Montag, 26. Januar 2015

Kann man die EZB noch verstehen? (Ad-hoc-Reaktionen)

Der Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB), Schulden der Mitglieder in fast unbegrenzter Höhe (bis über ein Billion Euro) aufzukaufen, wird in Deutschland heftig diskutiert. Als Ingenieur, der an Wirtschaftsfragen nicht uninteressiert ist, wandte ich mich an einige Kollegen mit wirtschaftswissenschaftlicher Kompetenz. Sie sahen meine Fragen als begründet an und gaben umgehend eine klärende Antwort. Dass die Antworten ihrerseits wieder Fragen aufwerfen, liegt auf der Hand. Mit der Erlaubnis meiner Korrespondenzpartner (Hartmut Wedekind, Peter Mertens und Peter Hiemann) darf ich deren Auskunft veröffentlichen.  

Hartmut Wedekind meinte: 

Die Deutschen im EZB-Rat haben sich unterbuttern lassen, oder Autobahnen ins Nichts bauen und riesige, ungenutzte Real Estate-Siedlungen an spanische Küsten zu setzen, das sei südeuropäische (jetzt kommt das Lieblingswort) M e n t a l i t ä t", lasse ich nicht gelten. Statt Mentalität kann man auch Schwachsinn sagen oder Richtungslosigkeit (Sinn = Richtung). Aus der Psychologie der Not ist das alles leicht erklärbar: Denen steht das Wasser bis zum Hals. Nach der Griechen-Wahl wird am Sonntag vermutlich alles noch verschärft. Man greift zu Auswegen, die keine sind. Neben dem Flüchtling- und Zuwanderungsproblem (allgemein) liegt eine zweite Aporie. Und Aporetiker schlagen in ihrer Not häufig wild um sich. Das ist alles Psychologie, auch Kriminal-Psychologie, also Abgründe des menschlichen Seins. 

Was man von Draghi und seinen Leuten verlangen kann, ist, dass ein Investitionsvolumen, das dem geschöpften Geldvolumen von 1000 Milliarden entspricht, bis auf, sagen wir 10 Millionen, heruntergebrochen dargestellt wird. Machbarkeitsstudien, die berühmten ‚feasibilities studies‘, erbittet man sich auch gleich dazu, damit nicht wieder wie in der Vergangenheit Unglücke mit europäischem Geld passieren. Straßen ins Nichts bauen, kann jeder. Gekonntes Investieren aber ist eine hochkomplexe Leistung. Mit der linken Hand, wie in der Vergangenheit, ist da nichts zu machen. Überhaupt war im Euroraum, seit er besteht, nur Leichtsinn angesagt. Vom alten klassischen Vorsichtsprinzip der Kaufleute haben die nichts gehört. Wenn Draghi das nicht kann, tja, dann ist das, was die EZB tut, Schaumschlägerei. Englisch sagt man „ imposture“. Dafür finde ich im  Englisch-Deutschen Wörterbuch das  schöne deutsche Wort „Hochstapelei“. 

Peter Mertens schickte folgende Bemerkung vorweg:  

Viele (nicht alle) Argumente muss man mit den handelnden Personen, ihren Interessen und ihrer kulturellen Prägung verbinden, alles andere wäre blauäugig. Sie wissen das aus Ihrem Berufsleben. Die in der Angelegenheit "Dicke Berta" von ihren institutionellen Mandaten in der EU her Handelnden sind: 
  • Präsident der EZB: Draghi = Italiener (und Goldman-Sachs-geprägt).
  • Sein Stellvertreter: Constancio = Portugiese
  • Für die Finanzmarkttransaktionen zuständiger EZB-Direktor: Coeuré = Franzose
  • In den Verfassungsklagen gegen Draghi verantwortlicher (Bericht erstattender) Generalanwalt des EuGH: Villalon = Spanier
  • Präsident des EuGH: Skouris = Grieche
  • EU-Währungskommissar: Moscovici = Franzose
  • Präsidentin des Weltwährungsfonds: Mme. Lagarde = Französin.
D. h.: alles Bürger von Schuldnerländern. Die Positionen der tendenziell solide finanzierenden und in den EU-Gremien in der Minderheit stehenden Länder (Deutschland und andere, meist nordeuropäische Staaten) sind nicht zufällig anders als die der Mittelmeerländer, sondern kultur- und wirtschaftsgeschichtlich bedingt. Ein deutscher Wirtschaftshistoriker hat einmal auf Folgendes hingewiesen: Die Skandinavier haben relativ kurze Ernteperioden und lange Winter. Sie müssen also von der Ernte Teile abzweigen und auf Vorrat "bunkern" = sparen. Hingegen kann man am Mittelmeer über weite Strecken des ganzen Jahres ernten, man hat also das Sparen nicht in gleichem Maße verinnerlicht wie die Nordeuropäer.

Kollege Mertens ging dann auf meine Fragen im Einzelnen ein, und zwar mit der Bemerkung: Ihre Fragen sind durchaus begründet und nicht sofort von der Hand zu weisen. Ich versuche, differenziert zu antworten. "Ja" heißt, ich stimme Ihnen im Wesentlichen zu.

Bertal Dresen (BD): Warum gibt die ganze Welt Draghi Recht, nur die deutsche Politik (Schäuble) und die deutsche Wissenschaft (H.W. Sinn) nicht? Wissen die es besser, oder ist unsere Situation derart verschieden vom Rest der Welt, zumindest aber von der in Südeuropa?

Peter Mertens (Kollege B = KB): Ja, unsere Situation ist sehr verschieden. Z. B. wird aufgrund der höheren Kinderzahl der Französinnen in den kommenden Jahren bzw. Jahrzehnten (bis zu einem evtl. radikalen Strukturbruch, der aber erst mit Zeitverzögerung wirken könnte) Frankreich einen Zuwachs an Arbeitskräften von etwa 250.000/Jahr haben, Deutschland einen Mangel in etwa gleicher Höhe. Das schlägt nach Berechnungen verschiedener Institutionen, die sich mit Generationenforschung befassen, massiv zur Altersversorgung durch. Also müsste die deutsche Bevölkerung eisern sparen. (Ex-Sozialminister Müntefering: "Man muss das zweite und dritte Bein der Altersversorgung (v.a. private Vorsorge) stärken".) Die Niedrigstzinspolitik bis hin zu Negativzinsen ("Guthabengebühren") beeinträchtigt aber das Thesaurieren von Einkommensbestandteilen und verführt vor allem jüngere und "mittelalte" Berufstätige in den Luxuskonsum (Geländewagen, Auslandsurlaube bis hin zu Kreuzfahrten und Weltreisen, Luxusküchen usw.).

Wie die Gegnerschaft des Signore Draghi zu den deutschen Sparerinnen und Sparern, denen er ja „perverse Ängstlichkeit“ attestiert hat, zu beurteilen ist, wäre ein anderes Thema, ebenso die Distanzierung von französischen und amerikanischen Politikern und Ökonomen vom deutschen Rechtsstaat. Z. B. „Intelligente Interpretation“ oder „flexible Handhabung“ statt „Einhaltung“ eines Gesetzes. Von der Deutschland-skeptischen Mme. Lagarde wurde sogar berichtet, sie habe einmal in einer Sitzung gesagt: „Wenn ich noch einmal Bundesverfassungsgericht höre, verlasse ich den Saal“.

Die Situation in USA ist auch verschieden von der Eurozone, weil die US-Bundesstaaten keine Haftungsunion bilden. So mussten z. B. Kalifornien oder Detroit in die Insolvenz, Massachusetts oder Miami haben damit nichts zu tun, wohl aber Deutschland mit Griechenland. Das japanische Experiment der Geldflutung („Abenomics") gilt als gescheitert, die Konsequenz waren fast zwei Jahrzehnte Schrumpfung bzw. Stagnation.

Im Übrigen erscheint mir Ihre Einschätzung, die ganze Welt gäbe Draghi Recht, arg holzschnittartig. Die „EU-Auguren“ rätseln an dem Ergebnis der Abstimmung im EZB-Rat, nachdem Draghi diesmal nicht hatte abstimmen lassen, sondern den Pressevertretern nur sagte: „Eine große Mehrheit des 25-köpfigen Rates sei der Ansicht gewesen, dass es nötig sei, jetzt den Auslöser zu drücken“ (FAZ, 23. 1. 2015).

BD: Muss die EZB deshalb so handeln, weil die Regierungen in Europa oder die EU-Kommission nicht ihre Hausaufgaben machen?

KB: Sie tat es, musste aber nicht. Ersatz der Pflichterfüllung von Staatsregierungen durch finanzielle Maßnahmen der Zentralbank ist Gegenstand der Verfahren vor Verfassungsgerichten.

BD: Schwimmen die Banken nicht schon in Geld aufgrund der niedrigen Zinsen der EZB? Ist es nicht vielmehr ein Problem, den Banken das Finanzieren von privaten Investitionen überhaupt (wieder) schmackhaft zu machen? Es ist mein Eindruck, dass sie lieber Staatsfinanzierung oder Börsenspekulation betreiben.

KB: Ja. Die bisherige EZB-Politik des Geldflutens („Quantitative Easing“) hat in der jüngeren Vergangenheit schon zu Krediten durch die Geschäftsbanken an der Grenze des Vertretbaren geführt. In Verbindung mit härteren Auflagen an die Eigenkapitalausstattung der Banken (z. B. „Banken-Stresstests") sehen diese zu wenige Erfolg versprechende Investitionen, die sie kreditieren wollen/können. Dass die EZB-Geldspritzen die Spekulation fördern werden, gilt meines Wissens als unbestritten, siehe die extreme Aktienkurssteigerung nach der EZB-Entscheidung. Mit Aktien, riskanten Fonds u. dgl. kann/sollte aber nicht spekulieren, wer seine Altersversorgung maßgeblich auch mit persönlichen Ersparnissen finanzieren muss.

BD: Eine Anregung der Produktion allein greift doch heute zu kurz. Muss nicht auch der Konsum 'angeregt' werden? Ich denke an die sehr erfolgreiche Abwrackprämie.

KB: Die Abwrackprämie sehe ich rückblickend als sehr problematisch an. Details würden hier zu weit führen. Man könnte den Konsum auf breiter Front durch Senkung von Steuern und anderen Zwangsabgaben anregen. Das geht jedoch wegen der Staatsverschuldung auch nur sehr begrenzt. Gerade in Deutschland kommt es wegen der Demographie nicht auf erhöhten Konsum, sondern auf verstärktes Sparen und Investieren (in die Infrastruktur, soweit dadurch künftige Generationen entlastet werden) an.

BD: Woher weiß man, dass es überall in Europa (auch in Malta und Zypern) gute Ideen gibt, in die zu investieren sich lohnt? Wie mir ein deutscher Wagniskapitalgeber schon vor Jahren sagte, gehen deutsche Investoren am liebsten in die USA. Dort gibt es nicht nur mehr nützliche Ideen, vor allem aber ein höheres Maß an Transparenz und Wettbewerb (e.g. im Silicon Valley).

KB: Ja. Ich werde noch Ende dieses Monats (leider wohl etwas spät) auch wieder etwas Geld in Dollar tauschen.

BD: Was ist eigentlich das übergeordnete Ziel der transnationalen Wirtschaftspolitik? Es scheint eine niedrige Arbeitslosigkeit zu sein. Es ist ziemlich egal, was die Griechen in wirtschaftlicher Hinsicht machen, Hauptsache sie gehen nicht auf die Straße.

KB: Das übergeordnete Ziel der meisten Befürworter einer Währungs- und Haftungsunion ist der Frieden in Europa. Immer wieder haben deutsche Politiker den Euro als großes Friedensprojekt bezeichnet. Ich halte viele, soweit sie nicht Spezialinteressen vertreten wie die Lobbyisten der Exportindustrie, für "Euromantiker". In der Zeit des Gemeinsamen Marktes vor der Währungs- und Haftungsunion gab es das "Deutschland- oder Merkel-Bashing" wie „Merkel behandelt die Eurozone wie ihre Filiale“ (Juncker), „Was die Deutschen nicht mit ihren Panzern im zweiten Weltkrieg erreichten, haben sie mit dem Euro geschafft“ bis hin zu einer üblen Anspielung auf die Querschnittslähmung des Bundesfinanzministers m. W. nicht. Besonders schmerzend ist die seit der Begründung der Europäischen Währungsunion entstandene Entfremdung zwischen Italien und Deutschland. So formulierte der Italien-Korrespondent der FAZ, Piller, nach der jüngsten EZB-Entscheidung u. a.: „Die Geldschwemme der EZB wird in Italien als Triumph über den Lieblingsfeind Deutschland gesehen“ und „Kein Wunder, dass jüngst in einer Umfrage 54% der Italiener Deutschland als größten Feind bezeichnet haben“.

Der Versuch von vier Griechen im Dezember 2013, das Kind des deutschen Botschafters in Athen zu ermorden, wobei nach Presseberichten der griechische Schutzpolizist eine umstrittene Rolle spielte, war ein trauriger Höhepunkt. Meine bescheidene Frage, ob denn nun nach einem Jahr die Täterinnen/Täter gefasst sind, wurde von mehreren Institutionen wie dem Griechischen Generalkonsulat nicht beantwortet. Das Auswärtige Amt verweigerte die Antwort und verwies stattdessen auf einen Internettext der griechischen Polizei, der in griechischer Sprache und Schrift verfasst ist.

BD: Mario Draghi sagte, er würde Anleihen aufkaufen, bis die Inflation steigt. Ist da nicht ein seltsames Modell dahinter, dass nur eine wachsende Wirtschaft eine gute Wirtschaft ist?

KB: Die riesigen Staatsschulden können in mehreren europäischen Nationen ohne die Kombination „Wirtschaftswachstum und Inflation“ kaum abgetragen oder auch nur finanziert werden. Inflation und Wachstum müssen nicht korrelieren, sie tun es aber in Überhitzungsphasen oft. In den Siebziger Jahren gab es zeitweise "Stagflation", die inflationsfördernden Maßnahmen verringerten die Arbeitslosigkeit nicht. Andererseits erlebte Deutschland in den letzten beiden Jahren vergleichsweise starkes Wachstum ohne hohe Inflationsraten. Das 2%-Inflationsziel ist nicht gesetzlich vorgegeben. Signore Draghi hat kürzlich in einem Interview mit dem Handelsblatt auf eine Frage geantwortet: "Das ist unsere gesetzliche Pflicht“. Da es aber ein Gesetz mit dieser Zahl nicht gibt, entgegnete er auf eine weitere Frage der Interviewer: "Das hat der EZB-Rat beschlossen". Ich kann nicht erklären, wieso Geldwertstabilität, die die EZB von Amts wegen zu verteidigen hat, bei 2% Inflation gegeben ist, nicht aber bei 0%.

Peter Hiemann, der von Hause aus Mathematiker ist, schrieb:

Nachdem die EZB-Entscheidung gefallen ist, konnte ich nur ein paar Überlegungen anstellen, die ich Ihnen gerne mitteile. Ich stellte mir folgende Fragen:

(1) Wozu werden die zusätzlich verfügbaren Euro verwendet werden?
Zusätzliche Euro, die ausschließlich für reale Investitionen in kommunale Infrastrukturen und Industriekapazitäten verwendet werden, können einen gewünschten Effekt der Verbesserung der Wirtschaftssituation in derzeit „notleidenden“ EU Staaten entfalten. Mit zusätzlichen realen Investitionen in Unternehmen können Arbeitslosigkeit verringert und Anreize für zusätzliche private Investitionen geschaffen werden. Investitionen in nicht produktive „Werte“ (z.B. Aktien, Hedgefonds, Lebensversicherungen) tragen nicht zur „Verbesserung“ der derzeitigen Wirtschaftssituation bei. Mögliche politisch orientierte Steuerungen von Finanzflüssen zum Vorteil eines Staates können nur von nationalen Institutionen geleistet werden.

(2) Wer ist bereit, zusätzliche reale Investitionen in Unternehmen und privat vorzunehmen?
Schon vor der Ankündigung der EZB, zusätzliche Geldmittel bereitzustellen, gab es „überschüssiges“ Kapital, das fast „verzweifelt“ nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchte. Die Ankündigung der Bereitstellung zusätzlicher Euro durch die EZB hat eine unmittelbare internationale Abwertung des Euro bewirkt. Das mag von der EZB beabsichtigt sein, um für Staaten des Euro-Raumes bessere Exportchancen zu schaffen. Ob und in welchen derzeit „notleidenden“ EU-Staaten überhaupt spezielle Produkte mit Exportchancen existieren, konnten Experten (weder der Politik noch der Ökonomie) der Öffentlichkeit nicht erklären oder vermieden es mitzuteilen. Die internationale Abwertung des Euro hat in der Bevölkerung einen Vertrauensverlust in die Euro Währung bewirkt, und Kleinanleger beflügelt (Schwarmverhalten?), mit  Aktienkäufen Euro Besitzstände zu „retten“. Der Mittelstand hat auch verstanden, dass deren Besitzstände in Lebensversicherungen durch die Emittierung „billigen“ Geldes durch die EZB mehr als gefährdet sind. Dass und wo derzeit die Bereitschaft existiert, zusätzliche reale Investitionen in Unternehmen (vor allem mittelständische) und privat  vorzunehmen, ist nicht zu erkennen.

(3) Wie wird sich die EZB-Aktion auf die Bevölkerung in verschiedenen EU-Ländern auswirken? Es ist unmöglich einzuschätzen, wie sich die gewaltige Vermehrung der Euro-Geldmenge auf das ökonomische Verhalten der Bevölkerungen in EU-Staaten auswirken wird. Der Vertrauensverlust in die Euro-Währung beunruhigt vermutlich am meisten große Teile der deutschen Bevölkerung, die der einst stabilen D-Mark nachtrauern. Das hat indirekt Auswirkungen auf das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber Ausländern. Ob berechtigt oder nicht, machen sich derzeit wohl alle Bevölkerungsgruppen in allen Ländern Gedanken hinsichtlich zukünftiger ökonomischer Perspektiven. Der unvorstellbare Super-GAU für Eurostaaten wäre eine Währungsreform mit der Wiedereinführung nationaler Währungen, die große politische Veränderungen nach sich ziehen würde. Es bleibt zu hoffen, dass derzeit „notleidende“ Eurostaaten es schaffen, mit zusätzlichen Euro Kapital-Reformen zu finanzieren, die langfristig diese Staaten in ruhiges Fahrwasser mit stabilen Schiffen bringen.

(4) Hat die EZB-Aktion das Potential, politische Veränderungen nach sich zu ziehen?
Politische Bewegungen sind seit Langem verstärkt zu beobachten, da es seit 2008 nicht oder nur unzulänglich gelungen ist, die lang anhaltenden ökonomischen Krisensituationen  „unter staatliche (politische) Kontrolle“ zu bringen. Am deutlichsten sind neue politische Bewegungen in Griechenland, Spanien und Frankreich zu erkennen. Derartige Bewegungen bieten kein einheitliches Bild hinsichtlich sozialer Orientierungen. Wohl in allen derzeitigen gesellschaftlichen Bewegungen kann zunehmende Unzufriedenheit mit der zunehmenden Differenzierung zwischen Arm und Reich beobachtet werden. Die EZB-Aktion wird vermutlich auch die derzeitige Diskussion über die Akkumulation des Reichtums in Großunternehmen und bei Großanlegern weiter „anheizen“. Zumal Unternehmen mit bewährten Namen um ihre Reputation besorgt sind, wenn ihre Produktstrategie und Investitionen von global operierenden Kapitaleignern kontrolliert werden. Der Verdacht mag sogar berechtigt sein, dass Großanleger EZB-Information besessen haben könnten, um mit Optionen für Währungs- und Aktientransaktionen „Investitionen“ durchgeführt haben.

(5) Können politischen Institutionen zusätzliche Aktionen mit dem Ziel initiieren, die Euro-Währung langfristig zu stabilisieren und für globale Handelstransaktionen attraktiv zu gestalten? Wie Vertreter führender politischer und ökonomischer Institutionen argumentieren, um die gegenwärtigen Krisensituationen nach unterschiedlichen Interessenlagen einzuschätzen und auch für ihre Interessen zu nutzen, lässt sich derzeit bei ihrem Treffen in Davos beobachten. Es würde einer international anerkannten, mit einem entsprechenden Mandat und Macht ausgestatteten Institution obliegen, das Wissen über globale Finanzströme zu erwerben und auf dem Laufenden zu halten, um alle Staaten in die Lage zu bringen, gemeinsame Konferenzen mit dem Ziel abzuhalten, gemeinsam ökonomische Interessen zu verfolgen, die keinem der beteiligten Staaten schaden. Die derzeit existierenden internationalen Institutionen wie EZB, Weltbank, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich oder Internationaler Währungsfond können nur versuchen, für anliegende Probleme kurzfristige Lösungen im Interesse der Kapitaleigner der internationalen Institutionen mit Hilfe existierender nationaler Institutionen zu verfolgen.


Vielleicht ist die Zeit reif für einen internationalen „New Deal“. Zur Erinnerung: Der New Deal war eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den Jahren 1933 bis 1938 unter US-Präsident Franklin Delano Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise durchgesetzt wurden. Er stellte einen großen Umbruch in der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte der Vereinigten Staaten dar. Die zahlreichen Maßnahmen wurden von Historikern unterteilt in solche, die kurzfristig die Not lindern sollten (englisch relief ‚Erleichterung‘), in Maßnahmen, welche die Wirtschaft beleben sollten (recovery ‚Erholung‘), und in langfristige Maßnahmen (reform ‚Reform‘). Unter relief fielen die Hilfen für die zahlreichen Arbeitslosen und Armen, unter recovery unter anderem die Änderung der Geldpolitik und unter reform zum Beispiel die Regulierung der Finanzmärkte und die Einführung von Sozialversicherungen (Wikipedia).

Schlussbemerkung (Bertal Dresen): Wie bei jeder politischen Diskussion so kommen auch hier Grundüberzeugungen zum Vorschein. Über die Rolle des Staates in der Wirtschaft kann man sehr verschiedener Meinung sein. Das hängt mit dem Bild zusammen, dass man vom Staatsbürger hat. Für die einen ist er vor allem wirtschaftlich selbständiger Akteur, für andere der Empfänger von Transferleistungen. Für viele Leute ist zu viel Staat von Übel, für andere ist der Staat der unverzichtbare Regulator. Das gilt für Nationalstaaten ebenso wie für überstaatliche Verbünde wie die EU. Dass wir oft Euro-Raum mit EU-Raum gleichsetzten, ist eine Ungenauigkeit, die nicht nur Engländer marginalisiert.

5 Kommentare:

  1. Heute schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:

    Die Kommentare von Peter Mertens halte ich für sinnvoll. Und man sollte wenigstens honorieren, dass die EZB aktiv wird, während alle anderen nur zuschauen.

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  2. Heute schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    Ende Januar hatte ich meine Zweifel geäußert, dass die Bereitstellung billigen Geldes durch die EZB etwas ändern könnte an den kritischen Situationen in einigen EU Ländern und auch wenig zur Stabilisierung des Euro beitragen kann. Die ökonomischen Profis sind ziemlich sprachlos geworden, bzw. haben schon lange nichts Wesentliches oder gar Konkretes zu Krisensituationen zu sagen. Nach unserer Kommunikation im Januar habe ich zusätzlich Sigmar Gabriel gebeten, mir seine Einschätzung der Situation mitzuteilen. Ich habe natürlich auch von der SPD nicht erwartet, dass sie sich konkret über derzeitige politische Bewegungen auf Grund ökonomischer Problemsituationen äußert. Wie alle anderen Institutionen ist auch diese wohl ziemlich ratlos. Ich wollte meine Einschätzung aber schwarz auf weiß und habe sie erhalten. Ich bin ziemlich sicher, dass auch CDU Eliten ziemlich ratlos sind. Die CSU bewegt sich deutlich nach rechts, um am rechten Rand zu "fischen". Ich will Ihnen die Antwort des SPD Büros nicht vorenthalten.
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    Lieber Sigmar Gabriel,

    nachdem die EZB Entscheidung gefallen ist, den Finanzmarkt mit einer unglaublichen Menge zusätzlicher Euro auszustatten, stellen sich für den ökonomischen Laien ein paar wichtige Fragen:

    (1) Wozu werden die zusätzlich verfügbaren Euro verwendet werden?
    (2) Wer ist bereit, zusätzliche reale Investitionen in Unternehmen und privat vorzunehmen?
    (3) Wie wird sich die EZB Aktion auf die Bevölkerung in verschiedenen EU Ländern auswirken?
    (4) Hat die EZB Aktion das Potential, politische Veränderungen nach sich zu ziehen?
    (5) Können politischen Institutionen zusätzliche Aktionen mit dem Ziel initiieren, die Euro Währung langfristig zu stabilisieren?

    Antworten zu diesen Fragen konnte ich weder Mitteilungen der EZB noch Aussagen ökonomischer Experten in der Presse entnehmen. Ich bin ziemlich sicher, dass mögliche Antworten zu diesen Fragen in SPD Gremien eine wichtige Rolle spielen. Sie könnten viele zukünftige Wahlentscheidungen beeinflussen. Vertrauensverlust in eine Währung verbunden mit der Sorge um die Sicherheit von Euro Besitzständen (z.B. Ersparnisse, Lebensversicherungen) haben das Potential, relativ schnell ganze Bevölkerungsgruppen politisch in Bewegung zu versetzen. Die gegenwärtigen politischen Umorientierungen in Griechenland (Syriza), Spanien (Podemos) und Frankreich (FN) sind kaum misszuverstehen.

    Lieber Sigmar Gabriel, ich bitte Sie, einem um politische Orientierung besorgten Mitbürger obige Fragen zu beantworten, so gut es möglich ist. Am Rande sei bemerkt, dass ich in Dresden aufgewachsen bin und dort studiert (Mathematik) habe. 1959 habe ich die DDR verlassen und konnte meinen Lebenslauf nach meinen Vorstellungen gestalten. Ich habe mich keiner Partei angeschlossen, habe aber bisher politische Ziele der SPD unterstützt. Ich bedanke mich im Voraus für Ihre Aufmerksamkeit und verbleibe mit freundlichen Grüßen

    Peter Hiemann

    P.S. Mir scheint, dass EZB Entscheidungen wohl nicht nach demokratischen Prinzipien getroffen werden. Wenn doch, könnten wesentliche Gründe der Entscheidungen, die alle betreffen, öffentlich gemacht werden.

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    1. Sehr geehrter Herr Hiemann,

      vielen Dank für Ihre Fragen. Sie sprechen ein kompliziertes Thema an, auf dass ich versuchen will, Ihnen in der gebotenen Kürze so klare Antworten wie möglich zu geben.

      (1) Wozu werden die zusätzlich verfügbaren Euro verwendet werden?
      Die als „quantitative easing“ bezeichnete geldpolitische Strategie der EZB zielt im Kern darauf ab, die Inflationserwartungen anzuheben, um sie wieder in die Nähe des Zieles von knapp zwei Prozent zu bringen. Das hat indirekt auch etwas mit der Deflationsgefahr in Europa zu tun, richtet sich aber primär zunächst an die Inflationserwartungen in der Bevölkerung. Die amerikanische Notenbank hat mit dieser Politik in den letzten Jahren Erfolg gehabt.

      Zu Ihrer Frage nach der Veröffentlichung der Gründe für die geldpolitischen Entscheidungen des EZB-Rates kann ich Ihnen übrigens mitteilen, dass die EZB von diesem Jahr eine Zusammenfassung der Beratung veröffentlicht. Wir begrüßen diesen Schritt zu mehr Transparenz.

      (2) Wer ist bereit, zusätzliche reale Investitionen in Unternehmen und privat vorzunehmen?
      Der Mechanismus des „quantitative easing“ soll über den niedrigeren Wechselkurs des Euro und steigende Aktienpreise die Unternehmen dazu bringen, verstärkt Investitionen vorzunehmen. Zugleich arbeitet das Bundeswirtschaftsministerium daran, zusätzliche Maßnahmen zu entwickeln, um die private Investitionstätigkeit in Deutschland anzukurbeln. Ähnliche Initiativen gibt es auch auf europäischer Ebene. Die SPD unterstützt dies.

      (3) Wie wird sich die EZB Aktion auf die Bevölkerung in verschiedenen EU Ländern auswirken?
      Die momentane Situation ist für Sparer natürlich ärgerlich. Die Politik der EZB zielt auch darauf ab, nach steigenden Inflationserwartungen auch die Zinsen wieder anheben zu können. Doch so bedauerlich das niedrige Zinsniveau für die Sparer im Augenblick ist – die Sorge der Menschen, die durch die Wirtschaftskrise ihre Arbeit verloren haben und in existenziellen Nöten sind, sollten wir gerade in Deutschland nicht vergessen.

      (4) Hat die EZB Aktion das Potential, politische Veränderungen nach sich zu ziehen?
      Die EZB-Aktion nicht direkt. Aber eine lang anhaltende wirtschaftliche Krise, wie wir sie in einigen Ländern im Süden Europas beobachten müssen, zeigt, wie die ökonomische Krise auf die Politik durchschlägt. Einige Veränderungen beobachten wir dabei mit Sorge, insbesondere das stärker werden der Parteien an den Rändern des politischen Spektrums. Deswegen versuchen wir alles, um die Krise auf nationaler und europäischer Ebene zu bekämpfen.

      (5) Können politischen Institutionen zusätzliche Aktionen mit dem Ziel initiieren, die Euro Währung langfristig zu stabilisieren?
      Wir haben, neben den Strukturreformen, die in einigen Ländern dringend notwendig sind (z.B. der Aufbau einer funktionierenden Steuerverwaltung in Griechenland), ein europäisches Investitionspaket vorangetrieben. Zugleich müssen wir mittelfristig versuchen, die ökonomischen Unterschiede zwischen den Euro-Ländern zu reduzieren. Wechselkursschwankungen zwischen Euro und anderen Währungen wie dem Dollar oder dem Yen sind jedoch normal.

      Viele Grüße, Judith Althaus

      Abteilung Internationale Politik
      Willy-Brandt-Haus
      Wilhelmstraße 141
      D-10963 Berlin

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  3. Gestern Abend schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Betrachte ich die neuen Berichte über die Draghi-Aktionen, so meine ich eigentlich zwei völlig unterschiedliche Ökonomieansätze zu erkennen.

    (1) Effekt-Ökonomie. Beispiele: Man senkt die Preise und hofft als Effekt eine Steigerung des Absatzes. Oder: Man pumpt über Banken Geld im Überfluss in die Wirtschaft (easy money) und hofft über einen niedrigen Zinssatz (Geld gibt’s wie Heu) auf ein Anspringen der Investitionen. Alles unter der Annahme "ceteris paribus", wie man gelehrt sagt, d.h., wenn alles andere konstant bleibt.

    (2) Die konstruktive oder die kalkulatorische Ökonomie. Sie ist projektorientiert. Das Projekt muss zusammengesetzt und berechnet (kalkuliert) werden. Denken wir an den Berliner Flughafen oder an die Elbphilharmonie.

    Was soll man mit niedrigen Preisen oder billigem Geld, wenn die entsprechenden Projekte fehlen. Dann aber: Wie soll man kalkulieren, wenn die Preis im Himmel sind und die Zinsen sich jenseits von Gut und Böse befinden. Man sagt klassisch effekt-ökonomisch (1) "Die Pferde sind zur Tränke geführt, aber sie saufen nicht" (Strauß/ Schiller oder Plisch und Plumm). Man sieht die Projekte nicht. Dann unter (2) Debakel wie z. B. BER oder Elbphilharmonie (um den Faktor 3 teurer als ursprünglich kalkuliert). Es ist unsinnig, beide ökonomische Ansätze zu trennen, was ich Herrn Draghi vorwerfe.

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    1. Ich bin zwar volkswirtschaftlicher Laie, versuche dennoch grob zu verstehen, was da abläuft.

      In meinen Augen betreibt die EZB keine projektbasierte Ökonomie. Dafür sind andere da, die Unternehmen und die Regierungen. Sie betreibt ausschließlich Effekt-Ökonomie. Manchmal nennt man das auch Globalsteuerung.

      Beim Fluten des Euroraumes mit Geld habe ich den Eindruck, dass man lediglich versucht die Fed, die US-Notenbank, nachzuahmen, Sie scheint mit ihrer Politik des billigen Geldes die US-Wirtschaft erfolgreich aus der Talsohle gebracht zu haben. Dass die Geldpolitik die Ursache war, mag jedoch eine Selbsttäuschung von Währungshütern sein. In Wirklichkeit führte die exzessive Nutzung von Schieferöl (engl. fracking of shale gas) die USA in einen unerwarteten Boom. Dummerweise haben Europäer Angst vor Fracking. Die europäischen Währungshüter glauben deshalb daran, dass der Aufschwung in den USA auch von der Zinspolitik ihrer Kollegen beeinflusst sein müsse. Sie konstruieren aus einer Koinzidenz eine Kausalität, die überhaupt nicht vorhanden sein muss. Anders gesagt, man dreht halt an den Schrauben, die man hat. Eine andere Analogie ist der Betrunkene, der seinen verlorenen Hausschlüssel im Lichtkegel einer Straßenlaterne sucht, nicht weil er vermutet, dass er dort sein könnte. Nur dort hat er Licht.

      Man kann Währungshüter auch mit Autofahrern im Nebel vergleichen. Es gibt keine leitende Theorie, die hilft, aber anhalten kann man auch nicht. Also fährt man langsam. Aus makroökonomischer Sicht hat Geld bekanntlich die Rolle eines Schmiermittels. Hält man es zu knapp, kann es zum Kolbenfresser kommen (den kenne ich persönlich, ist unangenehm). Bei zu viel Liquidität kommt es zu Verschiebungen im Gebälk, auch Inflation genannt. Diese Verschiebungen, auch Umstrukturierungen genannt, sind ohnehin unvermeidbar, ja sogar erwünscht, sagen die Ökonomen (!!). Nur müssen sie langsam erfolgen. Im Moment sind Dollar, Pfund und Schweizer Franken härter als der Euro. Wegen der Südländer ist der Euro leider eine Weichwährung geworden, die man als Externer meiden sollte.

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