Samstag, 16. März 2013

Abstraktion oder Aggregation – was bringt uns weiter?

In einem Eintrag im Mai 2012 dieses Blogs wurde das Begriffspaar Abstrakt-Konkret wegen seiner Bedeutung in der Informatik kurz diskutiert. Dem Kollegen Hartmut Wedekind [1] folgend habe ich vor allem die Bedeutung im Sinne der mathematischen Logik hervorgehoben. Ein Beispiel, das dies illustriert, lautet:

2 Äpfel, 3 Birnen, 6 Erdbeeren und 10 Weintrauben → 21 Stücke Obst, oder besser etwa 2 Kilo Obst
  
Obst ist hier eine Abstraktion für vier vorkommende Obstarten. Würde man Äpfel aufteilen in Cox Orange, Granny Smith, Renette, Schöner aus Boskoop und Weißer Klarapfel wäre das eine Konkretisierung, also die Umkehrung einer Abstraktion. Eng damit verwandt ist die Differenzierung. Zum Konkretisieren holt man die Äpfel aus dem Baum. Zum Differenzieren wird gemessen und gewogen. Im Englischen würde das Wort Diskriminierung (engl. to discriminate) besser passen. Im Deutschen hat es aber eine Wertverschiebung erfahren. Die Mehrdeutigkeit von Differenzieren (engl. to differentiate) ist leichter zu verkraften.

Differenzierung und Konkretisierung tut not

Nicht nur Wedekind, auch viele andere Kollegen, bemühten sich, ihren Schülern und Studenten klarzumachen, wie wichtig für sie Abstrahieren sei. Dies ist leider nur die Hälfte der Geschichte. Der Denkfehler scheint historisch bedingt zu sein. In den Anfängen der automatischen Datenverarbeitung, insbesondere in der so genannten Lochkartenzeit, war es ein ökonomisch wichtiges Prinzip, das zu dieser Blickwinkelverengung führte. Es mussten Abstraktionen gesucht werden, um Effizienz zu erreichen. Was wirtschaftlich geboten war, wurde zu etwas Gutem erklärt. Inzwischen ist es an der Zeit, um umzudenken.

Unsere Technik hat ein Stadium erreicht, in dem sie uns nicht mehr zum Abstrahieren zwingt, zu Beschränkungen der Individualität. An die Stelle einer Nummer dürfen wieder Name und Adresse treten, sogar in Groß- und Kleinschreibung und mit Umlauten. Damit können Kunden, Mitarbeiter, Produkte oder Bauteile identifiziert werden. Die Technik kann helfen, unerwünschte Gleichschaltungen zu vermeiden. Anstelle einer Vermassung durch Automation kann die Individualisierung dank Technik treten, eine Explosion von Ausprägungen, eine Präferenz für Vielfalt. Computer haben keine Angst vor Komplexität, lediglich ihre Programmierer. Kundenspezifische Massenfertigung (engl. mass customization) sollte nicht auf den Automobilbau beschränkt bleiben, sondern kennzeichnend für jedes moderne System sein, vor allem für solche, die mit Menschen zu tun haben.

Lernen sollten junge Menschen, dass die Differenzierung immer Vorrang hat. Wenn wir nicht differenzieren, brauchen wir auch nicht zu abstrahieren. Abstrahieren ist nur eine Hilfe, allerdings eine sehr wichtige. Ohne sie erhält unser Weltbild keine Struktur. Normalerweise erfolgt die Strukturierung erst anhand vorhandener Objekte, nicht vorher. Apriorismus nennen die Philosophen diese fragwürdige Tendenz. Nachdem wir erkannt haben, dass Äpfel und Birnen sich unterscheiden, stellen wir später fest, dass sie einiges gemeinsam haben. Das Gemeinsame erkennen wir – zum Beispiel auf dem Marktplatz  ̶  daran, dass sie am selben Stand angeboten werden. Käse, Milch und Hühner gibt es woanders. Durch das Klassifizieren in Objekthierarchien ordnen wir die Welt. Mit Änderungen des Wissens ändert sich auch die Struktur, die wir ihm aufgeprägt haben. Für dynamisch sich ändernde Wissensgebiete kann eine zu starre Denkstruktur zur Belastung werden.

Viele von der Mathematik beeinflusste Kollegen werden sagen: ‚So what!‘ Wir liefern doch nur die gedanklichen Werkzeuge, um mit Abstraktionen und Differenzierungen umzugehen. Ob sie angewendet werden, überlassen wir den Nutzern. Diese Haltung sollten wir als Unprofessionell brandmarken. Meines Erachtens geht die Verantwortung von Pädagogen und Wissenschaftlern über das Auflisten von Alternativen hinaus. Sie sollten dabei helfen, das Wissen der Welt optimal zu strukturieren. Was sein persönliches Optimum ist, muss jeder selbst lernen.

Der wissenschaftliche Fortschritt rührt primär daher, dass wir lernen besser und genauer zu unterscheiden. Daher ist es besser, wenn junge Menschen angehalten werden auf Nuancen zu achten. Jede Verallgemeinerung birgt nämlich große Gefahren in sich. Ein guter Leitspruch könnte lauten: ‚Abstractions considered harmful‘. Es folgen einige Beispiele.

  •    Rechner haben unendlichen Speicherplatz
  •    Es gibt unendlich viele ganze Zahlen
  •    Gleitkommazahlen stellen reelle Zahlen dar
  •    Computer sind mathematisch genau rechnende Maschinen
  •    Alle Nutzer sind gleich erfahren oder unerfahren
  •    Meine Programmiersprache ist für alle Nutzer gleich gut
  •    Flatrate lässt allen Nutzern freien Spielraum
  •    Werbefinanzierte Leistungen kosten den Nutzer nichts, usw.

Auch in der Naturwissenschaft erfolgen Verständnis und Fortschritt eher durch Differenzierung als durch Verallgemeinerung. Die Geometrie stellt zwar Kreis und  Kugel deshalb in den Mittelpunkt, weil sie leicht zu definieren und zu zeichnen sind. Sie sind jedoch schwierig herzustellen und kommen in der Natur in reinster Form äußerst selten vor. Dieser Tage zeigte selbst der Saturnmond Rhea sein vernarbtes Gesicht. Er zeigte uns seine Geschichte und seine Persönlichkeit. Die Technik schließlich gelangt nur dann zu originellen Lösungen, wenn sie sich vor allzu leichten Verallgemeinerungen hütet. Je konkreter sie bleibt, umso besser. Da sie dem Menschen dient, sollte sie Abstraktionen vermeiden, so gut es geht. Es sind nicht die Abstraktionsleistungen, die zu Entdeckungen und Erfindungen führen, sondern neue Differenzierungen.

Nur die Mathematiker wagen es mitunter zu sagen, dass regulär (also niedrige Variationsvielfalt) schön sei, und dass schön zu sein als Grund gilt, wahr oder richtig zu sein. Die mathematische Theorie der Ästhetik hat da ihre Wurzeln. Moderne Schönheitschirurgen verdienen sogar sehr viel Geld damit, dass viele Frauen glauben, von der Differenzierung durch die Falten des Alters müsste man abstrahieren. Diese bewusst zu akzeptieren, wäre vielleicht klüger.

Um von den Beispielen aus Technik und Wissenschaft zu verallgemeinern, begebe ich mich auf ein Terrain, das voller Schlaglöcher ist, die Politik. Einerseits  werden tradierte Klassifizierungen als unpassend erklärt, etwa die als Behinderte, Neger oder Zigeuner. Andererseits werden Unterschiede zwischen Jungen und Alten, Frauen und Männern,  Begabten und Unbegabten, Faulen und Tüchtigen, usw. wegdiskutiert. Es wird nivelliert, auch da, wo es keinen Sinn macht. Auf Unterschiede hinzuweisen, ist politisch nicht mehr korrekt. Wir neigen dazu, möglichst alle Bürger über den gleichen Kamm zu scheren, statt ihre Individualität anzuerkennen oder zu betonen.

Nicht alle Strukturen sind Hierarchien

Wenn Mathematiker an Strukturen denken, denken sie sehr oft nur an Hierarchien. Das sind (umgekehrte) Bäume oder azyklische Graphen. Manche Anwendungen in der Informatik kommen sogar damit aus. Im Normalfall haben wir es mit Netzstrukturen zu tun. In Unternehmen, wo Mitarbeiter fast immer von mehreren Personen oder Funktionen (fachliche, rechtliche oder finanzielle) Anweisungen erhalten, spricht man von heterarchischen Strukturen.



Das beigefügte Bild versucht eine Heterarchie zu veranschaulichen. Es sind vier Halbordnungen angedeutet, in denen der Begriff ‚Mitarbeiter‘ vorkommt. Stellt man sich für jeden anderen Begriff eine ähnliche Figur vor, entsteht ein Netz. Wenn man sich Tausende solcher Netze vorstellt, bekommt man einen Eindruck davon, mit was Informatiker sich beschäftigen sollten. Ganz ohne Hoffnung bin ich nicht. Vermutlich ist Google längst auf diesem Weg.

Nur Aggregationen führen zur Automation

Abstraktionen dienen primär dazu, Informationen, die im Moment nicht benötigt werden und daher nur belasten, gedanklich abzuschütteln. Wir bilden Äquivalenzen von Dingen, die eigentlich keine sind, und tun so, als ob sie existierten. In der Informatik müssen immer wieder konkrete Daten zu Gruppen zusammengefasst und in ihrer Gesamtheit angesprochen werden. Dabei darf normalerweise keine Information verloren gehen. Von einer automatischen Vergessens-Funktion ist in diesem Zusammenhang manchmal die Rede. Da ein befriedigender Algorithmus bisher noch nicht gefunden wurde, begnügen wir uns meist mit einer automatischen Auslagerung innerhalb der Speicherhierarchie. Noch sammeln und speichern wir jedes Jahr mehr Exabytes (1018 Bytes) an Daten als im Jahr davor. Dank Informatik fehlt es nicht an Medien und Geräten, die für eine sinnvolle Weiterverarbeitung dieser Datenmassen geeignet sind. Nur die Software hinkt nach.

Die Informatik hat seit ihren Anfängen mit den unterschiedlichen Aggregationsformen von Daten und Informationen experimentiert. Bei kommerziellen Anwendungen sind Dateien und Datenbanken das Rückgrat für formatierte Daten. Für Text, Bild und Ton gibt es jeweils eigene Formate. Techniker begannen mit Vektoren und Matrizen, haben dann für jedes Teilgebiet weiter Formen von Datenkollektionen standardisiert. Sehr schnell stößt man aber an Grenzen der Austauschbarkeit.

In der kaufmännischen Informatik wird dieses Problem durch eine indirekte Lösung adressiert. Ausgewählte Datenbanken werden periodisch in ein ‚Data Warehouse‘ übertragen. Dabei durchlaufen sie einen Umformungsprozess, auch ETL-Prozess (Extract, Transform, Load) genannt. Anhand eines OLAP-Würfels (engl. online analytical processing cube) werden dann die Projektionen der Daten gebildet, die für  statistische Analysen benötigt werden.

Ähnliches ist mir für technische Daten nicht bekannt. Was die Daten eines komplexen Teiles im Auto- oder Flugzeugbau beschreibt, hat keinen Bezug zum Bauwesen oder der Vermessungstechnik, von Anatomie, Astronomie, Biologie, Chemie und Geologie ganz zu schweigen. Sollte es nicht von Vorteil sein, wenn alle diese Daten eine gemeinsame Form der Beschreibung hätten? Bitketten und Zeichenfolgen scheinen mir ein äußerst primitives Niveau der Daten-Kommunikation zu sein. Mögliche Lösungen findet man bestimmt nicht in Mathematik-Büchern. Suchen sollte man sie in Produkt-Spezifikationen oder Patenten von Computergrafik-Anbietern wie Adobe, AutoCAD oder Wolfram Research.

Quintessenz

Wir sollten die Unterschiede mehr betonen als die Gemeinsamkeiten. Der Schritt zur Abstraktion heißt nämlich zu oft, dass man aus der Realität und der individuellen Verantwortung entfliehen möchte ins Unverbindliche, in die ideale Welt ohne Grenzen und Beschränkungen. Weder die grüne Wiese ist das Ideal der Ingenieure, noch das Abstrakte. Nicht alles Konkrete muss aus Beton sein (engl. concrete).

Die Informatik sollte keine Angst vor nicht-hierarchischen Strukturen haben. Die Welt ist voll davon. Auch sollte man über mächtige und flexible Aggregationen nachdenken. Langwierige Transformationen sind nur die zweitbeste Lösung. In der augenblicklichen historischen Situation sind sie durchaus akzeptabel. Informatiker dürfen, ja sollten aber auch nach langfristigen, optimalen Lösungen suchen. Die Branche hat bereits Schlagworte wie ‚Big Data‘ und ‚Sharing‘ zur Hand.

Die Informatik kommt nicht umhin, sich von der Denkweise und den Zielen der Mathematik zu befreien. Was die als Fußgängerin groß gewordene Leihmutter Mathematik kennen und lieben gelernt hat, mag den Auto fahrenden und Flugzeug fliegenden Kindern und Enkeln nicht immer helfen. Nach über 50 Jahren sollte die Informatik sich von mathematischen (oder gar philosophischen) Denkmodellen zu lösen beginnen und langsam damit anfangen, selber zu denken.

Zusätzliche Referenz

  1. Wedekind, H., · Ortner , E., ·Inhetveen, R.: Informatik als Grundbildung, Teil III: Gleichheit und Abstraktion. Informatik-Spektrum 27,4 (August 2004), 337-341 

Nachtrag am 25.3.2013 von Hartmut Wedekind:

Ein kurzer Bericht ist beigefügt über eine philosophische Podiumsdiskussion in Darmstadt. Der Bericht hat den Titel ,Richtung und Sinn als Abstraktion'. 

NB: Die Diskussion des Themas Abstraktion wird außer in den beigefügten Kommentaren auch in einem späteren Eintrag wieder aufgegriffen.

5 Kommentare:

  1. Am 17.3.2013 schrieb Peter Hiemann aus Zarzis in Tunesien:

    Vermutlich können Sie sich vorstellen, welche Assoziationen der Begriff „Heterarchie“ bei mir ausgelöst hat: Strukturell gekoppelte Systeme, die nach Luhmanns Modell der Kommunikation funktionieren. In diesem Modell mit den Komponenten Programmsystem, Interaktionssystem und Funktionssystem verlaufen die Interaktionen nicht nach hierarchischen Prinzipien.

    Strukturell gekoppelte Systeme durchlaufen sehr dynamische Konfigurationen. Die fortlaufenden Kommunikationsprozesse erlauben nur beschränkt, Aussagen über zeitweise stabile Systemzustände zu machen. Derartige Systeme ändern sich nach evolutionären Prinzipien, einschließlich unvorhersehbarer emergenter Eigenschaften.

    Vermutlich assoziieren Sie auch wie ich mit „sehr dynamischen Konfigurationen“ Damasios Arbeitshypothesen über Funktionsweisen des Gehirns und Metzingers „Ego Tunnel“.

    Die Koordination und Integration von Objekten oder Ereignissen bedarf eines
    "Bindungsmechanismus". Ich weiß nicht, ob und wie sich Informatiker an der Entwicklung der "Bindungstheorie" beteiligen.

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  2. Am 18.3.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    4711 als Parfümfabrik oder als Zusammenbauteil:

    4711 =def ix A(x) ist eine Kennzeichnung (singular description) und benennt einen Gegenstand wie ein Eigenname z.B. 4711 das auch tut. A(x) heißt auf Deutsch: Das x, das eine Parfümfabrik in Köln ist. Hoffentlich gibt es nur eine, damit es eine echte Kennzeichnung wird. ix ist der Kennzeichnungs-Operator (gesprochen: dieses x ), eingeführt von Frege und Russell.

    Kennzeichnungen sind neben der Abstraktion ein Hauptverfahren, Gegenstände konstruktiv in eine Diskussion einzuführen. Unser tägliches Leben besteht fast ausschließlich aus Kennzeichnung, weil es nur selten Eigennamen gibt. Nur Haustiere und Menschen und Sterne, die der Mensch am Himmel sieht, haben Eigennamen (proper names). Auch ein Teil kann durch seine Teile, aus denen es besteht, gekennzeichnet werden.

    4711 =def ix A(x)

    A(x) mag jetzt heißen: Das x, das aus den Teilen ai (i=1 bis n) besteht. Man darf Zusammenbauten wie 4711 nicht als Aggregat bezeichnen (vom Lat. grex, gregis = die Herde), weil Aggregat wissenschaftssprachlich eine zufällig entstandene (spontane) Zusammenfügung mehrerer gleich- oder verschiedenartiger (mathematischer, physischer, chemischer, technischer, sozialer etc.) Elemente meint (wie in einer Herde). Rein logisch steht immer die Teil-Ganze-Relation zur Debatte.

    Die Theorie der Kennzeichnung ist in der Informatik unbekannt. Man hält sie für unwesentlich. Das ist aber das Problem der Informatik, nicht meins!

    NB (Bertal Dresen): Ich bin offen für bessere Namensvorschläge. Wenn Aggregat nicht richtig ist, vielleicht ist es Bündel, Haufen oder Verbund. Das englische Wort ‚cluster‘ kommt meiner Vorstellung sehr nahe. Das Entscheidende ist, es darf nichts verloren gehen, weder an inhaltlicher noch an struktureller Information. Das schlimmste in dieser Hinsicht sind Mengen (engl. sets). Sie sind daher der Traum aller Mathematiker.

    Das historische Beispiel 4711 belegt den rationalistischen Geist französischer Revolutionäre. Da sie alle Bürger Kölns gleich machen wollten, schrieben sie fortlaufende Nummern auf alle Häuser der Stadt. So die Überlieferung. Das war eine Form der Abstrahierung. Nur die Nachbarschaftsbeziehung blieb erhalten. Abstrahieren ist Gift für Informatiker – ich kann es nicht oft genug sagen.

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  3. Am 22.3.2013 berichtete Hartmut Wedekind über ein Frühstücksgespräch:

    Sieh an, meine Frau hat es heute am Frühstückstisch treffend und einfach gesagt: „Bildung ist das ständige Bemühen um ein Weltverständnis. Und das geschieht durch ein Unterscheiden (Differenzieren). Und wenn das Unterscheiden in einer unüberschaubaren Komplexität endet, fängt der Mensch an zu abstrahieren, d.h., er setzt konkret Unterschiedliches wieder gleich. Beides, Unterscheiden und Abstrahieren sind Bildungsprozesse ohne Ende zu Lebzeiten zur Aneignung eines Weltverständnisses.“

    Ich wusste gar nicht, dass meine Frau so einsichtsvoll ist. Ob die das von mir hat?

    Der Witz ist: Bildung (als Bemühen) kann man überhaupt nicht lehren, man kann Bildung nur vorleben. Und das geschieht über ein vorgelebtes Unterscheiden und Abstrahieren, am besten bewusst und reflektiert und nicht nur spontan. Wenn reflektiert, dann bleibt es besser im Gedächtnis. Speicherung ist auch ein wichtiger Vorgang, ohne den funktioniert Bildung nicht. Gedichte auswendig lernen, macht Sinn. Das muss man heute wieder sagen. Früher war das selbstverständlich.
    Wenn das die Lehrer und Pädagogen und Politiker nur wüssten! Da die aber durchweg ungebildet sind, ist die Lage hoffnungslos.

    NB (Bertal Dresen): Ich bedanke mich bei Frau Wedekind für ihre Unterstützung bei meinem Versuch, deutsche Professoren davon abzubringen, ihr Heil nur in der Abstraktion zu suchen. Ich bin sicher, dass meine Leser auch amüsiert zur Kenntnis nehmen werden, wie sehr meine Blogs bereits familiäre Gespräche beeinflussen.

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  4. Am 23.3.2013 schrieb Hartmut Wedekind:

    Wenn im Begriff „Ehe“, als Relation geschrieben: EHE (MannNr., FrauNr., Zahl der Kinder), benennende und identifizierende Primärschlüssel sind wie üblich unterstrichen, dann MannNr. und FrauNr. durch MenschNr. ersetzt oder invariant substituiert werden, also: HOMO-EHE (MenschNr.-A, MenschNr.-B, Zahl der adoptierten Kinder), dann ist das eine kolossale Abstraktion, weil die Frau-Funktion oder die Mann-Funktion in EHE als äquivalent angesehen werden. Man spricht von Mensch-Funktion. Es gilt dann: EHE ist äquivalent zu HOMO-EHE, wegen der invarianten Substituierbarkeit von Mann und Frau. Abstrahieren aber kann man alles. Auch ein Hühnerei und der Eiffelturm können bekanntlich unter dem Aspekt „Gegenstand“ als äquivalent angesehen werden und somit abstrahiert werden.

    Das ist ja das, was der berühmte ungarische Mathematiker Georg Pólya (1887-1985) meinte, als er nach der Abstraktion gefragt wurde. Er sagte: „Man weiß nie , ob es eine Verdichtung oder Verdünnung ist. Aber, wenn ich meine Kollegen betrachte, so liegt mit Sicherheit eine Verdünnung vor“. So auch hier: Wenn ich die Homo-Ehe betrachte, liegt mit Sicherheit eine Verdünnung vor. Das nenne ich sarkastisch Kolossal-Abstraktion.

    Ob sich die Bundesrichter und Gesetzgeber darüber im Klaren sind? Ich glaube nicht, denn die haben von der Abstraktionslehre keinen Ahnung. Das kam in der Schule und im Studium nicht vor. Am wenigsten bei Juristen, denn die glauben, Abstraktion sei ein Weglassen und Abtrennen. Man lässt bei EHE einfach das Geschlecht weg, oder das Geschlecht wird wegabstrahiert. Überhaupt über Abstraktion selber zu reflektieren, bleibt Juristen vorenthalten. Man redet aber seit Savigny (+1860) pausenlos über Abstraktion. Das kann man eigentlich immer so machen, so lange, bis es nach meinem Gusto passt. Was mir nicht passt, wird wegabstrahiert.

    Was das ist? Antwort: kolossal unwissenschaftlich und unkritisch und damit voraufklärerisch!!!.

    Eigentlich können einem die Menschen, die nicht mitbekommen haben, dass wir in einem wissenschaftlichen Zeitalter leben, nur noch leidtun. Dazu gehören Bundesrichter und Abgeordnete. Man kann auch sagen, die sind ungebildet. Denn Abstraktionskenntnisse und Bildung gehören zusammen. Jeder lernt Abstrahieren (verdichtendes) beim Übergang von der Ziffer zur Zahl. Er muss den Übergang natürlich reflektieren, sonst nutzt es nichts. Er operiert sonst mit Ziffern in gleicher Weise wie mit Zahlen, oder anders, er hat überhaupt nicht begriffen, was eine Zahl ist und nennt sich einen schlechter Rechner. Unbildung wird dann als etwas Löbliches heraus posaunt und mit Goethe-Sprüchen verziert, um klassische „Bildung“ vorzutäuschen, die gar keine ist. Den kolossalen Defekt übertüncht man. Psychologen sprechen von Verdrängung.

    NB (Bertal Dresen) Mein Spruch ‚Abstractions considered harmful‘ zeigt bereits Wirkung.

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  5. Am 3.4.2013 schrieb Manfred Broy aus München:

    Abstraktion und Konkretisierung sind doch kein Gegensatz. Man muss natürlich immer im richtigen Moment auf das geeignete zurückgreifen. In bestimmten Situationen ist Abstraktion angesagt, in anderen Konkretisierung. Da kann man doch nicht so pauschal, das eine gut und das andere schlecht reden. Was Sie unter Ihrem Leitspruch "abstractions considered harmful" schreiben, finde ich ein wenig Kraut und Rüben. Schon das erste Thema, ob Rechner einen unendlichen Speicherplatz haben, ist interessant. Nimmt man nämlich an, dass das nicht der Fall ist, bricht die gesamte Theorie der Berechenbarkeit zusammen. Dann gibt es nämlich nur noch endliche Automaten. Allerdings handelt es sich hierbei genau genommen nicht um eine Abstraktion, sondern um eine Vereinfachung, oder vielleicht genau um eine Idealisierung und das gilt gleich für Ihre ersten vier Punkte. Was das mit den Nutzern soll, ist mir dann überhaupt nicht klar. Das hat doch nichts mit Abstraktion zu tun und auch das andere nicht. Was Sie dort anführen sind keine Abstraktionen, sondern unzulässige Vereinfachungen.

    Der Witz an der Abstraktion ist doch genau, dass man die Details, die für die augenblickliche Überlegung keine Rolle spielen, weglässt. Dahin liegt der Wert der Abstraktion und auch die Kunst Abstraktion richtig einzusetzen.

    Und mit Ihrer pauschalen Aussage, "wir sollten die Unterschiede mehr betonen", aus den Gemeinsamkeiten kann ich schon gar nichts anfangen. Das hängt doch wieder vom Gegenstand ab. Gerade in der Entwicklung von Software-Familien ist es wichtig, die Gemeinsamkeiten herauszufinden und die Anzahl der Variationspunkte zu beschränken, aber das ist nur ein Beispiel unter vielen. Also kurz und gut - auf Abstraktion generell zu schimpfen, wie Sie es tun, kommt mir vor als ob man auf die Farbe blau oder grün losgeht. Ich denke, das sollte man viel differenzierter sehen. Ich sage das so deutlich, weil ich weiß, wie sehr Sie den Disput schätzen.

    Adhoc-Antwort (Bertal Dresen):

    Bei meiner Bewertung von Abstraktion und Konkretisierung (oder Differenzierung) geht es nur um die relative Nützlichkeit der beiden Operationen. Nützlichkeit ist ein Kriterium, das für Ingenieure sehr wichtig ist, für Mathematiker jedoch weniger. Wie Frau Wedekind (am 22.3. beim Frühstück) sagte, beginnt Wissenschaft mit der Differenzierung. Die Abstraktion ist ein (fauler) Trick des menschlichen Geistes. In der Vergangenheit waren unsere Maschinen in Bezug auf Differenzierungspotential dem Menschen unterlegen. In Zukunft drehen sich die Relationen um. Eine Maschine kann mehr unterscheiden und behalten als ein Mensch. Alle unsere Maschinen zusammen (auch Internet genannt), sind uns erst recht überlegen.

    Informatiker sollten daher lernen, dass Abstraktion etwas Gefährliches ist. Sie war ein beliebtes Hilfsmittel in der Not der Vergangenheit. Wer abstrahiert, schlägt immer etwas tot, er unterschlägt etwas, es sei denn er bündelt (oder aggregiert). Genau das tut ein Statistiker, wenn er Gruppierungen seiner Daten bildet. Er fasst alle Einwohner eines Landes zusammen, mal regional, mal nach Berufen oder Alter. Er verliert aber keine Daten. Eine Landkarte auf meinem Smartphone z.B. passt sich mit dem ‚Abstraktionsniveau‘ dem Spreizen meiner Finger an. So muss auch ein Informatiker über Daten denken. Wenn Mathematikern das nicht gefällt, ist das ihr Problem, nicht unseres.

    Ich bezweifele übrigens, dass eine Theorie, die einen unendlichen Speicher als Voraussetzung benötigt, es wert ist, dass Informatiker sich damit belasten. Es gibt genug wichtige Dinge.

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