Donnerstag, 11. Februar 2016

Als Wessi an einer Ost-Universität kurz nach der Wende

Von Oktober 1992 bis März 1993 war ich nach meiner Frühverrentung als Lehrstuhlvertreter an der Universität Rostock tätig. Im Folgenden fasse ich Eindrücke zusammen, die ich während dieser Zeit über diese ostdeutsche Stadt und ihre Umgebung gewann. Die Bemerkungen über die Universität Rostock werden ergänzt durch Hinweise auf das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der Stadt Rostock. Ich hatte diesen Artikel im Jahre 1993 geschrieben, um ihn in einer süddeutschen Tageszeitung zu veröffentlichen. Es kam jedoch nicht dazu. Der Beitrag verfolgte das Ziel, Verständnis zu wecken für die derzeitige Situation dieser Region und ihrer Menschen und damit das Zusammenwachsen zwischen alten und neuen Bundesländern zu fördern. In einem Nachtrag ergänze ich den Bericht mit einigen Details aus heutiger Sicht.

Universität im Übergang

Die Rostocker Universität wurde im Jahre 1419 gemeinsam von dem Herzog von Mecklenburg und dem Bischof von Schwerin gegründet. Sie gehört damit zu den ältesten Universitäten Deutschlands. Die stark mit dem Schicksal der Hansestadt Rostock verbundene und von ihr finanziell gestützte Universität gilt außerdem als die älteste Universität Nordeuropas. Ihr aus dem Jahre 1867 stammendes Hauptgebäude liegt mitten in der Innenstadt, am schönsten Platz der Stadt. Ihr fachlicher Schwerpunkt lag traditionell auf den Gebieten der Geisteswissenschaften (Philosophie, Theologie, Jura, Wirtschaftswissenschaft), der Naturwissenschaft (Mathematik, Physik) und vor allem der Medizin. Erst während der DDR-Zeit kamen die Fächer Schiffstechnik und Agrarwissenschaft dazu.

Wie alle ostdeutschen Universitäten durchlief auch Rostock nach der Wende, also nach der Auflösung der DDR, eine turbulente Phase der Umwandlung. Für gewisse Fachbereiche, wie Jura und Wirtschaftswissenschaft, wurde der gesamte Lehrkörper entlassen und durch Wissenschaftler aus Westdeutschland ersetzt. Für die anderen Fachbereiche erfolgte die personelle Erneuerung im Rahmen eines mehrstufigen Verfahrens. In der ersten Stufe beurteilte eine aus örtlichen Vertretern zusammengesetzte Ehrenkommission das politische Verhalten in der DDR-Zeit. Wer hierbei als unbescholten eingestuft wurde, musste sich anschließend einem berufungsähnlichen Verfahren unterziehen, in dem von einem stark von westdeutschen Professoren beeinflussten Gremium die wissenschaftliche Qualifikation festgestellt wurde. Abhängig von dem Ergebnis dieser Bewertung konnte man sich dann auf die übrig gebliebenen Planstellen bewerben.

Inzwischen ist dieser über drei Jahre dauernde schmerzhafte Prozess weitgehend abgeschlossen und eine neue Personalstruktur geschaffen, die nur noch durch einzelne Berufungen ergänzt wird. Dieser Weg war unvermeidbar, da nur so das Vertrauensverhältnis zwischen den Kollegen und der wissenschaftliche Ruf als Universität wiederhergestellt werden konnte. Nach der Maxime des Rostocker Rektors gelten fortan wieder fachliche Kompetenz und persönliche Integrität als allein ausschlaggebende Kriterien für eine Laufbahn an seiner Universität.


Abb. 1: Uni-Hauptgebäude

Die Universität Rostock ist die größte Universität innerhalb des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern und hat nach der Wende einige andere Einrichtungen wie etwa die bekannte Hochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow integriert. Die Universität hat ganz deutlich unter den wirtschaftlichen Beschränkungen dieser Region zu leiden. Dies drückt sich einmal darin aus, dass Mittel aus dem Landeshaushalt sehr spärlich fließen, wenn es darum geht die einzelnen Studiengänge und Fachbereiche mit den nötigen Planstellen zu versehen, es zeigt sich aber auch bei der Bereitstellung von Mitteln für Reisen (einschl. Tagungen und Fachveranstaltungen) und Anschaffungen. Gerade das Problem der Reisemittel wird als sehr belastend angesehen. Die meisten der übernommenen Hochschullehrer sind solche, die zu DDR-Zeiten aus politischen Gründen nicht reisen durften (nur system­treue Wissenschaftler gehörten zum sogenannten Reisekader). Jetzt dürfen sie zwar, können aber nicht wegen finanzieller Beschränkungen. Dies fördert natürlich nicht den Gedankenaustausch mit den Kollegen in Westdeutschland und dem westlichen Ausland und die fachliche Gleichstellung innerhalb Deutschlands.

Eine gewisse Unsicherheit ergibt sich für die Universität auch daraus, dass sich das Studierverhalten der Studenten wandelt. Zu DDR-Zeiten wurden Gymnasiasten von staatlicher Seite sehr stark dahingehend beeinflusst, genau die Studien­richtungen und Studienorte auszuwählen, die von der wirtschaftlichen Planung eingerichtet waren. Diese Art der Regelung fällt heute weg. Als Beispiel sei auf die Schiffstechnik verwiesen. Dieser Studiengang spielte zur DDR-Zeit eine große Rolle für die Region, da Rostock das Zentrum der ostdeutschen Werften war. In dieser Branche waren über 100.000 Beschäftigte tätig. Heute ist die schlechte Beschäftigungslage in diesem Industriezweig eines der Hauptprobleme der Region. Die verminderten Berufsaussichten wirken sich auf die Nachfrage nach dem Studiengang Schiffsbau aus. Da hilft auch nicht, dass die Universität Rostock über die bestausgestatteten Schiffsbau-Versuchsbassins ganz Europas verfügt.



Abb. 2: Am Warnow-Ufer

Im Falle der Universität Rostock kommt erschwerend hinzu, dass die meisten ihrer Gebäude sich zwar in guter stadtnaher Lage befinden, dass die bauliche Substanz aber sehr herunter gekommen ist. Hier sind Investitionen größeren Ausmaßes erforderlich. Der Rektor, die Gründungsdekane der einzelnen Fakultäten und viele der übernommenen oder neuberufenen Professoren und Mitarbeiter, betreiben den schwierigen Umwandlungsprozess von einer sozialistischen Kaderschule zu einer Stätte freier Lehre und Forschung mit teilweise aufopferndem Einsatz. Ihnen ist zu wünschen, dass ihre Arbeit Erfolg hat und nicht noch durch von außen hereingetragene Probleme erschwert wird. Die Verwaltungsorgane der Universität sind sehr bemüht sich mit den für sie neuen Regelungen und Vorschriften vertraut zu machen, die im Wesentlichen aus Westdeutschland übernommen wurden.

Die Studenten stehen ihren westdeutschen Kommilitonen nicht nach, wenn es um fachliche Aufgeschlossenheit, Leistungen in den Lehrveranstaltungen oder Mitarbeit in der studentischen Selbstverwaltung geht. Was in den Diskussionen mit mir natürlich besonders interessierte, waren Fragen nach der Situation der westdeutschen Studenten und den beruflichen Möglichkeiten nach Abschluss des Studiums. Ich stellte auch ein überdurchschnittliches Interesse für Industriepraktika im Westen oder für Auslandsstudien fest, etwas was mich nicht wunderte. Ist es doch eine natürliche Reaktion auf die lange Zeit der Isolierung.

Gesellschaft im Wandel

Das vorrangigste Problem des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist die hohe Arbeitslosenrate. Sie liegt im Landesdurchschnitt bei 17%, in einigen Orten geht sie sogar hoch bis zu 24%. Dieses Problem wird am häufigsten genannt, wenn über die sozialen Folgen der Wende gesprochen wird. Zur DDR-Zeit gab es dieses Problem angeblich nicht. Alle Leute wurden beschäftigt, auch wenn der Betrieb eigentlich weitere Stellen nicht benötigte. Rentabilität spielte ja keine Rolle. Obwohl im jetzigen Sozialsystem die Sorge um  die materielle Existenz entfällt, stellt Arbeitslosigkeit für den einzelnen dennoch eine große  psychologische Belastung dar, an der manche zerbrechen können. Wegen der eindeutigen Ausrichtung auf den Schiffsbau gibt es in Rostock ganze Stadtteile, für die Arbeitslosigkeit das vorherrschende Thema darstellt. 

Dass versucht wird, den Übergang nicht zu krass werden zu lassen, zeigte das Universitätsinstitut, an dem ich arbeitete. Hier wurden ein halbes Dutzend nicht-wissenschaftlicher Mitarbeiter weiterbeschäftigt, die zu DDR-Zeiten für die Selbstversorgung des Instituts unentbehrlich waren, deren Dienstleistungen man aber heute eher von externen Firmen beziehen würde, nämlich Pförtner, Schlosser, Gärtner, und dgl.

Fast im gleichen Atemzug mit der Arbeitslosenrate wird von besorgten Bürgern auf das Problem der wachsenden Kriminalität verwiesen. Sie mag zum Teil ihren Grund in der großen Arbeitslosigkeit haben, hat ihn aber sicher auch in einer gewissen Orientierungslosigkeit und falschverstandenen Freiheit. Besonders Jugendliche waren früher durch Schule, staatliche Jugendorganisationen, Sport und Wehrdienst sehr stark in ein Netz gesellschaftlicher Beziehungen eingebunden. Vieles davon fiel auf einen Schlag weg. Unterlagen früher alle, die nicht selbst Teil des DDR-Machtapparates waren, denselben Einschränkungen und Entbehrungen, so tritt jetzt der Wunsch auf sich abzusetzen und zu profilieren.

Mit einem Anflug von Verzweiflung erzählte mir die Leiterin einer Realschule, welche Probleme sie mit Jugendlichen hat. Nach jedem Wochenende darf sie Fensterscheiben und Türen an ihrer Schule reparieren lassen, die von ihren eigenen Schülern mutwillig zerstört wurden. Stolz zeigen Schüler im Unterricht die aus einem naheliegenden Einkaufszentrum entwendeten Artikel. Im Gegensatz zu früher hätten die Lehrer heute keinerlei Macht. Im DDR-System waren Schüler auf ihre Lehrer angewiesen, wenn sie eine Lehrstelle oder einen Studienplatz haben wollten. Andererseits wurden Lehrer zur Verantwortung gezogen, wenn Schüler aus der Reihe tanzten. Jetzt ist alles Sache der Eltern und diese sind selbst verun­sichert und haben ihre eigenen Probleme. Dabei ist unser westdeutsches Elternrecht für sie ein aufgestülpter Begriff, mit dem sie keine Erfahrung haben, und nicht alle Lehrer wissen, wie sie mit ihrer neuen Rolle fertig werden sollen.

Mein Rat, die marodierenden Schüler anzuzeigen und ihnen „die Zähne des Rechtsstaats“ zu zeigen, stieß auf wenig Gegenliebe. Der Einwand, die fallen doch unter das Jugendrecht und kommen ungeschoren davon, verriet eine gewisse Hilflosigkeit. Wie schnell man sein Rechtsempfinden ändert, bewiesen ja auch Besucher aus dem Westen. „Bei uns parken sie auf Rasenstreifen, etwas was sie zuhause nicht tun würden“ hieß es. Nicht selten hört man auch die schon fast nostalgisch klingende Bemerkung: „Früher zur DDR-Zeit herrschte Ordnung, da gab es genug kontrollierende Volkspolizisten, an die man sich wenden konnte“. Dass diese Ordnung die Ordnung eines Polizeistaates war, wird oft vergessen.

Lichtenhagener Krawalle

Man kann heute kaum noch über Rostock reden, ohne nicht auf die Ereignisse des August 1992 einzugehen. Seither wird Rostock von vielen Außenstehenden gleichgesetzt mit Fremdenhass und Rechtsradikalismus, ein Image, gegen das sich jeder Rostocker, den ich kennen lernte, vehement wehrt. Lichtenhagen ist eine der großen Trabantenstädte im Norden von Rostock, die während der DDR-Zeit aus dem Boden gestampft wurden, um für die vielen Arbeiter und Angestellten, die in der Schiffsbauindustrie eingesetzt wurden, Wohnraum zu schaffen. Wegen der Bedeutung des Schiffsbaus für die DDR gehörten Werftarbeiter zu einer privilegierten Berufsgruppe. Heute ist der größte Teil von ihnen arbeitslos und manche leiden unter einem Gefühl des Selbstwertverlusts. Der ganze Stadtteil besteht aus einheitlichen, in der berühmten DDR-Plattenbauweise errichteten Wohnblöcken. Ein Dorf Lichtenhagen liegt außerhalb der Siedlung und besteht aus einer kleinen Kirche und einigen Bauernhäusern.

Mitten in dieser Siedlung befand sich in einem der Wohnblocks die Zentrale Aufnahmestelle des Landes für Asylbewerber. Ihre Kapazität reichte vielleicht für 500 Menschen, das Gebäude war aber bereits mit über 1000 Personen belegt, und ein Abreißen des Zuwandererstroms war nicht abzusehen. Die meist aus Vietnam stammenden Einwanderer begannen nach und nach im Freien zu kampieren und den Siedlungskern in Beschlag zu legen. „Sie bettelten und lärmten, liebten sich und belästigten Frauen und Kinder, die Grünflächen versanken in Unrat und Kot“, berichtet ein Anlieger. Eingaben der Nachbarn an die Stadtverwaltung und das Land blieben unbeantwortet. Mit Zeitungs­anzeigen kündigten Bürgerinitiativen an, dass sie, wenn die Behörden nicht reagieren werden, das Problem auf ihre Art lösen würden.


Abb. 3: Ansteckplakette der Gegendemonstration

An den Demonstrationen und Krawallen der ersten Abende, so sagten mir Augenzeugen, waren primär Rostocker Jugendliche beteiligt. Ihr Protest sei eher gegen das Versagen der Behörden, also des Staates, als gegen die Ausländer gerichtet gewesen. Einige der Anwohner, davon wurde dank des Fernsehens die ganze Welt Zeuge, spendeten dabei offensichtlich Beifall. An den folgenden Tagen hätten dann Rechtsradikale aus Berlin und Hamburg das Geschehen bestimmt. Die Ungeschicklichkeit der Polizei und des verantwortlichen Innenministers, der inzwischen seinen Hut nehmen musste, hat die Situation noch verschlimmert.

Inzwischen steht ein leerer Wohnblock mit ausgebrannten Fenstern als Menetekel mitten in Lichtenhagen. Die Aufnahmestelle für Asylbewerber wurde in eine frühere Kaserne der Volksarmee 10 km außerhalb von Rostock im Wald von Hinrichshagen verlegt. Sie ist mit einem Maschenzaun umgeben und wird von Grenzschützern bewacht. Eine Lösung des Asyl-Problems ist damit zwar nicht er­reicht, die unmittelbare Auswirkung auf die Stimmung in der Bevölkerung (die „soziale Brandgefahr“) ist jedoch abgewendet. Leider sind schlim­mere Exzesse als die von Rostock inzwischen auch anderswo zu beklagen. Zu Beginn des Wintersemesters 1992 fand eine Gegendemonstration in der Stadt Rostock statt, an der ich mit einigen Kollegen zusammen teilnahm. [Eine ausführliche Beschreibung der Lichtenhagener Krawalle gibt es bei Wikipedia]

Aufschwung der Wirtschaft

Trotz aller Klagen sind die Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht zu übersehen. Bei einem ersten Besuch in Rostock vor zwei Jahren fielen mir außer den Tiefbauarbeiten der Telekom vor allem die Provisorien der Banken auf. In­zwischen gibt es fast in jeder Straße einige Häuser, die renoviert sind.



Abb. 4: Renoviertes Lagerhaus

Zum größten Teil handelt es sich dabei um Geschäftshäuser, besonders Banken, Reisebüros und Versicherungs-Agenturen, ab und zu ist aber auch schon ein Wohnhaus dabei. Immer noch scheint ein gewisser Nachholbedarf an Konsumgütern zu bestehen. Das erklärt, warum sich alle Angebote von Haushaltsartikeln, Kleidung und Schuhen großer Aufmerksamkeit erfreuen. Die Preise erschienen mir niedriger als bei uns in Süddeutschland. Sie scheinen dem Lohnniveau angepasst zu sein, das im öffentlichen Bereich zur Zeit 65% des westdeutschen Tarifs ausmacht. In der Vor­weihnachtszeit glich die gesamte Innenstadt Rostocks einem riesigen Weih­nachtsbazar.

Die Jahrmarktaussteller aus der ganzen Bundesrepublik schienen sich dort zu treffen. Die Anzahl der Restaurants für eine Stadt der Größe Rostocks ist immer noch gering. Es kommen aber fast wöchentlich neue dazu. Sie bieten eine Vielzahl lokaler Gerichte, wobei Fischgerichte wegen der Küstenlage eine besondere Rolle spielen. Besonders groß ist der Mangel an Hotelzimmern. Die wenigen dem west­lichen Niveau angepassten ehemaligen Interhotels (Neptun, Warnow) ver­langen Preise, die sich nicht einmal alle Geschäftsreisenden aus dem Westen leisten können. Eine Besonderheit Rostocks ist ein im Hafen fest verankertes russisches Hotelschiff, das einige Hun­dert Betten anbietet. Einige erschwingliche Hotels gibt es auch, sowie eine große Anzahl guter Privatzimmer.

Nichts drückt den wirtschaftlichen Wandel auffallender aus als die Explosion des Autoverkehrs, der über die Stadt hereinbrach. Jeden Morgen und Abend staut sich der Berufsverkehr an den Einfallstraßen zur Stadt und auf den wichtigsten inner­städtischen Verkehrsadern. Der ruhende Verkehr belegt jede mögliche und unmögliche freie Stelle in der Stadt. Die Grünflächen um die Wohn­siedlungen fielen ihm größtenteils zum Opfer. Gleichzeitig Folge oder Grund der Motorisierung sind die Supermärkte auf der grünen Wiese.

Dass die Stimmung bei den Ostdeutschen dennoch sehr negativ ist, ist sicherlich auf zum Teil überzogene Erwartungen zurückzuführen. Man kannte die Bundesrepublik primär aus dem Fernsehen und leitete daraus seine Vorstellungen ab, was die Gleichheit der Lebensbedingungen anbetraf.



Abb. 5: Supermarkt Aldi

Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass die Erwartungen an die Mög­lichkeiten des Staates in die Wirtschaft einzugreifen, überbewertet wurden. Ich hatte Gelegenheit den Oberbürgermeister der Stadt zu fragen, was seiner Ansicht nach den Auf­schwung am meisten behinderte. Seine Antwort: „Die 50.000 Verfahren, die allein in Rostock anhängig sind, um die Eigentumsfrage am Grundbesitz zu klären“. Es ist nicht anzunehmen, daß dieses Problem sich mit einem Federstrich lösen lässt.

Kultur und Landschaft

Für eine Stadt ihrer Größenordung (200.000 Einwohner) bietet Rostock eine erstaunliche Vielfalt an kulturellen Einrichtungen. Einen hohen Stellenwert im Bewusstsein der Rostocker haben seine Theater. Bereits an meinem ersten Tag hatte ich Gelegenheit mich an einer Unterschriftensammlung zur Erhaltung der Oper zu beteiligen. Sowohl im Großen wie im Kleinen Haus des Theaters konnte ich je eine hervorragend gelungene Vorstellung besuchen.

Dass eine dieser Aufführungen dem angeblichen Verständigungsproblem zwischen West- und Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung gewidmet war, hatte seinen besonderen Reiz. Es handelte sich um das Stück „Doppeldeutsch“ von Harald Mueller, das in Rostock uraufgeführt und bisher noch von keiner anderen deutschen Bühne übernommen wurde. Die Vereinigung einer westdeutschen mit einer ostdeutschen Firma, gefeiert im Klubhaus eines Golfplatzes in Mecklenburg-Vorpommern, ist der Anlass, bei dem der Autor die Empfindlichkeiten von westdeutschen Erfolgstypen und ostdeutschen Verlierern aufeinandertreffen lässt. Obwohl die Dialoge nur so von hintergründigen Bemerkungen sprudelten, ging man allerdings etwas subtiler miteinander um als bei Wolfgang Menges „Motzki“ [einer Fortsetzungsserie in der ARD].

Ein Erlebnis besonderer Art war ein Konzert von Studenten des Instituts für Musikwissenschaft der Universität, die für die Darbietung ihrer Fertigkeiten und Talente den Barocksaal des herzoglichen Palais benutzten konnten. Auch von den Orgelkonzerten in der größten Kirche der Stadt, der gotischen Marienkirche, scheinen viele Rostocker begeistert zu sein. Beeindruckt hat mich auch das kulturhistorische Museum im ehemaligen Kloster zum Hl. Geist, das neben vielen historischen Bildern und Relikten gerade eine Ausstellung über einen berühmten Sohn der Stadt, nämlich den Napoleon-Bezwinger Gebhard Leberecht von Blücher zeigte. Dem maritimen Erbe der Stadt ist das Schifffahrtsmuseum gewidmet, das die Ent­wicklung der Seeschifffahrt von ihren historischen Anfängen bis in die Tage der DDR-Kriegsflotte illustriert. Es hat mich nicht verwundert, dass ich immer wieder Rostocker traf, die mit Begeisterung und Stolz von ihrer Stadt sprachen. Zwar fühlte sich Rostock übergangen, als es darum ging, wer Landeshauptstadt wird, Rostock oder Schwerin. Ich kann mich des Eindrucks jedoch nicht erwehren, dass man dies wettmacht durch eine „Jetzt erst recht“-Einstellung, die keinen Zweifel lässt, wo das intellektuelle und kulturelle Zentrum dieses Landes liegt.

Bezüglich der Geographie Mecklenburg-Vorpommerns denkt man zuerst an die Insel Rügen und an die mecklenburgische Seenplatte. Beides sind Juwele in der deutschen Landschaft. Rügens Kreidefelsen bei Stubbenkammer hat der Maler Caspar David Friedrich bereits vor über 150 Jahren verewigt. Sie sehen heute noch haargenau so aus wie damals. Die Seen von Plau, Müritz und Krakow sind Oasen der Ruhe, ähnlich den Seen Finnlands.



Abb. 6: Alleenstraße

Einmalig sind auch die langen Baumalleen, wie sie sich an vielen Stellen des Landes finden, oder die Türme und Fassaden in nord­deutscher Backstein-Gotik, etwa in Grimmen, Demmin und Stralsund. In unmittelbarer Nähe zu Rostock bestechen mehrere bekannte Badeorte mit herrlich weiten Stränden, allen voran Warnemünde (das zu Rostock eingemeindet wurde). Aber auch Graal-Müritz, Heili­gendamm und Kühlungsborn besitzen einen unverwechselbaren Charme. Selbst im Winter sind Strandwanderungen hier eine willkommene Erholung. Die herrlichen Pinienwälder würzen mit ihrem Duft die Brise, die vom Meer kommt. Heiligendamm gilt übrigens als das älteste aller deutschen Ostseebäder und feiert in diesem Sommer den 200. Jahrestag seiner Gründung durch den mecklenburgischen Herzog.

Da zur DDR-Zeit ein großer Teil der Halbinsel Darß für die Parteiprominenz als Feriengebiet reserviert oder als Hafenanlage für Patrouillenboote angelegt war, sind wir heute in der glücklichen Lage, dass es dort kilometerlange Küstenzonen gibt, die sich als wahre Naturlandschaften mit seltener Pflanzen- und Vogelwelt darbieten.


Abb. 7: Darßer Ort

Ein Teil dieses Gebiets (Darßer Ort bei Prerow) wurde inzwischen zu einem Nationalpark erklärt, wodurch der Zersiedlung ein Riegel vorgeschoben wurde. Dennoch steht reichlich Fläche zur Verfügung, die Erholungs­suchenden eine weitgehend unberührte Küsten- oder Boddenlandschaft bietet. Ein Abstecher zum Dom von Bad Doberan oder zum Bernstein-Museum in Ribnitz-Damgarten ist dann geboten, wenn das Wetter mal nicht ganz mitspielt.

Bleibender Gesamteindruck

Rostock ist mehr als nur eine Reise wert. Die alte Hansestadt hat viel zu bieten. Sie ist ein attraktives Zentrum im deutschen Norden, das Hamburg, Bremen und Lübeck kaum nachsteht. Es ist eine Stadt mit alter Tradition, mit einem starken Lebenswillen und umgeben von einer Landschaft, die ihresgleichen sucht. War diese Umgebung schon im Winter ein Genuss, wie viel reizvoller wird sie erst im Sommer sein. Dann kommen auch die Segler, die Campingfreunde und alle andern Freizeit- und Badegäste voll auf ihre Kosten. Wirtschaftlich und sozial gesehen geht die Stadt durch eine schwierige Phase. Zu allem Unglück hat sie auch noch ein Image-Problem dazu bekommen, was vielleicht dazu führt, dass einige meinen, diese Stadt meiden zu müssen. Damit aber geschieht Rostock Unrecht. Deshalb ist jeder Besucher eine Ermutigung und eine Hilfe.

Nachtrag Februar 2016

Der obige Bericht fasst Eindrücke zusammen, wie sie 1993 bei mir bestanden. Sie sind durch das unmittelbare Erleben gefärbt. Zwei Jahrzehnte später fallen mir noch einige andere Dinge ein, wenn ich an Rostock zurückdenke. Ich will sie stichwortartig beschreiben.
  • Meinen Aufenthalt in Rostock verdankte ich Karl Hantzschmann, dem langjährigen Dekan der Rostocker Informatik. Wir sind heute, auch nach seiner Emeritierung, noch im freundschaftlichen Kontakt. Zu den übrigen Professoren des Fachbereichs, entstand ein teils herzliches, teils kühles Verhältnis. Mit allen neuberufenen Kollegen und den 4-5 übernommenen Professoren, die die Evaluierung ohne Probleme überstanden hatten, hatte ich sofort einen kollegialen Umgang. Mir war das Büro und das Sekretariat eines der früheren Koryphäen der Fakultät zugewiesen worden, der nicht übernommen worden war. Als Computer-Grafiker war er an strategisch wichtigen Projekten des DDR-Schiffbaus beteiligt gewesen. Tauchte er im Institut auf, war er höflich und verbindlich. Nach seinem Besuch brach seine frühere Sekretärin schon mal in Tränen aus. Bei 2-3 Kollegen musste ich mich zurückhalten. Sie neigten dazu, die jetzigen Verhältnisse eher kritisch zu sehen. Einer, mit dem ich öfters zusammentraf, konnte partout nicht verstehen, dass jetzt ein Theologe das Kultusministerium leitete.
  • Der Rektor der Universität und die Verwaltung gaben sich echt Mühe, mir entgegenzukommen und mir zu zeigen, dass ich willkommen war. Dass alle gehaltlichen Fragen und alle Spesenabrechnungen über eine Stelle im fernen Neubrandenburg liefen, wunderte mich zwar, aber es funktionierte.
  • Die Studierenden beeindruckten – wie im Bericht ausgeführt – durch Interesse am Stoff und durch Aufgeschlossenheit gegenüber Fragen des Arbeitsmarkts und der Karriere. Eine einzige Klausur machte mir Ärger. Ein Student und eine Studentin, die ich immer zusammen gesehen hatte, hatten exakt dieselben Fehler in der Klausur. Ich schloss daraus, dass sie voneinander abgeschrieben hatten. Ich fragte den Vorsitzenden der Prüfungskommission, was ich machen sollte. Der schlug vor, beiden die Note ‚Ungenügend‘ zu geben. Als ich dies den beiden Prüflingen mitteilte, schauten sie mich groß an. Sie seien dazu erzogen worden, alles im Kollektiv zu machen, hielten sie mir entgegen. Der Wessi-Professor war jedoch nicht bereit, dies als Entschuldigung gelten zu lassen
  • Bei den Angestellten des Rechenzentrums, der technischen Dienste und der Bibliothek hatte ich einen Stein im Brett. Ich konnte sehr leicht dringend benötigte Programme oder Bücher besorgen. Der Institutsbibliothek stiftete ich rund 100 Bücher. Es waren dies Freiexemplare von Verlagen oder Dupletten aus der Firmenbibliothek. Als ich wegging, lud mich die Leiterin der Institutsbibliothek zu einem Kerzenfrühstück in der Bibliothek ein. Der Tisch war nur für zwei Personen gedeckt. Das übrige Personal der Bibliothek war nicht eingeladen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte die Bibliothekarin, dass ihr Gatte als Kapitän zu See fahre und sie daher viel allein sei. Bei meiner Frau und einigen Kollegen, denen ich dies erzählte, kam der Verdacht auf, dass meine häufigen Bibliotheksbesuche mehr als nur fachliche Gründe hatten.

5 Kommentare:

  1. Sehr amüsant dieser Bericht. Sie hatten auch mir einen Lehrauftrag vermittelt und ich erinnere mich gerne an die Diskussion mit den Studierenden. Sie erschienen mir wesentlich fitter als z.B. ihre überwiegend frustrierten Kollegen an der BA in Stuttgart. Als sehr unangenehm aber habe ich den Kontakt mit der Polizei in Warnemünde in Erinnerung, wo ich einmal gewohnt habe. Leider treffe ich ähnliche Typen auch heute immer noch bei der Deutschen Bahn.

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  2. Sehr interessanter, persönlicher Bericht!

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  3. Klaus Küspert aus Jena schrieb:

    ich hätte das eine oder andere vielleicht etwas mehr "weichgespült" formuliert, aber es stellt sicher die damalige Situation insgesamt recht gut dar.

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  4. Klaus Küspert aus Jena schrieb:

    die interessiertesten, konzentriertesten, wissbegierigsten Studenten, die ich je hatte, waren jene in meiner Lehrveranstaltung (Lehrauftrag, damals noch als IBMer) im Februar 1991 an der TU Chemnitz: "Implementierung von Datenbanksystemen" - inhaltlich angelehnt an das entsprechende Buch (1. Auflage) von Theo Härder. Die Veranstaltung - nun vor exakt 25 Jahren - wurde ermöglicht noch durch das Programm "Hochschulförderung DDR" aus dem Wiedervereinigungsjahr 1990. Ihr tatsächliches Zustandekommen war ja nur knapp danach.

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  5. Karl Hantzschmann aus Dresden schrieb:

    Ja so war das damals! Schade, dass Sie Ihren Text damals nicht in die Öffentlichkeit gebracht haben. Da ich zwar nicht mehr in Rostock lebe, aber immer noch jedes Jahr wenigstens einmal dort aufkreuze, ist man natürlich sehr erfreut, was sich in der historisch kurzen Zeit so alles getan hat. Vieles würden sie heute gar nicht mehr wiedererkennen. Aber es bleibt natürlich auch immer noch viel zu tun. Mecklenburg-Vorpommern gehört ja nun mal nicht zu den stärksten Ländern im Osten.

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