Sonntag, 30. April 2017

Bildung und Digitalisierung - eine Diskussion

Schon lange beherrscht das Schlagwort Digitalisierung viele Diskussionen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Ihre Auswirkungen auf das Bildungswesen wurden immer wieder von meinem Kollegen Christoph Meinel vom Hasso-Plattner-Institut in Potsdam thematisiert. Unter seiner Leitung hat eine Arbeitsgruppe das Konzept einer Bildungscloud auf dem letzten IT-Gipfel der Bundesregierung in Saarbrücken vorgestellt. In diesem Monat hat Meinel seine Vorstellungen als Vision der digitalen Bildung publiziert, unter anderem auch in der FAZ. Es entstand daraufhin eine Korrespondenz, die ich hier auszugsweise wiedergebe,

Erste Diskussion des Themas

Als Reaktion zu seinen Aufsätzen schrieb ich Meinel Mitte April 2017: Über zwei Probleme sollten Sie (und alle Interessierten) nachdenken.

(1) Die Erziehung zu Mündigkeit und Selbständigkeit sollte nie ohne fachliche Inhalte erfolgen. Dasselbe gilt für Weisheit und Tüchtigkeit. Leute, die nur diese allgemeinen Tugenden studiert  haben, und sonst nichts, kann niemand brauchen. Eine Tugend allein ist bei uns kein Studienfach, evtl. jedoch in buddhistischen Mönchsklostern. Vor 30 Jahren hatte ich eine Diskussion mit dem von mir sehr geschätzten Niklaus Wirth. Er meinte: Bei ihm lernten Leute richtig denken, nur darauf käme es an. Ich entgegnete: Wenn ich jemand von diesen Leuten einstellen sollte, würde ich fragen, was er sonst noch kann.

(2) Der Föderalismus und das Elternrecht sind Güter, die wir Deutsche hochschätzen, und zwar wegen unserer Nazi-Erfahrung. Inhalte für das Land Bremen und das Saarland separat oder doppelt zu entwickeln, ist Unsinn. Es muss eine Entkopplung von Entwicklung  und Anwendung erfolgen. Das muss durch Überzeugung plus finanziellen Druck in die Köpfe hinein. Wo ist sogar ein Weltmarkt möglich und wie muss man da agieren?

Am 29.4.2017 fügte ich noch hinzu:

Leider wird in der Bildungsdiskussion fast nie unterschieden zwischen (a) der moralischen Erziehung in den Tugenden und dem standesgerechten Benehmen, (b) dem analytischen-kritischen Verständnis der Welt und ihrer Geschichte und (c) der konstruktiven Qualifikation für ein zukünftiges, selbständiges Leben durch Heranbildung von nützlichen Fähigkeiten. Leider benutzen wir für alle drei das Wort Bildung.

Die Frage ist: Wer sollte an was Interesse haben? Wer sollte sich um was kümmern? Bei Bildung (a) und (b) könnte man an eine Bringschuld des Elternhauses oder der nicht-staatlichen Gesellschaft denken. Nur bei (c) ist es naheliegend auch eine Bringschuld der Wirtschaft und des Staates zu sehen. Natürlich hängen alle drei zusammen. Teil (c) geht nicht ganz ohne (b) und (a).

Im Mittelalter und bei Adeligen stand (a) im Vordergrund, die Aufklärung (und damit Wilhelm von Humboldt) entdeckte (b). Man hoffte sogar, dass alle Menschen aus Eigennutz oder Vergnügen zu Aufklärern würden. Vorbei war jeder Zwang, d.h. der Lehrer mit Rute. Im Zeitalter des modernen Massenkonsums und der Demokratie denken die meisten nur an (c).

Deshalb trägt es wenig zur Klärung bei, wenn das Mittelalter oder die Aufklärung zu Maßstäben erhoben werden. Theologen und Adelige sind heute nicht die primär Auszubildenden. Es wäre schön, wenn man sich gedanklich freimachen könnte für die Aufgaben unseres Jahrtausends.

Christoph Meinel erwiderte am 30. 4. 2017:

meine Motivation über Bildung(smissstände) nachzudenken ist viel bescheidener. Immer wieder stellt sich heraus, dass die Leute glauben, die heraufziehende neue digitale Welt zu verstehen, nur weil sie ihr Smartphone bedienen können. Gleichzeitig beweisen sie im Umgang, z.B. mit Ihren Daten und Passworten, dass sie gar keine Vorstellung davon zu haben, was da passiert. Hier gibt es eine wichtige Aufgabe für uns, nämlich die digitale Aufklärung der Bürger um sie zu befähigen, selbstbestimmt, eigenverantwortlich und mündig im digitalen Raum zu handeln. Von diesem selbst gestellten Bildungsauftrag ausgehend, denken wir über verschiedene Themen im Bildungsbereich nach:
  • Mit unserer MOOC-Plattform openHPI konnten wir bisher fast 400.000 Kursteilnahmen erreichen.
  • Mit unserem Schul-Cloud Projekt wollen wir zeigen, wie vermittels geeigneter Cloud-Infrastrukturen digitale Bildungsinhalte endlich auf breiter Front in den Schulunterricht in jedem Unterrichtsfach einziehen und genutzt werden können.
  • Mit der für den IT-Gipfel entwickelten Vision einer Bildungscloud wollen wir die Politik ermutigen, über einen niedrigschwelligen digitalen Zugang digitale Bildungsinhalte leichter auffindbar, zugänglich und nutzbar zu machen.
Digitalisierung kann einen drastisch erleichterten Zugang zu Bildungsinhalten bieten: Den zu befördern ist meine Motivation.

Meine Erwiderung:

Wie ich Ihnen bereits sagte, finde ich alles sehr nützlich, was Sie machen. Sie überschreiten damit allerdings Grenzen zu grundsätzlichen Fragen im Erziehungssystem. Dieses ist von Verkrustungen überlagert. Sie tun zwar so, als ob Sie daran nichts ändern wollen oder müssen. Ich sehe ein großes Risiko darin, diese Probleme zu ignorieren, da dies Ihre Bemühungen zum Scheitern bringen kann.

Hartmut Wedekind aus Darmstadt schrieb am selben Tag:

Ihr (c) ist aber schon Ausbildung. Man kann sagen "ich werde ausgebildet" (passiv), aber nicht "ich werde gebildet". Bildung verlangt immer eine Selbsttätigkeit. Also "Ich bilde mich" (aktiv) und nicht "ich bilde mich aus". Man hofft, durch Erziehung, Ihr (a), und auch durch Ausbildung (c) zum (b) zu gelangen. Ihr (a) und (c) sind auf Englisch "education". Ihr (b) ist Englisch "literacy". Das sind aber nur annähernde Übersetzungen.

Wenn ich von technischer Bildung spreche, dann meine ich etwas, was nach der technischen Ausbildung kommt und Eigentätigkeit verlangt. Selbsttätige Bildung (ein Pleonasmus, wie ein weißer Schimmel) verlangt selbstverständlich "Orientierungswissen" und damit Ziel- und Zweckorientierung, ein "Verfügungswissen" einer Ausbildung wird aber meistens vorausgesetzt. Wenn man heute von digitaler Bildung oder Bildung digital spricht, dann meint man "Ausbildung" (education).

Bildung ist eine Kind der Aufklärung (Humboldt, Fichte). Die hat bei uns im Politischen aber nur noch nominelle Auswirkungen. Man sagt "Bildung" und meint "Ausbildung". Das "Wesen" des Politischen ist, immer alles  durcheinander zu bringen. Wenn's um Bildungspolitik geht, ist man dem Chaos nahe. Siehe G8/G9, unglaublich.

Meine Erwiderung:

Die Verwirrung der Begriffe Erziehung, Bildung und Ausbildung ist Teil unseres Problems. Vor fast einem Jahr hatte ich dem Leerwort Bildung einen ganzen Blogbeitrag gewidmet. Ich habe wenig Hoffnung, dass die Dinge in absehbarer Zeit besser werden. Noch profitieren zu viele von der Verwirrung, Es sind dies nicht nur die Politiker. Nicht wenige Uni-Professoren sehen Technik nicht als Wissenschaft an, und halten sich für zu schade, um Leute für den Broterwerb auszubilden. Warum werden Milliarden für Bildung gefordert, wenn Ausbildung gemeint ist? Warum muss immer noch der Baron von Humboldt bemüht werden, dem es immer nur um Bildung und nie um Ausbildung ging? Er blickte auf sie mit Verachtung herab und ließ Preußen mit seinem Bildungssystem allein, sobald er einen amüsanteren Job haben konnte. Er fand den als preußischer Botschafter im Vatikan. Er handelte also wie ein ‚Gebildeter Mensch‘, genauso wie ihn der Philosoph Robert Spaemann (*1927) später definierte. ‚Fast nichts ist für ihn ohne Interesse, aber nur sehr weniges wirklich wichtig' sagte Spaemann.

Seitenbemerkung

Mein Kollege und Mit-GI-Fellow Hartmut Wedekind hat in seinem Blog ebenfalls einige gute Gedanken zu Bildung und Digitalisierung geäußert. Dabei hat er auch einige Fragen berührt, die wir in diesem Blog wiederholt diskutierten. Ich möchte hier nicht erneut darauf eingehen.

Nachtrag am 1.5. 2017

Die totale Verwirrung der Begriffe ist auch anderen Autoren schon aufgefallen. 'Wenns um Bildung geht, wollen alle immer mehr' so schrieb Peter Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung am 23. 4. 2017. 'Aber selten werden die Forderungen so konkret, dass man über deren Inhalte verhandeln könnte. Was also wollen wir eigentlich?'

Am Schluss heißt es: 'Das Gerede von "der Bildung" ... bleibt Ideologie, solange nicht darüber gesprochen wird, was gelernt werden soll, von wem und für welchen Zweck. ...Das Letzte, was Bildung verspricht, ist deswegen das Erste, was ihre gegenwärtigen Verfechter im Sinn haben: so etwas wie eine umfassende kulturelle Stabilität, eine Gewissheit von Kenntnissen und Fähigkeiten, die allen Bürgern gemeinsam wäre.' 
Genau das wollten die Väter und Mütter unserer Verfassung verhindern. Bayern, Rheinländer und Sachsen sollen partout nicht wie Preußen werden. (Ich danke Simone Rehm für den Hinweis)

7 Kommentare:

  1. Hartmut Wedekind aus Darmstadt schrieb:

    Jetzt erst verstehe ich Ihre " Bildung digital" und die Abgrenzung zu "digitale Bildung". Verstehe ich das richtig? Das ist meine Frage. "Bildung digital", das ist z. B. Latein oder Mathe, also alte "Bildung" auf neuen digitalen Medien. Das ist wie alter Wein in neuen Schläuchen. Digitale Bildung das bedeutet hingegen: Hineingehen in die digitale Welt, um über das digitale Medium eine ganz neue Bildung zu gewinnen, die es so vorher nicht gab.

    Beides gibt's, aber völlig unterschiedlich. Digitale Bildung, das ist auch das, was die Bildungsstandards (http://informatikstandards.de/) der GI meinen. So sehen Sie das doch auch?

    Mir ist klar: Die Bildungscloud meint beides, aber mehr "Bildung digital" als "digitale Bildung". Denn: Digitale Bildung, das ist ein Schwergeschäft, die verlangt Modellbildung. Das sind die "eingekleideten Aufgaben" in Mathe von früher, die bei vielen Horror auslösten und noch auslösen. "Digitale Bildung" in der Form eines Horrorfachs wie die Mathematik (mit viel Nachhilfe), das ist abschreckend und geht, einfach unreflektiert aufgefasst, mit Sicherheit in die Hose oder ist schon in die Hose gegangen. Beim "Buchstabenrechnen" ist doch bei sehr vielen schon "Feierabend", auch gymnasial. Nur noch Dressur, die, wenn der Zwang weg ist, dann auch verschwindet. Dann kommt das Wort unserer Altgebildeten "Wissen Sie, ich war immer schon ein schlechter Rechner, aber Caesars Gallischen Krieg, den kann ich in großen Teilen noch auswendig." Und der Altgebildete fängt an, bevor wir ihn schnell fluchtartig verlassen: 'Gallia est onmis divisa in partes tres...'. Das hören wir noch, aber dann sind wir weg, über alle Berge. Aber das hoffnungslos Psychopathische, das haben wir beim Fliehen noch mitbekommen und verstanden.

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    1. Ja, da verstehen wir uns richtig. Mich interessiert die digital vermittelte (Aus)Bildung in lebensnützlichen Dingen mehr als edle, schöngeistige Bildung (im Sinne Wilhelms, und nicht Alexanders von Humboldts). Nicht alles, was über Informatik gelehrt wird, ist per se nützlich.

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    2. Hartmut Wedekind erwiderte: Wunderbar. Also sprechen wir jetzt von Bildung , digital dargeboten. Bildung so, in einer Cloud, überall (ubiquitär) und gleichzeitig (simultan) dargeboten, das ist ein (äußerlich) gigantisches Ding. Das ist atemberaubend. Wie es nach Innen aussieht, steht auf einem anderen Blatt.

      Mit Informatik und ihrer digitalen Bildung z.B. à la GI hat das aber wenig (fast nichts) zu tun. Was hat Autofahren mit Kfz-Technik zu tun? Fast nichts. Aber: Beide bedingen sich gegenseitig. Beide stehen in einem ironischen Verhältnis zueinander, d.h. man muss sich verstellen und umstellen, wenn man von einem ins andere wechselt.

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  2. Nachdem ich klargestellt habe, dass ich bei Bildung nur an Ausbildung (also Type (c) im obigen Text) denke, möchte ich für die Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien vier Grade definieren: (a) physische Wahrnehmung und Handhabung (Gerätezugang, Fingerfertigkeit), (b) geistige Wahrnehmung und Verstehen (intellektueller Konsum), (c) semantisch korrektes Reproduzieren eines Stoffkorpus (als Laie oder Profi), und (d) kreatives Entwickeln (Ändern und Neuschaffen). Die ersten drei Kompetenzen müssen weit verbreitet werden, die vierte nicht unbedingt.

    Digitale Inhalte können zweierlei sein (a) abgeleitet oder portiert, d.h sie stammen von klassischen analogen Medien, sind strukturell unverändert und nur formal umgesetzt, oder (b) genuin oder originär, d.h. sie sind optimiert, erweitert, neu durchdacht. Wie immer ist das kurzfristige und leichtere Geschäft mit Inhalten (a) zu machen. Inhalte (b) kosten viel Geld und Lehrzeit. Daher ist das Internet heute vor allem eine riesige Ansammlung von Word- und PDF-Dateien.

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  3. Zu dem Zitat im Nachtrag vom 1.5. schrieb Hartmut Wedekind:

    ‚Das ist falsch, sogar schon im Humboldtschen Sinne. Bildung ist das Vermögen, die Kompetenz, sich in der Welt zurecht zu finden. Bildung basiert auf Orientierungswissen, das dem Verfügungswissen (performance) gegenübersteht'

    Dieser Einwurf illustriert, was ich unter dem Begriff Wortwissenschaft (einen Euphemismus für Wortklauberei) verstehe. Da vor 200 Jahren ein preußischer Baron von H. gesagt hat, was für ihn Bildung ist, sollte man bitte gefälligst das Wort B. nicht anders verwenden. Leider tun das alle, die für B. öffentliche Mittel abzweigen wollen. Die Mittel werden nämlich dringend benötigt, nicht für B. im Sinne von Baron von H., sondern für Ausbildung und Qualifizierung gemeiner Bürger (und deren Kinder).

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  4. Die Frage ist interessant, warum es kein treffenderes Wort als Bildung gibt, wenn Bildung (b) gemeint ist? Was könnte wohl den Aufstieg von Banalität und Triebhaftigkeit zu Vornehmheit (Eloquenz, Kultiviertheit), Ordnung (Strukturiertheit) und Gelassenheit (Ausgeglichenheit, Distanziertheit) ausdrücken?

    Also sieh nach bei Goethe. ‚Edel sei der Mensch, hilfreich und gut‘, heißt es da. Das ‚hilfreich und gut‘ ist Moral. also Bildung (a). Wer sich selbst im Sinne Humboldts vervollkommnet, veredelt sich. Ein Edler ist Gentleman, Kosmopolit und nachdenkender Philosoph, also alles, was Spaemann fordert.

    Es gibt ein modernes Wort, da wo das Gegenteil gemeint ist. Ein moderner Mensch kann sich radikalisieren. Auch das kann er selbst tun, so wie man sich selbst veredeln kann.

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  5. Hartmut Wedekind schrieb:

    [Heute in der FAZ, Markus Deimann, Bildungswissenschaftler aus Lübeck] Da schimpft einer aus der anderen „Kultur“ über Meinels Cloud-Aufsatz in der FAZ im April. Denn den Anderen wird ein Heros genommen. Zum Schluss seiner Kritik will Deimann sich aber doch mit den Informatikern zusammensetzen.

    Meinel hat sehr politisch geschrieben und den Humboldt sehr dick rausgehängt. Den Rest hat die FAZ mit ihrer Bebilderung besorgt. Es wird Humboldts Denkmal ganz groß gezeigt. Und schon ruft er die andere Kultur mit einem Instrumentalismus-Vorwurf auf den Plan. Das war absehbar.

    Die Anderen hängen an ‚Open Educational Resources‘ (OER). Mit der Cloud ist die OER- Bewegung doch tot. Denn sie wird inkorporiert, geschluckt.

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