ruiniert und die Abwässer verschmutzt hatten. So wurde nicht nur die Belastung etwas verteilt, sondern auch die Kontrolle des weit verzweigten Gebietes verbessert. An die Orte, zu denen der Hof nicht umziehen konnte oder wollte, wurden jährlich Inspektoren geschickt, so genannte Königsboten.

Karl soll von einer Amme bis zu seinem dritten Lebensjahr gesäugt worden sein. Er lernte Grundbegriffe von Philosophie, katholischer Theologie und Rhetorik, etwas Physik, Mathematik und Astronomie. Vor allem lernte er Latein lesen und verstehen. Er konnte es jedoch nie (schön) schreiben. Dafür seien seine Hände zu ungeschickt gewesen. Diese benötigte er nämlich für wichtigere Aufgaben. Er benötigte sie, um mit Schwert, Axt und Lanze zu kämpfen, mit Pfeil und Bogen zu schießen und einen Speer zu werfen. Die Jagd auf Großwild (Rehe, Hirsche, Wildschweine) war nicht nur Privileg, sondern Pflicht eines jeden Adeligen. Karl soll ein guter Reiter gewesen sein und gern und viel geschwommen haben.

Aussehen und Charakter

Karl beeindruckte seine Zeitgenossen mit seiner Größe und Körperstärke. Er soll 1,90 Meter groß gewesen sein, was zu dieser Zeit sehr ungewöhnlich war. Die meisten Bilder, die von ihm existieren, stammen aus späteren Jahrhunderten. Sie sind offensichtlich in einem entscheidenden Punkte falsch. Im Gegensatz zu Fürsten seiner Zeit habe er keinen Vollbart getragen. In Anlehnung an den von ihm verehrten Theodorich von Ravenna trug er einen Oberlippenbart. Alle zeitgenössischen, sonst jedoch ungenauen Bilder auf Münzen bestätigen diesen Sachverhalt.

 Silber-Denar aus Frankfurt

Über seinen Charakter gibt eine Episode Auskunft, die in der Gründungsgeschichte des Klosters Tegernsee in Bayern überliefert ist. Karls Name wird zwar nicht genannt, aber alles deutet auf ihn.

Die Sage berichtet, dass der Sohn des Frankenkönigs [Pippin] den Sohn Oatkars aus Wut beim Schachspielen mit dem Schachbrett erschlug. Pippin  ̶  obwohl er der mächtige Frankenkönig war  ̶ fürchtete dennoch die Rache der Sippe der in Bayern und Burgund begüterten und mächtigen fürstlichen Brüder. Bevor nun Oatkar von dem Verbrechen überhaupt erfuhr, rief Pippin ihn und seinen Bruder Adalbert zu sich und fragte listig scheinbar um Rat: „Ratet mir, was würdet ihr tun: Wie würdet Ihr einem schrecklichen Übel begegnen, wenn es nun nicht mehr zu ändern ist“ Beide Brüder entgegneten „So ein schreckliches Übel müsste man gottergeben und mit Gleichmut hinnehmen.“ Da erst eröffnete ihnen der schlaue Pippin, was geschehen war. Da nun die beiden Brüder nicht gegen ihren eigenen Ratschlag zu Gewalt und Waffen greifen konnten, sahen sie sich gezwungen, diesen Mord hinzunehmen. Oatkar, der unglückliche Vater schwieg also trotz Wut, Schmerz und Trauer. Er beschloss aber, zusammen mit seinem Bruder Adalbert der Welt den Rücken zu kehren. So kam es, dass die beiden Brüder in ihrem Stammland, dem bayerischen Sundgau ein Kloster …gründeten, wohin sie sich zurückzogen. Die Szene mit den schachspielenden Fürstensöhnen war noch lange auf einem großen Tafelbild in der Egerner Kirche zu sehen.

Das Ereignis wird auf die Jahre 760-762 datiert, also in Karls Pubertätszeit. Wenn es historisch ist, könnte es belegen, dass Karl eine mögliche Veranlagung zum Jähzorn später besser im Griff hatte. Die genannten Brüder gehörten zu dem bayrischen Geschlecht der Agilolfinger, auf die ich später noch zurückkomme.

Obwohl Karls Beziehungen zu Frauen vielfach thematisiert wurden, sei hier erwähnt, dass er das erste Mal mit 15 Jahren heiratete. Seine Frau Himiltrude gebar einen Sohn, Pippin mit Namen. Später gelang es seiner Mutter Bertrada eine politisch motivierte Ehe zu vermitteln. Sie betraf Gerperga, die Tochter des Langobarden-Herzogs Desiderius in Pavia. Karl verstieß sie nach einem Jahr. Insgesamt hatte Karl vier Ehefrauen und vermutlich ebenso viele Konkubinen. Er soll 16 oder 18 Kinder gehabt haben.

Erlebte Weltpolitik

Karls Vater legte großen Wert darauf, seine Söhne früh mit ihren späteren politischen Aufgaben vertraut zu machen. Zwar war Karl noch zu jung, um es bewusst zu erleben, als Pippin sich 751 in Soissons von fränkischen Würdenträgern auf den Schild erheben ließ. Als drei Jahre danach Papst Stephan II. ins Frankenreich (nach Ponthion bei Reims) kam, um Hilfe gegen die Langobarden zu erbitten, wurde er zum direkten Beteiligten. Der Papst vollzog die Salbung zum König an Pippin, seiner Frau und seinen Söhnen, und ernannte seine Familie zu den Schutzherren der römischen Kirche. Pippin zog schließlich im Jahre 755 gegen die Langobarden unter Aistulf zu Felde, der seinen Vater Karl Martell als Sohn adoptiert hatte. Er bewog ihn, sich mit dem Papst zu arrangieren. Pippin schenkte daraufhin das strittige Gebiet zwischen Ravenna und Rom an den Papst. Diese Pippinische Schenkung bildete für die kommenden Jahrhunderte die Basis des päpstlichen Territorialbesitzes, auch Kirchenstaat genannt. Als der Nachfolger Aistulfs auf dem Thron der Lombardei, Desiderius von Brescia, diese Vereinbarungen brach, sah sich Karl 773 gezwungen, Pavia anzugreifen und zu belagern. Er nahm Desiderius, der zwischenzeitlich sein Schwiegervater war, zwar gefangen, schenkte ihm aber das Leben.


Frankenreich um 800

Ehe Pippin das dem Papst gegebene Versprechen einlösen konnte, musste er erst mit einem von seinem Vater ererbten Problem fertig werden. Allgemein gilt 732 als das Jahr, als das Abendland dem Ansturm der Araber Halt gebot. Zwar gelang es Karl Martell mit Hilfe der Burgunder und Langobarden eine Vorhut der Muslime daran zu hindern, das Grab des Hl. Martin in Tours zu schänden. Ihre Angriffe ließen jedoch nicht nach. Erst Pippin gelang es 759 durch die Eroberung von Narbonne die Araber hinter die Pyrenäen zu drängen. Auch Karl zog es über die Pyrenäen, wo er am Pass von Roncevalles 778 seinen Gefährten Roland verlor.

Süddeutsche und andere Beziehungen

Außer den Sarazenen und den Langobarden im Süden Europas hatten die Franken noch drei Feinde im Osten, nämlich die Alemannen, Bayern und Sachsen. Da die Sachsenkriege zum Schullehrstoff der später von Preußen beeinflussten Gebiete Deutschlands gehörten, will ich nur auf Alemannen und Bayern kurz eingehen. Die Alemannen waren bereits für die Römer sehr lästig. Von dem Merowinger Chlodwig konnten sie – wie er meinte – nur mit Hilfe des Christengotts 496 in der Schlacht bei Zülpich besiegt werden. Da sie keine Ruhe ließen, wurde ihr Gebiet als selbständiges Herzogtum aufgelöst und als Grenzmark besetzt. Im sogenannten Blutgericht zu Cannstatt im Jahr 746 hat Karlmann, Pippins Bruder, fast die ganze Führungsschicht der Alemannen getötet. Niemand spricht gerne noch darüber.

Das Verhältnis zu den Bayern gestaltete sich weniger schwierig. Sie behielten ihren Herzog, dessen Familie sich mit den fränkischen Herrschern verschwägerte. Die bereits erwähnten Agilolfinger, die in Regensburg residierten, ließen ihre Kinder am fränkischen Hof erziehen. Erst unter Karl dem Großen gab es Ärger. Er musste 787 gegen Tassilo III. ins Feld ziehen und besiegte ihn unweit von Augsburg auf dem Lechfeld. Tassilo wurde gefangen genommen und 788 in Ingelheim wegen Untreue zu Tode verurteilt. Karl begnadigte ihn und verbannte ihn in ein Kloster. Beim Lechfeld denkt man heute lieber an eine Schlacht zwischen Otto I. und den Ungarn im Jahre 955.

Über die Beziehungen Pippins zu Ost-Rom ist wenig bekannt. Er dachte aber darüber hinaus. Im Jahre 765, also drei Jahre vor seinem Tod, schickte Pippin eine Gesandtschaft zu dem Kalifen nach Bagdad. Das Ergebnis ist nicht bekannt. Viele Jahre später (801) kam ein Elefant als Geschenk des Sultans Harun-al-Rachid nach Aachen.

Ausblick und Nachwirkung

Das Frankenreich nahm erst nach dem Tode von Karls Bruder Karlmann im Jahre 771 die in der Karte gezeigte geschlossene Form an. Nicht nur die Franzosen, deren Sprache er nicht sprach, auch alle deutschen Stämme haben sich mit Karl versöhnt. Als der Sachse Otto I. (912-973) Kaiser wurde, eilte er zu Karls Grab in Aachen, um ihm seine Reverenz zu erweisen. Otto III., sein Enkel, tat dasselbe. Später wurden die deutschen Könige Jahrhunderte lang in Aachen gekrönt. Friedrich Barbarossa (1122-1190), ein Nachfahre der Alemannen, ließ Karl heilig sprechen. Der Luxemburger Heinrich VII. (1278-1313) unternahm die seit Karl übliche Romfahrt, um den Titel des Römischen Kaisers zu erwerben. Er kehrte nicht zurück.

Im Jubiläumsjahr 2014 wird es viele Veröffentlichungen über Karl und Erinnerungen an ihn geben. Seine Persönlichkeit war derart facettenreich, dass deren Autoren so schnell nicht der Stoff ausgehen dürfte.


Nachtrag vom 22.11.2013: Literatur über Karl den Großen

Auf Wunsch eines einzelnen Lesers gebe ich im Folgenden eine Einführung in die verfügbare Literatur. Zuerst bespreche ich die als E-Book verfügbaren Texte, die ich entweder ganz gelesen oder nur (mittels des kostenlosen Probetexts) angelesen habe.

Karl der Große: Gewalt und Glaube von Johannes Fried; C.H.Beck 2013; 736 Druckseiten, € 29,95 für Papierversion. Das neue Standardwerk eines Mediävisten im Ruhestand. Sehr ausführlich und flüssig geschrieben.

Karl der Große: Der heilige Barbar von Stefan Weinfurter; Piper 2013; 352 Druckseiten; € 22,99 für Papierversion. Analysiert kritisch die Quellenlage. Diskutiert die Widersprüche in der Person Karls und die kirchlich-politischen Zwänge seiner Zeit.

Karl der Große: Der mächtigste Kaiser des Mittelalters von Dietmar Pieper und Johannes Saltzwedel; DVA 2013; 288 Druckseiten, € 19,99 für Papierversion. Eine Sammlung von Einzelaufsätzen von historisch interessierten SPIEGEL-Redakteuren. Versucht Fragen zu beantworten, die heutige Menschen interessieren. Enthält ein Interview mit dem Mediävisten Johannes Fried.

Ich und Karl der Große von Steffen Patzold; Klett-Cotta 2013; 407 Druckseiten, € 26,95 für die Papierversion. Eine Biografie des Einhard, des Biografen Karls des Großen.

Karl der Große. Der Roman seines Lebens von Thomas R. P. Mielke; Schneekluth Verlag 1995. Ein im Sinne eines Romans unterhaltsam und locker geschriebene Erzählung, die Namen historischer Personen und Orte verwendet, sich aber nicht durch die historisch belegten Fakten gebunden fühlt.

Unvollständige Liste weiterer verfügbarer Bücher

Karl der Grosse von Matthias Becher; C.H.Beck 2007; €8,95

Karl der Große und der Feldzug der Weisheit: Lebendige Geschichte von Maria Regina Kaiser und Klaus Puth; Arena 2009; € 8,95

Karl der Große: Herrscher des Abendlandes von Dieter Hägermann; ECON 2003; € 14,95

Karl der Große  von Wilfried Hartmann;  Kohlhammer 2010; € 19,90

Karl der Große: Leben und Wirkung, Kunst und Architektur von Michael Imhof und Christoph Winterer; Imhof, Petersberg  2013; € 14,95

Karl der Große von Wolfgang Braunfels; Rowohlt 1972; (nur antiquarisch)

Karl der Große von Rosamond McKitterick und Susanne Fischer; Primus 2008; € 39,90

Karl der Große. Der mächtigste Herrscher des Mittelalters von Karin Schneider-Ferber; Theiss 2013; € 29,95

Karl der Grosse. Vater Europas von Alessandro Barbero und Annette Kopetzki; Klett-Cotta 2007; € 32,00

Vita Karoli Magni / Das Leben Karls des Großen von Einhard; Reclam 1986; € 3,40

Mittwoch, 13. November 2013

Transparenz und Vertraulichkeit, Öffentlichkeit und Privatsphäre - Gegenpole oder Gegensätze?

Eine gewisse Aufgeregtheit ist den Medien angeboren oder anerzogen, vor allem denen, die unsere Aufmerksamkeit erheischen müssen. Sie drückt sich unter anderem darin aus, dass oft Gegensätze da gesehen werden, wo eigentlich keine sind. Kaum ein Wort taucht als Modebegriff in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion häufiger auf als Transparenz. Es gilt als Allheilmittel, wenn immer ein Projekt seine Ziele nicht erreichte oder eine Behörde ihren Pflichten nicht nachkam. Es ist ein Teil der politischen Hygiene. Die NSA-Affäre der letzten Monate gilt als Beweis, dass die Privatsphäre vieler Menschen massiv verletzt wurde. Oft erscheint es so, als ob dieselben Leute die Bedrohung ihrer Privatsphäre beklagen, die vorher die volle Transparenz aller Daten und Prozesse verlangten. Es ist dies das typische Zeichen eines Dilemmas. Es muss dies aber nicht sein. Dass die gesellschaftliche Diskussion sich oft an vagen Bedrohungen festmacht, ist nicht neu. Dass von Generation zu Generation ein Wandel von Werten und Einstellungen erfolgt, ist ebenfalls nicht zu leugnen.

Verunsicherung durch Technik

In ihrem 2010 erschienenen Buch ‚Schuld sind die Computer‘ werden von Endres und Gunzenhäuser 36 Bedrohungen und Ängste identifiziert, deren Ursprung im Fortschreiten von Informatik und Computertechnik zu sehen sind. Zwei Kapitel behandeln den hier angesprochenen Themenkreis. Es sind die Kapitel 5.1 (Gläserner Kunde und gläserner Bürger) und 5.2 (Großer Bruder). Wegen der durch die NSA-Affäre gewonnenen Aktualität seien ein paar Sätze aus Kapitel 5.2 zitiert:

Das Schlagwort „Großer Bruder“ erinnert an George Orwells Roman ‚1984’. Orwell beschrieb darin schon 1948 die negative Utopie eines totalitären Überwachungs- und Präventionsstaates, die er auf das Jahr 1984 projizierte. …Heute verfügen wir zweifellos über die Technologie, die eine solche Schreckensvision ermöglichen würde. Einige Leute sind auch fest davon überzeugt, dass wir uns – zwar langsam, aber unaufhaltsam – in die von Orwell beschriebene Richtung bewegen, und das nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen größeren oder reichen Ländern dieser Erde. Kleineren und armen Staaten fehlen meist die Mittel dazu….

Was den einen als Bedrohung erscheint, dient andern zur Sicherung und Verteidigung ihrer Freiheit. „Internet-Puristen“ sehen das Internet als öffentliches Gut an und als freien Marktplatz der Meinungen, den es zu schützen gilt. Als Bedroher werden gewinnsüchtige Privatunternehmen wie auch kontrollwütige Behörden angesehen. Es kommt für jeden einzelnen Nutzer des Internets darauf an, eine gute Balance zwischen Chancen und Risiken zu finden. Aus Angst vor dem ‚großen Bruder’ Staat sollten wir die Chancen nicht ungenutzt lassen, die sich im Hinblick auf die Verbesserung der demokratischen Prozesse bieten.

Was dort beschrieben wurde, ist heute keine rein potentielle Gefahr mehr. Wie die NSA-Affäre bewies, ist es die aktuelle Praxis. Im Rest dieses Beitrags wird versucht näher zu beschreiben, was unter einer ‚guten Balance‘ nicht nur der Chancen und Risiken zu verstehen ist, sondern auch bezogen auf Forderungen und Erwartungen. Gedanklich sollte diese Abwägung der technischen Implementierung vorausgehen. Manchmal können wir dies aber nicht und werden erst von der realisierten Technik darauf aufmerksam gemacht, dass wir dies eigentlich hätten tun müssen.

Effekte der sozialen Medien

Der Begriff der Transparenz stammt aus der Optik. Hier bedeutet er ‚durchlässig‘ oder ‚durchscheinend‘. Das Bild des gläsernen Bürgers leitet sich daraus ab. Geheim und vertraulich betrachte ich als gleichbedeutend.

Nach der Beschäftigung mit dem Phänomen Google hat sich Jeff Jarvis, ein in Internetkreisen sehr bekannter Autor, Facebook und Twitter zugewandt. Sein 2011 erschienenes Buch hat in der deutschen Übersetzung den Titel ‚Mehr Transparenz wagen!‘ Der Übersetzer ließ sich offensichtlich von Willy Brandts Regierungserklärung von 1969 anstecken, die er damals unter den Slogan ‚Mehr Demokratie wagen‘ stellte.

Jarvis konstatiert einen Wandel der Einstellung der Privatsphäre gegenüber zwischen sich und seinem Sohne. Dieser, den er zur Generation der Digitalen Eingeborenen (engl. digital natives) rechnet, sehe vieles anders als er. Schuld daran seien vor allem Mark Zuckerberg und Facebook. Sie würden die Fragen aufwerfen, was privat oder öffentlich ist und warum. Facebook und Twitter, aber auch Google verfolgen angeblich ein Geschäftsmodell, das auf Offenheit beruht, also auf Transparenz. Dieselben Firmen fallen jedoch selbst durch Geheimhaltung auf. Sie sagen ihren Nutzern nicht alles, was sie tun. Wenn immer dieser Widerspruch zu eklatant wurde, mussten sie nachjustieren. Mark Zuckerberg spricht von einer Vision, die er verwirklichen will. Er will die Welt offener machen. Damit würde sie besser. Durch Offenheit entstünde mehr Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein, ja Integrität. Wer alles offenlegt, was er tut, müsse ehrlicher sein. Die Plattform WikiLeaks gibt sich gerne als Vorkämpferin der Offenheit aus, da sie die Macht von Regierungen einschränke. Sie hindere Beamte daran Heimlichtuerei zu betreiben. Die Information, die man besaß, hielt WikiLeaks allerdings geheim, bis dass sie mit drei Zeitungen (Guardian, NY Times, Spiegel) entsprechende Verträge abgeschlossen hatte, um damit Geld zu verdienen. Mit verbesserter Transparenz, wo immer mehr Leute immer mehr von sich mitteilen, hat das wenig zu tun.

Jarvis mokiert sich darüber, dass wir Deutsche besonders sensibel seien. Ilse Aigner habe in ihrer Funktion als Verbraucherschutzministerin gegen Street View protestiert, den Versuch von Google, Straßenbilder deutscher Städte ins Internet zu stellen. Es wurde ein Formular angeboten, mit dem man Google bitten konnte, bestimmte Häuser zu ‚verpixeln‘. Im Internet sähe Deutschland bald so aus wie nach dem Kriege, als Bombeneinschläge überall sichtbar waren, meinte er. Schließlich kommt Jarvis in Deutschland auf den Geschmack nackt in eine Sauna zu gehen. Für einen Amerikaner sei dies ein stärkeres Eindringen in die Privatsphäre als das Fotografieren an sich öffentlicher Straßen und Plätze.

Kulturell bedingte Empfindungen

Es stellt sich daher die Frage, was als privat empfunden wird. Der Begriff selbst leitet sich von dem negativen Ausdruck ‚beraubt‘ (lat. privatus) ab, was darauf hinweist, dass in vielen historischen Gesellschaften, die ja aus Familienverbünden hervorgingen, die Öffentlichkeit der Normalfall war. Als privat gelten heute in den meisten Kulturen z.B. bestimmte Regionen des menschlichen Körpers, Informationen über den Gesundheitszustand, das Einkommen und das Vermögen. Bezüglich der letzten beiden Bereiche gibt es bereits Unterschied innerhalb Europas. So soll man in Norwegen sehr offen sein. Jarvis machte selbst eine interessante neue Erfahrung, als er sich entschlossen hatte, in seinem Blog über eine Erkrankung (Prostrata-Krebs) zu berichten. Einige Kommentare hätten ihm echt geholfen. Im Allgemeinen haben Kinder eine andere Vorstellung von Privatheit als Erwachsene. Bei Erwachsenen nimmt die Angst zu, Fehler öffentlich zu gestehen. Auch die Bereitschaft zum Risiko nimmt ab.

Auf den Umgang mit Computern bezogen betrachten die meisten Leute folgende Informationen als nicht öffentlich: Kreditkarten-Nummern, Paßwörter, Inhalte ihrer eigenen E-Mails, den Browser-Verlauf, Playlists bei iTunes, Einkäufe bei Amazon und dgl. Bei einigen andern Tätigkeiten und Informationen sind wir etwas unsicher. Dazu gehören die vielen so genannten Freunde, die uns in sozialen Netzen angeboten oder vermittelt werden. Hier kommt es sehr auf die bisherige Erfahrung an.

Es ist sehr unangenehm, dass der Begriff Privatsphäre inhaltlich nur schwer zu definieren ist. Es gibt keine statische Definition, die für einen längeren Zeitraum oder für mehrere Situationen gelten kann. Es findet ein fortlaufender Anpassungsprozess statt. Nur der einzelne Mensch möchte und kann nämlich bestimmen, was für ihn öffentlich und was privat ist. Der Nutzer eines Kommunikationsdienstes möchte selbst bestimmen können, was andere über ihn wissen. Wird irgendwann ein Zustand erreicht, der befriedigend ist, oder an den wir uns gewöhnt haben, kann neue Technik zur Bedrohung werden. So war es mit photographischen Kameras und elektromagnetischen Tonaufnahmegeräten. Mit dem Aufkommen des Internets sahen viele das 'Ende der Privatsphäre' (so der Titel eines 2007 erschienen Buches von Peter Schaar, dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz) herbeikommen.

Jarvis meint, dass es bei der Privatsphäre im Grunde um eine Ethik des Wissens ginge, bei der Öffentlichkeit um eine Ethik des Teilens. ‚Was andere nicht wissen dürfen, sollte man nicht tun‘ (so lautet ein berühmter Ausspruch von Eric Schmidt, dem ehemaligen Geschäftsführer von Google). Das Verstecken in der Anonymität ist eine beliebte Form des Privatseins.

Anders als bei der Privatsphäre lässt sich der Begriff der Öffentlichkeit leichter konkretisieren. Hier hilft das Bild unterschiedlich großer Kreise, die sich überlappen. Einen Kreis bildet die Familie, einen weiteren die Verwandtschaft, wieder einen anderen die Freunde und dann die Arbeitskollegen, die Schüler und Leser. Das sind die individuellen Öffentlichkeiten. Weiter außen ist dann die generelle Öffentlichkeit, über die die öffentlichen Medien berichten.

Juristische und soziologische Sicht

Der Begriff der Privatsphäre ist juristisch zwar aus andern Grundrechten ableitbar, aber als solcher ist er nicht direkt definiert. Das gilt sowohl für die deutsche Verfassung, als auch für andere Länder. Ein Arbeitskreis der Gesellschaft für Informatik (GI), der sich mit der NSA-Affäre befasste, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass erst das Bundesverfassungsgericht (BVG) spezifische Grundrechte auf diesem Gebiet konkretisiert habe.

Für den Schutz des Persönlichkeitsrechts unterscheidet [das BVG] Intimsphäre, Privatsphäre und Öffentlichkeitssphäre und gewährleistet einen nach betroffener Sphäre einen unterschiedlichen Schutz gegen das Eindringen der Öffentlichkeit…In den USA wird kein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung anerkannt, sondern nur ein „Right to be left alone“.

Das hier erwähnte Recht, in Ruhe gelassen zu werden oder das Recht auf Einsamkeit, ist anders motiviert und definiert als der deutsche Begriff der ‚informationellen Selbstbestimmung‘. In der Scobel-Sendung bei 3Sat vom 7.11.2013 klangen einige Aspekte an, die das Bild vervollständigen. Mit dem Wunsch nach Transparenz verbinde sich ein Traum. Es sei der Traum, dass alles besser wird, wenn alle alles wissen. Die Privatsphäre sterbe immer aufs Neue. Vor allem der in Berlin lehrende Koreaner Byung Chul Han fand ein paar kluge Worte: Transparenz sei mit Pornografie vergleichbar. Sie lasse weder Innerlichkeit, noch Scham oder Distanz zu. Es käme einem ‚entinnerlichen‘ entgegen. Wer nicht alles enthülle (bildlich: die Hosen runter lasse), der stehe draußen. Totale Transparenz führe zur vollständigen Überwachung, zu Terror. Nur eine Privatsphäre schaffe Freiheit.

Meine Erklärungsversuche

Vertraulichkeit und Transparenz, Öffentlichkeit und Privatsphäre sind Begriffspaare, deren Elemente einander bedingen. Es gibt das eine nicht, ohne das andere. Sie sind daher keine Gegensätze, sondern nur Gegenpole. Wie in der folgenden Grafik dargestellt, sind sie Endpunkte einer Skala.

 

Für jede Situation und für jede Person oder Gruppe sind andere Punkte auf den Skalen optimal. Entscheidend ist, dass der Einzelne diese Punkte wählen darf und wählen muss. Diese von außen vorzugeben, ist bereits ein Eingriff in die Rechte des Individuums oder einer Gruppe.

Die derzeitige Diskussion kann dem Individuum und Gruppen dabei helfen, erneut das richtige Gleichgewicht zu finden. Lange Zeit hatten die Menschen vor allem Angst vor Eingriffen der Wirtschaft. Die Ereignisse um die NSA-Affäre haben bewirkt, dass im Moment die größte Angst vor Eingriffen des Staates besteht. Große Staaten sind immer noch mächtiger als große Wirtschaftsunternehmen. Vor allem stehen ihnen außer finanziellen und personellen Ressourcen noch zwei weitere Hebel zur Verfügung, welche die private Wirtschaft nicht hat, nämlich Gewaltanwendung (Polizei, Militär) und Gesetzgebung. Die angeschnittene Diskussion entscheidet letztlich auch darüber, wie sich eine Gesellschaft definiert.

Am 16.11.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

So „clean cut“ ist das nicht mit Vertraulichkeit und Öffentlichkeit. Schauen Sie mal auf die Datenbanksprache SQL und hier die umstrittene „grant option“. Zuerst bei MySql, dann bei Oracle.

Nachbemerkung (BD):  Es ist klar, dass 'im wahren Leben' und bei Datenbanksystemen Rechte oder Privilegien an Objekten sehr differenziert vergeben und widerrufen werden können. Ich hatte gehofft, für den Begriff 'Privatsphäre' eine allgemein akzeptierte fixe Bedeutung zu finden. Da suche ich weiter nach gedanklicher Hilfe.