Sonntag, 22. Mai 2016

ACM-Präsident ehrt Gerhard Schimpf

Alexander Wolf, der Präsident der Association for Computing Machinery (ACM) hat Gerhard Schimpf, den langjährigen Vorsitzenden der deutschen Sektion (engl. ACM German chapter) in besonderer Weise geehrt. Schimpf erhält den Preis des Präsidenten (engl. president’s award). Ich habe Gerhard Schimpf herzlich gratuliert. Der Preis wird im Juni bei einer Festveranstaltung in San Francisco verliehen werden. Hier der offizielle Ankündigungstext:



Gerhard Schimpf, ein ACM Fellow, der als Vorsitzender von ACM Europas Rat der Europäischen Chapter-Vorsitzenden dient, wurde „für seine Führerschaft bei der Unterstützung von ACMs Mission für die globale Expansion anerkannt, da er dabei half ACM Europa zu etablieren, ACMs Beteiligung am Heidelberg Laureate Forum (HLF) sicherzustellen und Studenten und Fachleute in ganz Europa vom Wert der ACM-Mitgliedschaft zu überzeugen." Schimpf ist seit mehr als vier Jahrzehnten für seine globale Sichtweise und sein unermüdliches Engagement für die ACM bekannt, stets bemüht durch seine Arbeit die Sichtbarkeit von ACM in ganz Europa zu erhöhen. Er war auch maßgeblich beteiligt an der Gewinnung von ACM als einer der Gründungsorganisationen des Heidelberg Laureate Forum. Er war ein führender Unterstützer der ACM Europa und diente im Jahr 2009 im ersten Rat der ACM Europa (engl. ACM Europe council). Das HLF, ein jährliches Treffen von Top-Studenten und führenden Wissenschaftlern auf unserem Fachgebiet, einschließlich der Gewinner des ACM-Turing-Awards, hat seit seinem Debüt im Jahr 2012 weltweit Anerkennung erfahren für sein außergewöhnliches Niveau.

(Englischer Originaltext): Gerhard Schimpf, an ACM Fellow who serves as Chair of ACM Europe's Council of European Chapter Leaders, was recognized for "his leadership in support of ACM's mission for global expansion by helping to establish ACM Europe, advocating ACM's involvement in the Heidelberg Laureate Forum, and enlightening students and professionals throughout Europe to the value of ACM membership." Schimpf is recognized for his global vision and tireless devotion to ACM for more than four decades, demonstrated by his work to increase ACM's visibility across Europe. He was a leading supporter of ACM Europe, serving on the first ACM Europe Council in 2009. He was also instrumental in making ACM one of the founding organizations of the Heidelberg Laureate Forum. The HLF, an annual gathering of top students and foremost scientists in the field, including ACM's Turing Award recipients, has received worldwide recognition for excellence since its debut in 2012.

ACM, IEEE und die GI

Über die generelle Rolle von Fachgesellschaften in der Informatik hatte ich im Februar 2011 in diesem Blog zum ersten Mal recht ausführlich berichtet. Fünf Jahre später brauche ich dem nicht allzu viel hinzuzufügen. Die GI hat einige Dinge verbessert, was die Kommunikation mit den Mitgliedern betrifft. Es gibt diverse Online-Dienste, größtenteils betrieben von einem privaten Verlagshaus (dem Springer-Verlag in Heidelberg). Der Vorstand und die Gremien der GI kämpfen seit eh und je mit dem Vorwurf, dass sie sich überwiegend aus Hochschulangehörigen zusammensetzten. Diese seien oft etwas isoliert von dem, was Praktiker interessiere oder was außerhalb Deutschlands passiere. In einem Interview für diesen Blog im September 2015 mit Peter Liggesmeyer, dem derzeitigen Präsidenten der GI, versicherte mir dieser mit großer Eindringlichkeit, dass auch hier die Dinge sich zum Besseren geändert hätten.

Die Mitgliederzahl der GI stagniert seit Jahren bei etwa 20.000. Das ist etwa die Zahl der jungen Menschen, die jährlich in Deutschland ein Informatik-Studium beginnen. Insgesamt gibt es mehrere 100.000 akademisch ausgebildete Informatiker in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie fühlen sich von der GI nicht angesprochen. Der beste Weg für Praktiker, um die GI zu verändern, ist es selbst aktiv zu werden.

Was ACM betrifft, wurden im Gefolge der Präsidentschaft von Wendy Hall (einer Informatikerin aus England) die Aktivitäten in Europa wiederbelebt. Anstatt sich von ACM Europa mitreißen zu lassen, hat sich die GI, was internationale Aktivitäten anbetrifft, weiterhin sehr zögerlich verhalten. Diese Lücke wird von der deutschen ACM-Sektion, dem German Chapter, in dankenswerter Weise ausgefüllt. Hier war Gerhard Schimpf besonders aktiv (siehe unten).

Die dritte Fachgesellschaft für Informatiker, die ich 2011 erwähnte, ist die Computer Society der IEEE. Sie schickt mir laufend noch Einladungen zu Ausbildungskursen und dergleichen, obwohl ich die Mitgliedschaft (im Alter von 80 Jahren) beendete.

Gerhard Schimpfs internationales Wirken

Ich hatte Gerhard Schimpf 2012 mit einem Interview in diesem Blog vorgestellt. Deshalb erspare ich mir hier weitere Angaben zu seiner Person. Damals beschrieb Schimpf das Wiederaufleben der europäischen ACM-Aktivitäten wie folgt:

Die [ACM-] Präsidentschaft von Dame Wendy [Hall] (sie wurde inzwischen durch die englische Königin geadelt) fiel zusammen mit der Überführung der ACM Europe Taskforce in ein dauerhaftes Gremium, dem ACM Europe Council, unter Leitung von Fabrizio Gagliardi (Microsoft). Dieses Gremium ist inzwischen auf 22 Mitglieder angewachsen, die sich in vier Gruppen organisiert haben, um die folgenden Zielstellungen zu verfolgen:
  • Intensivierung und Bündelung aller ACM-Aktivitäten in Europa, u.a. durch Zusammenarbeit und Verflechtung mit bestehenden europaweit operierenden Wissenschaftsorganisationen
  • Ermutigung der europäischen Mitglieder, um sich an der Nominierung für die „advanced member grades“ sowie an den von der ACM ausgelobten Preisen zu beteiligen
  • Erhöhung der Anzahl der ACM-Konferenzen in Europa
  • Ausweitung der Chapter-Aktivitäten in Europa und Gründung neuer Chapter.
Sichtbares Ergebnis wird die erste ACM ECRC (European Computing Research Conference) sein, die im Mai 2013 in Paris stattfinden wird. Vorbild ist die amerikanische ‚Federated Computing Research Conference‘, bei der mehrere ACM SIGs parallel ihre Jahrestagung abhalten. Nukleus der ECRC bildet die SIGCHI, weiter nehmen teil die SIG-ACCESS, SIG-DA und die SIG-Web. Neben fachlichen Aspekten wird erwartet, dass dadurch die ACM auch gegenüber der europäischen Kommission sichtbar wird. Die ersten Kontakte sind geknüpft.

Heute kann man die europäischen Aktivitäten der ACM unter anderem im Internet verfolgen unter ACM Europe Council. Es ist beeindruckend, dass bei den derzeitigen Wahlen zum ACM-Vorstand und Präsidium drei Mitglieder aus dem European Council zur Wahl stehen (Gagliardi, Anderst-Kotsis, Gal-Ezer).

Kommentare zu Schimpfs ACM Award

Ich habe im Folgenden einige Kommentare zu Schimpfs Auszeichnung aufgelistet, die mir bekannt wurden.
  • Es ist hervorragend, dass sein großes Engagement für die ACM gebührend honoriert wird. Gleichzeitig wurde auch ein Ausrufezeichen für die europäischen ACM-Aktivitäten gesetzt. (Eberhard Schmolz, München)
  • Congratulations on receiving a Presidential Award from ACM – you are so very deserving of such an award – your dedication to ACM and ACM Europe is amazing. (Pat Ryan, New York)
  • This is good news! (Vinton Cerf, Reston, Virginia)

Montag, 16. Mai 2016

Aufklärung – historischer Prozess und heutige Relevanz

Bei meiner Beschäftigung mit dem Islam und dem Mittelalter stieß ich immer wieder auf die Aufklärung. Es ist dies das Gedankengut oder eigentlich der geistige Prozess, der das Abendland zu dem machte, was es heute von anderen Weltgegenden unterscheidet. Bekanntlich dient die Geschichtsschreibung oft dem Zweck, heutige Meinungen und Sichten zu legitimieren. Sie liefert dann einen begrifflichen und gedanklichen Rahmen für heutiges Geschehen. Man nennt dies auch einen Narrativ. Es wird versucht, die Quellen des Stromes zu finden, der uns heute so mächtig erscheint. Vergleichbar ist dies zu der Jahrhunderte langen Suche nach den Quellen des Nils (lat. caput nilis).

Geschichte als Narrativ

Oft wird Geschichte nicht so erzählt wie es tatsächlich war, sondern wie wir haben wollen, dass es hätte geschehen sollen. Zwei bekannte Beispiele sind Demokratie und Aufklärung. In beiden Fällen wird die Geschichte überhöht. So wird Griechenland allgemein als die Wiege der Demokratie gefeiert. Dabei war dies eine Phase von etwa 30 Jahren, in denen nur der Stadtstaat Athen demokratisch regiert wurde und nicht das ganze Land. Dass dabei Frauen und Sklaven kein Wahlrecht hatten, und anschließend wieder eine Tyrannei ausbrach, wird meist unterschlagen.

Ähnlich verhält es sich mit der Aufklärung. Es ist eine historische Episode von genau 100 Jahren, wenn man Ereignisse in drei europäischen Ländern hintereinander fügt. Es begann in England um 1689 und setzte sich in Frankreich und Preußen fort. Länder wie Spanien, Italien, Österreich, Skandinavien und Russland nahmen an dem Prozess nicht teil. Sie waren nicht einmal berührt davon. Auch Bayern, Baden, Württemberg, Sachsen, Schlesien und das Rheinland spielten keine Rolle. Aus großdeutscher Perspektive, für die Preußen in den letzten 200 Jahren das Narrativ lieferte, sind dies ja alles vernachlässigbare Randgebiete.

Außer in England endete die Aufklärung mit einem Riesendebakel. In Frankreich kam der Einschnitt 1789 mit einem äußerst blutigen und totalitären Ereignis, der so genannten großen Revolution. In Preußen blieben Unruhen aus, dennoch bewirkte die dortige Monarchie die Rückkehr zum Stand vor der Aufklärung, auch als Restauration bezeichnet. Trotzdem hat die Aufklärung eine enorme und geradezu mystische Wirkung hinterlassen, was das Selbstverständnis Europas anbetrifft. Es ist der Teil unserer Geschichte, der uns Heutigen nützlich erscheint.

Glorreicher Auftakt in England

Als einflussreichster und originellster Initiator der Aufklärung gilt John Locke (1632-1704). Viele glaubten damals, dass es die Wahrheit überhaupt nicht gäbe und dass Menschen unfähig wären, sie zu erkennen. Locke, der als Privatlehrer für die Kinder eines Lords tätig war, meinte jedoch, das Licht des Verstandes reiche ziemlich weit; allerdings nicht beliebig weit. Das sei aber kein Grund, ihn nicht einzusetzen. Was kann ich wissen? fragte er sich. Er kam zu dem Ergebnis, alles ist sinnliche Erfahrung. Die politischen Verhältnisse in England veranlassten ihn von 1683 bis 1689 nach Den Haag ins Exil zu gehen.

Als die englischen Lords Angst bekamen, dass ihr katholischer König Jakob II. zu sehr dem französischen König Ludwig XIV. nachahmen würde, - der hatte 1685 das Toleranzedikt von Nantes widerrufen – überredeten sie dessen holländischen Schwager, Wilhelm III. von Oranien, ins Land zu kommen. Der verjagte Jakob II. und übernahm den englischen Thron zusätzlich zu seinem holländischen. Damit rettete er nicht nur den Protestantismus, er gestand den Lords auch alle Rechte ein, die sie haben wollten. Er und seine Frau unterschrieben die Bill of Rights, ehe sie vom Parlament als König bzw. Königin anerkannt wurden.

Nach dieser ‚Glorreichen Revolution‘ kam auch Locke wieder zurück nach England. Seine Ideen standen fortan hoch im Kurs. Er argumentierte, dass die Gleichsetzung von väterlicher, erblicher und königlicher Gewalt unhaltbar sei. Stattdessen solle der Staat ein Gemeinwesen (engl. common wealth) sein zum Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum (engl. life, liberty and estate). Der Staat solle vor allem das Recht haben, sich zu verteidigen und Bedrohungen abzuwehren. Für das Seelenheil seiner Bürger soll er jedoch nicht zuständig sein. Es gäbe keinen Grund, warum Heiden, Juden oder Muslime von den bürgerlichen Rechten des Gemeinwesens ausgeschlossen werden. Bei Papisten (Katholiken) und Atheisten war er nicht bereit, ihnen diese Rechte auch einzuräumen. Seit Heinrich VIII. waren Päpste in England unbeliebt, da sie sich für das Schlafzimmer ihres Königs interessierten.

Wer sich nicht überzeugen lässt, den kann man lächerlich machen, meinte Locke. Am besten wirke da englischer Humor (engl. good humor). Sein Erziehungsideal war das des Gentleman, der die Selbstachtung mit der Achtung anderer verbindet. Sein bekanntester Schüler hat als Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury einige seiner Ideen verbreitet und verbessert. Für Schwärmer, die irrlichternden Offenbarungen folgten wie die Quäker, hatten weder Locke noch er viel übrig.

Blutiges Intermezzo in Frankreich

Erst nach 1715, dem Todesjahr Ludwig XIV., begann es auch in Frankreich zu rumoren. Dabei gaben sich französische Philosophen als wesentlich kritischer und respektloser aus als ihre englischen Kollegen. Sie glaubten weder an Gott, noch an die unsterbliche Seele. Sie neigten zu Materialismus und Atheismus. Sie wollten nicht tugendhaft sein; noch erhofften sie einen Lohn im Jenseits. Anstatt von einem personifizierten Gott redeten sie von einem höheren Wesen. Der Protestantismus war ihnen genauso zuwider wie der Katholizismus.

Voltaire (1694-1778) war bereits als junger Mensch im Pariser Staatsgefängnis, der Bastille, gelandet. Mit einer Sondererlaubnis des Königs durfte er 1726 nach England ausreisen. Dort blieb er drei Jahre, um – wie er sagte – denken zu lernen. Im Jahre 1731 erschienen seine Philosophische Briefe, in denen er für individuelle Freiheit und religiöse Toleranz warb. Das gilt heute als die erste (intellektuelle) Bombe gegen das Ancien Regime in Frankreich. Er verglich darin Lockes Empirismus mit Descartes Rationalismus. Bei Isaac Newton (1643-1727) lobte er die gelungene Kombination von Empirie und mathematischen Berechnungen. In Frankreich wurde das Buch verboten und zur Vernichtung verurteilt. Der Autor fand für die nächsten 15 Jahre ein Versteck bei einer adeligen Bekannten (Mme. de Chatelet), ehe er bis 1749 ins Ausland ging. Er kehrte erst 1778 nach Paris zurück, wo er noch im selben Jahr starb.

Denis Diderot (1713-1784) war ein eifriger Leser von Voltaires Schriften. Nach der Lektüre Shaftesburys schreibt er sein erstes Buch. Danach übersetzte er ein medizinisches Lexikon aus dem Englischen ins Französische. Ein philosophisches Buch von ihm wird verurteilt und verbrannt. Er selbst landete im Gefängnis von Vincennes. Zu den Gesinnungsgenossen, die ihn dort besuchen durften, gehört Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Er war der Sohn eines Genfer Uhrmachers. Er wurde berühmt, als er zweimal die Preisfragen der Akademie von Dijon erfolgreich beantwortete. (1) Verbessern Kunst und Wissenschaft den Menschen? (2) Was ist der Ursprung der Ungleichheit zwischen Menschen? Seine Antworten lauteten: Nur der Naturzustand des Menschen ist gut. Die Zivilisation ist die Ursache aller Übel.

Noch im Gefängnis hatte Diderot mit seinem Freund Jean d’Alembert (1717-1783) damit begonnen an einer Enzyklopädie des Wissens zu arbeiten. Nach seiner Entlassung arbeiteten Diderot und d‘Alembert noch weitere 20 Jahre daran. Als der letzte Band 1772 erschien, umfasste das Werk etwa 73.000 Beiträge. Es wurde ein Erfolg für die Drucker. Das Aufklärerische daran war, dass es die Philosophie über die Theologie setzte und die wissenschaftliche Forschung über den religiösen Glauben. Großzügig benutzte man englische Vorarbeiten, vor allem von Locke und Newton. Die Enzyklopädie wurde von Papst Klemens XII. auf den Index gesetzt. Von dem in Paris lebenden Paul Heinrich Dietrich von Holbach (1723-1789) aus Edesheim bei Landau stammten etwa 400 Beiträge zu Geologie, Physik und Chemie. Da nicht alle Beiträge namentlich gekennzeichnet sind, können es auch über 1000 gewesen sein. Nach ihm wurde ein Pariser Zirkel von Aufklärern benannt, die Holbach-Clique (franz. coterie Holbach). Auch der Engländer David Hume (1711-1776) besuchte diesen Kreis hin und wieder, fiel aber dadurch auf, dass er zu wenig anti-religiös war. Als Hume vorgab, keinen Atheisten zu kennen, teilte ihm Holbach mit, dass 15 von 18 der anwesenden Gäste Atheisten seien, nur drei hätten sich noch nicht entschieden.

Bekanntlich nahm die Aufklärung in Frankeich 1789 ein abruptes Ende, als ein radikalisierter Mob die Bastille stürmte. Das anschließende Terror-Regime zerstörte schließlich alle humanitären Träume. Auch Napoléon knüpfte an feudalistischen Traditionen an, als er sich selbst zum Kaiser krönte und mit dem Papst versöhnte.

Akademisches Nachbeten in Preußen

Im europäischen Vergleich war der deutsche Teil der Aufklärung im Wesentlichen ein akademisches Geraune in einem Berliner Club, unterstützt durch Papiere eines in 500 km Entfernung einsam in seinem Kämmerchen vor sich hin denkenden Philosophen. Dass Immanuel Kant (1724-1804) überhaupt gehört wurde, verdankt er seiner Berliner Fan-Gemeinde. Die Brücke bildete ein Arzt namens Marcus Herz (1747-1803), der in Königsberg Philosophie-Vorlesungen bei Kant gehört hatte.

Ehe ich kurz auf Kant eingehe, möchte ich zuerst einen weiteren Berliner Aufklärer erwähnen, und zwar Moses Mendelssohn (1729-1786). Er war 1750 von dem Seidenhändler Bernhard Isaak als Hauslehrer für dessen Kinder eingestellt worden und begann 1754 als Buchhalter in dessen neu gegründeter Seidenfabrik. Er lernte den ehemaligen Theologie- und Medizinstudenten Gotthold Ephraim Lessing kennen, der ihm half philosophische Texte und Literaturkritiken zu veröffentlichen. Obwohl nicht Mitglied, wurde er von der Gesellschaft der Freunde der Aufklärung (Berliner Mittwochsgesellschaft) immer wieder zu Stellungnahmen gebeten, so auch zu der Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ Er vertrat die Meinung, dass uneingeschränkte Gedanken- und Redefreiheit entscheidend seien. Die Grenzen der Aufklärung sollten nicht durch Gesetze und Zensurmaßnahmen, sondern vom einzelnen Aufklärer durch Aufrichtigkeit und Abwägung von Umständen und Zeit bestimmt werden. ‚Aufklärung hemmen, ist in aller Betrachtung und unter allen Umständen weit verderblicher, als die unzeitigste Aufklärung. …  Das Übel, welches zufälligerweise aus der Aufklärung entstehen kann, ist außerdem von der Beschaffenheit, dass es in der Folge sich selbst hebt. Bildung sei Maß und Ziel aller Bestrebungen. Bildung bestehe aus Kultur (Praxis wie Handwerk, Kunst und Sitten) und Aufklärung als Theorie, die miteinander dialektisch verschränkt seien.‘ Im Jahre 1770 wurde er von dem Schweizer Pfarrer Johann Caspar Lavater öffentlich aufgefordert, entweder in aller Form das Christentum zu widerlegen oder selber Christ zu werden – was er ablehnte.

Kant hatte Locke, Leibniz, Descartes, Rousseau und Voltaire gelesen. Er verschob die Frage nach Gott und der Unsterblichkeit der Seele ins Transzedente. Sie könne nicht beantwortet werden. Er übernahm Lockes philosophisches Programm und wollte den Menschen von der fremdgeleiteten Unmündigkeit befreien. Der Mensch solle den Mut haben, sich des eigenen Verstands zu bedienen. Im Jahre 1780 legt Kant sein Hauptwerk vor, die Kritik der reinen Vernunft. Nur weil Marcus Herz dafür warb, wurde es überhaupt gelesen. Mendelssohn legte es zur Seite und las es erst nach drei Jahren. [Ich selbst habe mich letztes Jahr durch seine 750 Seiten gequält].

In dem 1785 vorgelegten Werk Grundlegung der Metaphysik der Sitten findet sich Kants so genannter Kategorischer Imperativ. Bei Kant folgt die Religion aus der Moral; nicht umgekehrt. Der Mensch gibt sich das Gesetz, nicht Christus (wie bei Locke). Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelm II. wird 1794 in Preußen die Zensur eingeführt. Sie richtet sich auch, oder insbesondere gegen die Aufklärung. Kant fühlt sich veranlasst an seinen König zu schreiben. Offenbarung und Überlieferung seien für die Religion zufällig und nicht wesentlich, schrieb Kant.

Übriges Deutschland, Europa und USA

Der Geist der Aufklärung hinterließ deutliche Spuren im deutschen Geistesleben des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Als Beispiel seien die Gebrüder Humboldt und Georg Forster (1754-1794) erwähnt. Wilhelm von Humboldt war allerdings nicht Jahrzehnte lang  ̶  wie man irrtümlich den Erzählungen seiner Epigonen entnehmen könnte  ̶  sondern nur 15 Monate für die preußische Kultur- und Bildungspolitik tätig. Er bat um seine Entlassung und wollte wie schon vorher preußischer Botschafter beim Vatikan werden (nicht gerade als Hort der Aufklärung bekannt). Seinen Bruder Alexander zog es zuerst nach Südamerika, dann nach Paris. Georg Forster, ihr enger Freund, trat in den Dienst des Mainzer Kurfürsten, ehe er sich der Mainzer Republik zur Verfügung stellte.

In der Politik verlief die Entwicklung weniger günstig. Kaiser Josef II., ein Anhänger Kants (ein 'Kantianer'), versuchte die Aufklärung von oben einzuführen. Das wurde ihm von der Bevölkerung übel genommen. Er musste zurückrudern und einige seiner Maßnahmen wie die Auflösung religiöser Orden rückgängig machen. Während die französischen Revolutionstruppen in Deutschland einfielen, träumte Kant vom Ewigen Frieden. Er besetzte damit die idealistische Ecke für die deutsche Intelligenz. Sein Kollege Hegel sah im französischen Kaiser sogar den Weltgeist am Werk, als dieser ganz Europa mit Krieg überzog. Nach Napoléons Abgang erhielten in Mitteleuropa Macht- und Realpolitik wieder die Überhand. Es kam zum Stabwechsel von Metternich auf Bismarck. Beide Staatsmänner drückten dem Geschehen einen sehr autokratischen Stempel auf. Vom Geiste der Aufklärung blieb in der Politik der 150 Jahre zwischen 1789 und 1945 so gut wie nichts übrig. Von Bismarck führte Deutschlands Weg fast gradlinig zu Hitler.

Lockes Ideen wurden der Kern dessen, was amerikanische Siedler 1774 in Philadelphia als unveräußerliche Menschenrechte forderten. Die Suche nach Glück (engl. pursuit of happiness) kam noch hinzu. Die amerikanische Politik bot seither  ̶  von Unterbrechungen abgesehen  ̶  einen Hort der Hoffnung für das geplagte Europa. Es war Woodrow Wilson, der Kants Idee eines Völkerbunds aufgriff und zumindest kurzzeitig realisierte. Die 1945 von Franklin D. Roosevelt maßgeblich geprägten Vereinten Nationen sind heute die größte Hoffnung der Menschheit.

Heutige Relevanz der Aufklärung

Aus kulturgeschichtlicher Sicht ist die Aufklärung eine genau 100 Jahre andauernde Epoche. Das Wort Aufklärung legt nahe, ihren Effekt als einen nicht zu begrenzenden Prozess aufzufassen. Ein vor Hitler geflüchteter Österreicher wurde nach 1945 quasi zum Fahnenträger einer wiederbelebten Aufklärung. Karl Popper (1902-1994) ersetzte Kants idealistisches Spätwerk vom Ewigen Frieden mit seiner Idee der Offenen Gesellschaft. Die Erkenntnistheorie Kants, die von einer heute naiv erscheinenden Wissenschaftsgläubigkeit geprägt war, entwickelte er weiter zu einer Wissenschaftstheorie, bei der die Unsicherheit unseres Wissens eine zentrale Rolle spielt. Sein Denken hat viele heutige Politiker und Wissenschaftler beeinflusst.

Auch die berühmt berüchtigten 1968er dürfen sich als Aufklärer (im Sinne eines unbegrenzt fortdauernden Prozesses) betrachten. Ihre Protagonisten, zu denen Theodor Adorno gehörte, hatten das Ziel sicherzustellen, dass im Bildungswesen die Geisteswissenschaften und die Sozialwissenschaften eine größere Bedeutung haben sollten als die Naturwissenschaften. Eine so genannte Frankfurter Schule verschrieb sich dem Ziel, das „Projekt der Moderne“ zu vollenden. Zwar kämpften sie nicht mehr gegen Aristokratie und Kirche, aber auch sie bildeten sich ein, dass zum Beispiel alle Professoren, die in Talaren auftraten, auf die Abfallhalde der Geschichte gehörten. Man müsste den Weg frei machen für ungewaschene junge Männer, die meist in Bärten daherkamen, einschließlich sich ähnlich präsentierender junger Frauen. Sie zogen prinzipiell alles in Zweifel, was die Gesellschaft ihrer Väter für gut und richtig gehalten hatte. Jeder über 30 galt ihnen als verdächtig. Sie sahen sich nicht selten als Pazifisten, liebten es aber, sich mit den Ordnungskräften unseres demokratischen Staates anzulegen.

Schlussbemerkung

Mit der Französischen Revolution fand die historische Phase der Aufklärung ein jähes Ende. Auch auf das letzte Aufzucken in Form der 1968er Bewegung folgte die Rote-Armee-Fraktion (RAF), die eine blutige Spur durch ganz Westeuropa zog. Fürs Narrativ, das die jeweiligen Enkel zu hören bekamen, wurden in beiden Fällen die historischen Fakten stark retuschiert. Aus den anfangs rein geistigen Morden wurden rituelle Morde. In einem Falle war es das von dem Arzt Joseph-Ignace Guillottin erfundene Fallbeil, das zum Symbol wurde. Im anderen Falle war es eine Kalaschnikow, die über dem Foto des Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer schwebte.

Als Quelle dieses Beitrags diente neben Wikipedia vor allem das Buch von Manfred Geier [1]. Es schildert viele Details der Periode, die man mit dem Begriff Aufklärung gleichsetzt. Es überrascht nicht, dass das Wort Aufklärung auch in aktuellen Buchtiteln als Magnet dient. Als Beweis dienten mir die Bücher von Dorrit Schindewolf [2] und Ossi Urchs und Tim Cole [3]. Diese beiden Bücher greifen Themen auf, von denen die Autoren glauben, dass dafür heute aufklärerischer Geist benötigt würde, oder bereits schon am Werke sei. Dass Aufklärung von einer Technik wie dem Internet begünstigt wird, können nur Technikmuffel leugnen.

Sonstige Referenzen
  1. Manfred Geier: Aufklärung  ̶  Das europäische Projekt. 2012
  2. Dorrit Schindewolf: Was bedeutet Aufklärung für uns? 2013
  3. Ossi Urchs, Tim Cole: Digitale Aufklärung  ̶  Warum uns das Internet klüger macht? 2013

Montag, 9. Mai 2016

Verhältnis von Staat und Religion ̶ ein aktuell gewordenes Thema

Unser Grundgesetz (GG) spricht im Artikel 4 das Verhältnis von Staat und Religion mit einigen lapidaren Sätzen an. Hier der Wortlaut:

(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.

In den letzten Tagen hatte ich einige Diskussionen mit mehreren Blog-Freunden zu diesem Themenkreis. Ausgelöst wurden sie durch ein Erlebnis meines Darmstädter Kollegen Hartmut Wedekind mit syrischen Flüchtlingen, die er betreut.

Gescheiterte Kontaktpflege

Hartmut Wedekind schrieb am 5.5.2016

Die beiden Syrer M. und H. gehen nicht mehr mit mir arabisch essen, weil ich, an ihrem Tisch sitzend, Alkohol trinke (ein Bier zum Durstlöschen und ein Glas Wein zum Essen, dann schmeckt es besser). Meine Unterhaltung über Mathematik ist damit beendet. Ich habe ihnen zwei Lehrbücher über Mathematik  und einen Laptop für € 200,-- hinterlassen.

Der Leiter der Flüchtlingsunterkunft  S., dem ich schrieb, gebürtiger Türke und promoviert über Hanna Arendt, ist auch verwirrt. Er hat nur achselzuckend geantwortet. Der Gastwirt K. ist  gebürtiger Jordanier, seit 30 Jahren in Deutschland und stolz , ein deutscher Gastwirt zu sein. Er fährt als Tourist nach Amman, Hausbesitzer am Woog, ein vornehmes Viertel. Er hat die beiden mehrfach auf Arabisch ins Gebet genommen, sehr deutlich, wie er mir dann sagte. Ohne Wirkung, offensichtlich. Frömmigkeit geht bei denen vor! Ich komme mir vor wie die Lehrerin, der ihr kleiner muslimischer Schüler nicht die Hand reicht, weil sie eine Frau ist. Mit Blick auf Frau Merkel: Diese Edukationsaufgabe (der Ausdruck „Integration“ ist, wie vieles an der Regierung, fundamental falsch) ist nicht zu leisten. So etwas darf überhaupt nicht passieren. Kategorisch nicht! Ich will mich  mit den angehenden Jungingenieuren über Mathematik unterhalten und nicht versuchen,  ihnen ihren mittelalterlichen Islam auszutreiben. Ist das klar, Frau Merkel!!! Das kann Frau Merkel dann ja machen. Und die kann es auch nicht. Die tut bloß so. Das nennt man Angeberei oder Hochstapelei. „Imposter“ sagt man auf Englisch. Da steckt das Wort „imponieren“ drin. „imponere to deceive“ sagt der Webster.

Ich bin über unsere Regierung, die so etwas anrichtet, entsetzt. Die da oben scheinen ahnungslos zu sein. M. und H. sind immerhin Akademiker (4 Semester TU Aleppo), haben also eine gewisse Bildung, haben schon mal was über Differential und Integral gehört  (Mathematik von Newton und Leibniz, Kinder der westlichen Aufklärung). Ihre islamische „Frömmigkeit“ verdirbt alles. Unerziehbar. Uneducationable!!  Die fahren am besten, sobald es geht, wieder nach Hause.  Der Deutschkurs ist bei denen für die Katz, bei der Einstellung. Bei denen ist Hopfen und Malz verloren. Es bleibt nur Hartz IV, „as long as we can pay it“. Wenn nicht mehr, wird die Lage explosiv. Das weiß aber jedes Kind. Dazu muss man nicht Kanzler werden.

Ich versuchte die entstandene Situation als Folge der Borniertheit zweier Jugendlicher herabzuspielen. ‘Sie können das Mittelalter in den Köpfen nicht in ein paar Wochen entfernen. Das müssen die Leute selber tun.‘ schrieb ich. Ich konnte nicht überzeugen.

Nicht Einzelfall sondern Verfassungsprinzip

Am 7.5.2016 schrieb Hartmut Wedekind:

Seitdem mir das mit meinen Syrern passiert ist, die mir implizit ein Alkoholverbot an ihrem Tisch verhängen wollten, hab ich über unsere  einseitige Religionsfreiheit in der Verfassung nachgedacht. Die ist naiv und wird als unsere Schwäche gedeutet. Der Islam, so denken die Muslime, ist besser als dieses Weichei-Christentum.  Die Religion eines „warlord“ versteht auch kaum die Religion eines  armen Wanderpredigers, der die Feindesliebe predigte und ans Kreuz geschlagen wurde.

Ich plädiere nach meinem Erlebnis, für eine Religionsfreiheit auf Gegenseitigkeit. Wenn hier Religionsfreiheit mit Moscheen gewährt wird, dann aber auch dort bitte ein Christentum mit Kirchen. Ich glaube, die Kirchen machen da mit. Es muss einen schwarze Liste  mit Staaten geführt werden, die eine Religionsfreiheit den Christen versagen oder einschränken. Nach dem Prinzip „ So wie mir, so ich dir“. Ich glaube, das wird verstanden. Was wir da treiben ist aufklärerisch abstrakt und für die völlig unverständlich. Politik ist Religion und Religion ist Politik bei voraufklärerischen Menschen. Oder man bringt denen die Aufklärung bei. Ein Ding, das kaum zu schaffen ist. Wenn uns unsere Verfassung bei der Verteidigung derselben im Wege steht, dann ist das eine verdammt schlechte  Verfassung, die verbessert werden müsste.

Verfassungsdiskussion

Am gleichen Tag schrieb ich:

Ich verstehe Ihren Ärger. Sie sollten aber die berühmte Kirche im Dorf lassen. Man muss wegen der Borniertheit zweier Jugendlicher nicht gleich unsere Verfassung ändern. Vorher sollte man wegen der vielen Raser die STVO ändern.

Hartmut Wedekind antwortete:

Es geht in Verfassungen ums Prinzip, nicht um Einzelfälle. "Wie Du mir so ich Dir" . Schön und diskussionswert ist, was Dorrit Schindewolf in ihrem Buch ‚Was bedeutet Aufklärung für uns‘ dazu schreibt.

Am 8.7.2016 schrieb ich:

Nachdem ich mir innerlich 2,99 Euro abgerungen hatte, las ich die ganzen 70 Seiten von Dorrit Schindewolf auf einen Schlag. Sie sagt Einiges, was auch Ihre Probleme mit jungen Syrern berührt. Bei Kindern (und Religiösen) ist wahr, was die Mutter (oder die Kirche) sagt. ‚Wörtliche‘ Wahrheit heißt das. Selbst antiautoritär erzogene Kinder, sehnen sich nach Leitung. Autonomie des Denkens muss erlernt werden. Wenn sich Erwachsene von der Außenwelt abschließen, also das Erlernen von Neuem vermeiden, ist das eine Form der Wiederverkindlichung.

Am gleichen Tag schrieb Hartmut Wedekind:

Es geht doch bloß in einer Diskussion, meinetwegen auch mit Verfassungsrechtlern, um die Verwandtschaft von: (1) "Wie Du mir , so ich Dir.", (2) Die goldene Regel : "Was Du nicht willst, dass man Dir tut, das füge auch keinem anderen zu", (3) Und dann natürlich, hoch-aufklärerisch, der akademische Kant mit seinem kategorischen Imperativ: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde". 

Ob Verfassungsrechtler, die zum Teil aus dem politischen Dschungel proporzmäßig nominiert werden, in philosophischer Qualität darüber reden können, glaubt eigentlich niemand. Insofern ist die Frage nach einer nicht-naiven Religionsfreiheit in der Verfassung eigentlich müßig. Da haben Sie Recht.

Aber nach der Lage der Dinge ist es eigentlich zwingend. Auch in aufklärerischer Sicht, haben Sie Unrecht. Die aufklärerische Sicht ist auch immer eine pädagogische: Man will den Menschen etwas beibringen. Das tut man nicht mit hehren Worten. Pädagogik ("Kindeslehre") und damit Bildung ist ein Zentralfach seit der Aufklärung vor über 200 Jahren. Das weiß ein Verfassungsrechtler offensichtlich nicht. Was die eigentlich wissen, weiß ich nicht. Das ist mein Problem.

Am 9.5.2016 schrieb ich:

Nicht jeder, der sagt, ich tue dies, weil es eine Religion gibt, die es erlaubt oder fordert, ist immun. Der Begriff, was eine Religion im Sinne des Artikel 4 GG (siehe oben) ist, muss präzisiert werden.

Am gleichen Tag schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

Es gibt wohl keine Verfassung, die verhindern kann, dass 'weltanschauliche' Konflikte entstehen und ausgefochten werden müssen, zumal in einer demokratisch orientierten Gesellschaft. Das Prinzip "was eine Religion im Sinne des GG ist, muss präzisiert werden" kann ich nicht nachvollziehen, zumal einige islam-orientierte Staaten dieses Prinzip in ihrer Verfassung etabliert haben und verfolgen.

Die Trennung zwischen Religion und Staat bezeichnet religionsverfassungsrechtliche bzw. staatskirchenrechtliche Modelle, in denen Staat und Kirchen sowie andere Religionsgemeinschaften kraft staatlicher Gesetze organisatorisch getrennt sind, also nicht wie in Staatskirchentum oder Theokratie verbunden. Diese Trennungsmodelle können unterschiedlich ausgeprägt sein. Sie reichen vom restriktiven Verbot der Religionsausübung im öffentlichen Raum über die besonders strikte Trennung zwischen Religion und Staat in öffentlichen Schulen und sonstigen Körperschaften des Staates bis hin zu verschiedenen Kooperationsformen, in denen eine Trennung der Aufgaben- und Durchführungsbereiche prinzipiell aufrechterhalten bleibt. (Wikipedia)

Die deutsche Verfassung kennt keine strikte Trennung von religiösen Institutionen und Staat, wie zum Beispiel in Frankreich. In einigen Staaten sind unterschiedliche islamische Glaubensgrundsätze Staatsreligion und vielleicht mit ein Grund für kriegerische Auseinandersetzungen, von denen jetzt sogar europäische Staaten betroffen sind (zumindest hinsichtlich Argumenten für deren Rechtfertigung oder Verurteilung).

Nachtrag vom 10.5.2016

Mein Vorschlag, im GG den Begriff Religion zu präzisieren, ist vielleicht ein ungeeigneter Weg, um die Versprechen des Artikels 4 weniger naiv erscheinen zu lassen. Vermutlich können Verfassungsrichter den Artikel 5, Absatz 3, analog anwenden. Dort heißt es: 'Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung'.

Man muss dann nur argumentativ begründen, dass Religionslehre unter Lehre fällt. Dass Theologen sich dagegen sträuben werden, ist klar. Sie sehen ja ihre Tätigkeit lieber als das Verkünden einer Offenbarung als einer Lehrmeinung an. Laut GG sind wir keine Theokratie, wie das heute einige islamische Staaten von sich sagen. Über unserem GG steht nur internationales Recht. So sieht es zumindest der Rechtspositivismus. Göttliches Recht, Kirchenrecht oder Naturrecht sind außen vor. Sie  können nicht vor zivilen Gerichten eingeklagt werden.