Montag, 25. September 2017

Wahl 2017: Ergebnisse und Erklärungsversuche

Das Wahlergebnis hat viele Menschen überrascht. Das betraf vermutlich vor allem solche Leute, die den immer häufiger eintreffenden Prognosen keinen Glauben schenkten. Zwei der in der folgenden Tabelle zitierten Prognosen hatten den vor der Wahl sich abzeichnenden Trend richtig erfasst. Er lässt sich wie folgt charakterisieren: Wiedererwachen der FDP und Aufstieg der AfD. Dass beides vor allem auf Kosten der Parteien der Großen Koalition (Abk. Groko) erfolgen würde, war jedoch keine Überraschung.


Wahlergebnisse und Prognosen

Schlappe der Union

Die Union, bestehend aus den beiden meist getrennt kämpfenden Parteien CDU und CSU, ist der klare Verlierer der Wahl. Besonders die CSU bezahlte für ihre manchmal etwas unklare Politik. Ein Absturz von über 49 auf 38% trifft sie hart, vor allem im Hinblick auf die Landtagswahlen im nächsten Jahr. Da Parteichef Seehofer eine offene Flanke rechts der CSU ausgemacht hat, ist ein Rechtsruck zu erwarten. Das wird zu weiteren Spannungen zwischen den Schwesterparteien führen.

Angela Merkel tröstet sich angesichts der Niederlage damit, dass keine Regierungsbildung ohne CDU möglich ist. Dass sich dies schon am Wahlabend auf Jamaika beschränken würde, damit war nicht zu rechnen.

Enttäuschung der SPD

Der Spitzenkandidat der SPD, Martin Schulz, schäumte gestern Abend geradezu vor Wut. Er erinnerte mich an einen abgewiesenen Liebhaber. Nur Angela Merkel sei an seinem Misserfolg schuld. Sie hätte sich stets verweigert, wenn er sich profilieren wollte. Damit habe sie die AfD zum Sieger gemacht. Ihn treffe keine Schuld.

Für mich ist Schulz mit einem Meteor vergleichbar. Er kam von außen und wirbelte alles auf. Er verglühte jedoch bereits, bevor er auf der Erde aufschlug. Dass er der Groko die Schuld gab für alles, was er als verbesserungswürdig ansah, nahm ihm die Glaubwürdigkeit. Es half ihm auch nicht, wenn er sich jedem Diskutanten in einer Fernsehsendung anbiederte. Die Bodenhaftung hätte er von der ‚alten‘ SPD bekommen müssen. Die aber ließ ihn wirbeln. In NRW verbat man sich sogar seine Auftritte. Die Parteimaschine der SPD hat inzwischen damit begonnen, die von Schulz aufgewirbelten Brocken einzusammeln. Die beiden Frauen Andrea Nahles und Manuela Schwesig werden die Dinge wieder richten.

Stagnation der Linken und der Grünen

Zu den Überraschungen zählt für mich, dass die beiden Protestparteien früherer Wahlen sich auf relativ hohem Niveau zu stabilisieren scheinen. Beide haben anscheinend ihre eigene Kernklientel. Bei der Linken sind es gewisse Kreise in den östlichen Bundesländern, bei den Grünen ist es der öffentliche Dienst, und hier insbesondere die Beamten. Die Linken haben dieses Mal sehr an die AfD verloren, die Grünen wohl weniger.

Wiedergeburt der FDP

Die FDP ist wiedergeboren. Das ist eine Leistung, die bisher keine Partei vorzuweisen hat. Das ist weder den Piraten gelungen, noch der Bayernpartei. Warum Christian Lindner auf junge Menschen eine Anziehung ausübt, ist mir nicht klar. Vielleicht hängt es mit seinen frühen unternehmerischen Tätigkeiten als Schüler zusammen. Dass eine ganze Partei, die früher eher als konservativ und altbacken galt, von diesem Image profitiert, ist phänomenal. Das lässt Raum für Erklärungen.

Aufstieg der AfD

Die AfD ist der große Gewinner der Wahl. Dafür kann die Partei selbst sehr wenig. Viele Wähler stimmen nicht dem Programm der Partei zu. Sie haben sie gewählt, um den anderen Parteien einen Lehre oder einen Denkzettel zu verpassen. Diese Wähler hatten vorher Union oder SPD gewählt. Etwa eine Million kamen von der Union, rund 500.000 von der SPD. Im Osten ticken die Deutschen immer seltsamer. Die Sachsen machten die AfD zu ihrer stärksten Partei, knapp vor der CDU. In Sachsen-Anhalt und Brandenburg liegt sie auf Platz 2, vor der Linken. Noch muss ich mir einen genaueres Bild verschaffen.

Dass die AfD fast 100 Abgeordnete in den Bundestag schicken muss, wird ihr einige Anstrengungen abverlangen. Es werden dann auch Leute losgeschickt, die vor allem durch dummes Reden auffallen. Alexander Gauland, Ex-CDU-Mitglied und jetziger AfD-Spitzenkandidat, gibt schon mal die Tonlage vor. Man werde die Bundeskanzlerin ‚jagen‘ und man werde sich Deutschland und das deutsche Volk wiederholen  ̶  was immer dies bedeutet.

Gestiegene Wahlbeteiligung und andere Analysen

Dass die Wahlbeteiligung von 71% in 2013 auf jetzt über 76% gestiegen ist, widerlegt die Thesen, dass der Wahlkampf langweilig war und dass das Wahlvolk politik-verdrossen sei. Bestimmt werden in den kommenden Tagen noch weitere Analysen erfolgen, wenn die Wanderbewegungen und die regionalen Besonderheiten im Detail bekannt sind.

Nachtrag vom 26.9.2017

Folgende Anteile an Zweitstimmen erhielt die AfD in Ostdeutschland: Sachsen 27,0%; Thüringen 22,7; Brandenburg 20,2; Sachsen-Anhalt 19,6; Mecklenburg-Vorpommern 18,6. Im Vergleich Bayern 12,0%; Baden-Württemberg 12,2 und NRW 9,4. Vielleicht gibt das Interview von Wolf Biermann für SPIEGEL Online eine Erklärung. Der Hass auf die Helfer treffe Leute wie Merkel und Gauck. Klaus Küspert verweist auf die Verlierer der Einheit, die 'krebsen und schuften' müssten als die Zurückgebliebenen.

10 Kommentare:

  1. "Warum Christian Lindner auf junge Menschen eine Anziehung ausübt, ist mir nicht klar" - Zu diesem Punkt: Der vermeintliche "Hype" um die FDP erscheint vielen unerklärlich, zumal sich weder Parteimitglieder noch Programm umfassend änderten und die selben "neoliberalen" Inhalte propagiert würden, wegen derer man 2013 aus dem Bundestag flog. Lindner selber analysierte es wie folgt: CDU, SPD und Grüne waren in der letzten Legislaturperiode nicht zu unterscheiden, man sehnte sich nach einer liberalen Gegenstimme. Lindner selber begeisterte durch herausragende Rhetorik und wortgewandtheit. Videos wie dieses
    ( https://www.youtube.com/watch?v=UYBlT8vTTSA )ernteten tausende Aufrufe, was Lindner eine enorme Popularität unter Jungwählern einbrachte. Auch die Themenwahl erwies' sich als clever. Abgewendet von stumpfer Steuerpolitik, hin zu Bildung und Digitalem. Durch das Präsentieren als vermeindliche Alternative zur aktuellen Flüchtlingspolitik durch ihr Einwanderungsgesetz, Zurückhaltung auf europäischer Ebene und einem russlandfreudlicherem Kurs, ließen sich vermutlich auch noch ein paar gemäßigte AFD-Wähler abfangen. Da die Opposition aus Grünen und Linken wenig politisches Interesse weckten, erhoffte man sich durch Persönlichkeiten wie Lindner auch wieder belebtere Diskussionen und Auseinandersetzungen. Bei jungen Leuten schneiden FDP und Grüne gut ab, da sie, entgegen der allgemeinen Meinung, einiges eint:

    1) Sie sind freiheitliche Parteien. Ob Homo-Ehe, Cannabis Legalisierung oder weniger Videoüberwachung, allgemein kann man sie als gesellschaftlich progressiv einstufen

    2) Sie sind zukunftsorientiert. Studenten/Schüler wählen meist noch nicht aufgrund wirtschaftlicher Beweggründe. Renten liegen in ferner Zukunft, Parteien derern Horizont nur bis zur nächsten Legislaturperiode reicht wirken uninteressant. Digitalisierung, Bildung, Klimaschutz... das sind langfristige Themen die helfen als Senior noch eine intakte Wirtschaft und Umwelt vorzufinden

    3) Sie fühlen sich verstanden. Der Einsatz moderner Medien, die Themenwahl und insbesondere das altbackene, konservative, das den Volksparteien anhaftet, denen es an revolutionären Ideen und Jugendpolitik fehlt, treiben Junge Wähler in die Arme von Grünen und FDP

    4) Das Kader. Cem Özdemir und Christian Lindner stechen hier besonders hervor. Humor, Wortwitz, Gelassenheit statt stocksteifer Attitüde. Mal die Hände in der Hosentasche, oder ein Schwank über die Serien die man gerne schaut. Dadurch wirken sie nahbarer als ein Schulz der von seinem Bücherladen in Würselen schwärmt. Anpacker Mentalität. Kein Weiter so, kein Schwarzmalen, sondern ein Aufzählen unbestimmter Mammutaufgaben gepaart mit der Zuversicht, diese durch die eigenen Konzepte zu bewältigen.

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  2. Otto Buchegger au Tübingen schrieb: In meinem Tübinger Stammcafe war heute niemand überrascht vom Wahlausgang. Auch die SPD-Opposition war intern schon lange beschlossene Sache.

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  3. Peter Hiemann aus Grasse schrieb: Ich kann dem Wahlergebnis positive Aspekte abgewinnen:

    Entgegen viel geäußertem Pessimismus, scheinen die Wähler in Deutschland durchaus politisch motiviert zu sein, ihren vielfältigen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.

    Die neue Zusammensetzung des Parlaments bildet Überzeugungen und emotionale Stimmungen der Bevölkerung besser ab als zuvor.

    Eine starke, konstruktive Opposition könnte bewirken, dass potentielle zukünftige Problemsituationen in der Bevölkerung wahrheitsgetreu verbreitet werden (Aufklärung).

    Der Einzug der AfD in Fraktionsstärke kam in der gegenwärtigen politischen Situation nicht überraschend. Ob sich die AfD als nationalistisch orientierte Institution in Deutschland halten kann, wird sich noch herausstellen. Es gibt Anzeichen, dass es in der AfD zu Spaltungen kommen könnte. Frauke Petry hat vielleicht den Anfang gemacht, indem sie sich von den Vertretern 'markiger' nationalistischer Sprüche klar distanzierte.

    Wir können uns vielleicht auf spannendere parlamentarische Auseinandersetzungen freuen. Das hängt allerdings wesentlich auch vom politischen Personal, das sich vermutlich nicht wesentlich verändern wird.

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  4. Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Das Wahlergebnis der CSU bedeutet für Joachim Herrmann, dass er ohne Mandat da steht. Das ist natürlich de jure kein Problem ein Ministeramt betreffend, de facto u. U. schon. Ich hab's nicht recherchiert: In B.-W. vielleicht gleicher Effekt, dass die CDU-Landesliste somit nicht "greift"(?) Der Fluch des "zu guten" Erststimmenergebnisses. Damit wird man freilich locker leben können.

    http://www.sueddeutsche.de/bayern/bundestagswahl-abgewaehlter-spitzenkandidat-1.3682081

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    1. In Baden-Württemberg haben alle 36 CDU-Kandidaten ihre Wahlkreise gewonnen. Über die Landeslisten kommen die folgenden Abgeordneten ins Parlament: SPD 16, Grüne 13, FDP 12, AfD 11 und Linke 6. Bei der CDU kamen keine Kandidaten von der Landesliste zum Zuge.

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    2. Klaus Küspert antwortete: Bin gerade wegen Flugtheorieprüfung morgen eine Nacht in der Region Hahn/Hunsrück. Wie ich höre, hier AfD auch teils gut zweistellig. Strukturschwache Region bekanntlich. Hier "blüht" wenig Da wird auch der neue chinesische Eigentümer von "FRA-"Hahn wenig dran ändern.

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  5. Zwei Tage nach der Wahl rief Emmanuel Macron mittels einer Rede an der Sorbonne die deutschen Parteien dazu auf, sich doch wieder um Europa Gedanken zu machen. Er listete etwa ein Dutzend Aufgaben beginnend mit der Bekämpfung von Terror und Aufständen, der Betreuung von Migranten und Flüchtlingen bis zur Besteuerung von Unternehmen und von Spekulanten. Ohne sie zu nennen, fordert er Angela Merkel und ihre Partner in den Koalitionsgesprächen dazu auf, nicht nur auf das Bestehende zu blicken. Für die Nach-Schäuble-Zeit sollten die Kretschmanns und Özdemirs, die Lindners und Graf Lambsdorffs neue Optionen in Erwägung ziehen, anstatt sich nur um Seehofers rechte Flanke zu kümmern.

    Übrigens, Englisch lässt sich nicht nur in Eaton, Oxford oder Folkstone lernen. Der Tonfall (engl. drawl) aus Irland, Arkansas und Texas ist zwar anders, aber nicht weniger originell. Theresa May’s Predigt in Florenz sollte man schnellstens vergessen.

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    1. Hartmut Werdekind schrieb: Was wir bekommen werden, ist eine "single-issue"-Politik, die die AfD bestimmt und zu erzwingen versucht. So war ja auch zum Schluss der ganze Wahlkampf. Nix Klima und Rente. AfD-Bashing und Gegenbashing. Das hat Joachim Herrmann bitter beklagt.

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  6. Peter Hiemann aus Grasse schrieb: Ich konnte erst heute Wolf Biermanns Einschätzung der Situation im Osten der Bundesrepublik lesen. In wieweit Biermann die wesentlichen Gründe für den sichtbaren Hass auf der Straße benennt, kann ich nicht beurteilen.

    Meine Erfahrungen in der ehemaligen DDR besagen, dass Misstrauen und Angst eine explosive gesellschaftliche Atmosphäre hervorruft. Meines Erachtens ist die derzeitige explosive gesellschaftliche Atmosphäre in Ostdeutschland damit nicht vergleichbar. Mir scheint eher, dass es der AfD dort gelungen ist, mit Methoden politischen Framings erfolgreich zu agieren.

    Die Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling hat ein beachtenswertes Buch geschrieben: „Politisches Framing: Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht“. Wehling wählte folgenden Ansatz: „ Zugrunde liegt die Annahme, dass unser durch Sozialisation erworbenes Weltwissen vom Gehirn organisiert und in Form von Frames abgespeichert wird. Sie werden immer dann abgerufen, wenn es gilt, bestimmte Wörter, konkrete Handlungen oder Situationen richtig zu verstehen. Dazu stellen die Frames jenes Kontextwissen bereit, mit dem das Ereignis interpretiert, bewertet und in das vorhandene Wissen eingeordnet werden kann. Entscheidend ist dabei jedoch, dass Wörter oder Fakten je nach Kommunikationsziel unterschiedlich 'gerahmt' werden“. Wehling betont, dass „Framing immer selektiv und mit Komplexitätsreduktion verbunden ist und somit unser Denken mehr oder weniger unbewusst lenkt“.

    ... (Details zu Wehlings Theorie wurden weggelassen)

    Dass in den neuen Bundesländern relativ viele Rechtsradikale im Vergleich zu Westdeutschland agieren, ist historisch bedingt und hat den Zulauf zur AfD begünstigt. Ich vermute, dass in Ostdeutschland gegenüber Westdeutschland ein paar grundlegende Orientierungen anders geartet sind. Insbesondere könnten weite Kreise Ostdeutschlands einem speziellen geschlossener Orientierungsrahmen verhaftet sein.

    Ein geschlossener Orientierungsrahmen besagt, dass eine Person von sich annimmt, eine effektive (schlaue?) Orientierung zu besitzen, weil sie sich zu vereinfachenden allumfassenden Prinzipien bekennt, etwa zu einem Glaubensbekenntnis, zu unbegrenzten technischen Fortschritt oder zu einer politischen Ideologie. Vieles spricht dafür, dass Personen mit geschlossener Orientierung Mitläufer vorgegebener Vorstellungen sind und sich relativ leicht von populistischen Versprechungen beeinflussen lassen. Meister populistischen Versprechungen bedienen vielfältige Bedürfnisse: Prediger versprechen Paradiese, Heiler versprechen Gesundheit, Popstars versprechen wohltuende Emotionen, Werbung verspricht Wohlstand. Personen, die überzeugt sind, dass der Sinn des Lebens darin besteht, die Gegenwart zu genießen, haben wenig Interesse, sich mit komplexen Aspekten eines Themas zu befassen. Sie befriedigen Bedürfnisse auf pragmatische Weise und orientieren sich mehr oder weniger nach Gefühlen. Personen mit ideologischer Orientierung 'begnügen' sich mit Vorstellungen, die ihnen helfen, eine dominierende gesellschaftliche Stellung zu erhalten.

    Mit anderen Worten: Die Situationen in Ostdeutschland und Westdeutschland sind unterschiedlich, weil deren Bevölkerungen unterschiedliche Erfahrungen und Erkenntnisse repräsentieren. Bevölkerungen in beiden Teilen der Bundesrepublik sind weit davon entfernt, ein offenes Weltbild zu vertreten.

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  7. Hartmut Wedekind schrieb: Die Zentralvokabel der Frau Wehling heißt "Framing" (einen Rahmen bilden, auch eine Metapher). Warum hat die Dame nicht konstruktive Wissenschaftstheorie studiert und gleitet sofort ins Neurologisch-Psychologische ab. Es muss bei denen immer sofort empirisch werden, rational geht nicht.

    "Frames", das sind konstruktiv nichts anderes als "Prädikatorenregeln". Bevor man in die Höhe der Abstraktion steigt, müssen diese Regeln klar sein. Klärung kann z.B. in einem Dialog ("Interaktiv", sagt sie) stattfinden.

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