Mittwoch, 29. August 2018

Digitalisierung im eigentlichen Sinne des Wortes

Wahrscheinlich gibt es allein in Deutschland jeden Monat mehrere Tausend neue Veröffentlichungen zum Thema Digitalisierung. Es gibt kein Fachgebiet, keine Branche, wo das Thema nicht aktuell ist. Schaut man genau hin, so stellt man fest, dass viele der Beiträge das Thema sehr weit fassen. Alles, was früher mal unter elektronischer Informationsverarbeitung oder Automatisierung lief, heißt heute Digitalisierung. Die Digitalisierung im engeren Sinne begann mit dem Zurückdrängen von analogen Maschinen (Analogrechnern und andere analoge Werkzeuge), analogen Medien (Papier, Metall, Schellak) durch magnetische oder elektronische Medien und analogen Netzen (im Kommunikations- und Transportwesen) durch eine digitale Alternative, ein Prozess, der vor rund 50 Jahren einsetzte. Auch der Kollege Peter Mertens wies schon vor Jahren auf diese Begriffsverwirrung hin, geändert hat sich doch nichts.

Im Mai dieses Jahres gab ich Marc Oliver Pahl ein Interview im Rahmen der Feiern zum 50. Jahrestag der Gründung des deutschen ACM Chapters. Das Interview war auf der Webseite des Chapters veröffentlicht worden. Mit Erlaubnis des Autors gebe ich den Text (mit Bildern) hier ungekürzt wieder.

Mensch Sein mit Algorithmen: Marc-Oliver Pahl interviewt Albert Endres

Marc-Oliver Pahl (MOP): Lieber Herr Endres, ich freue mich ganz besonders, Sie als Gründungsmitglied des German Chapter of the ACM heute interviewen zu dürfen. Bitte stellen Sie sich unseren Lesern kurz vor.


Beim modernen Lesen 2016

Albert Endres (AE): Seit 1956 befasse ich mich mit Computern, und zwar zuerst mit der IBM 650 als Austauschstudent in den USA. Von 1957-1992 war ich bei der IBM in Deutschland tätig, zuerst im Rechenzentrums-, danach im Entwicklungsbereich. Ich war beteiligt an der Entwicklung von Programmiersprachen, Compilern, Betriebs- und Datenbanksystemen. Im ominösen Jahr 1968 gründete ich das deutsche Chapter der Association for Computer Machinery (ACM) und nahm an der berühmt gewordenen Software-Engineering-Tagung in Garmisch teil. Ich wurde 1976 an der Universität Stuttgart promoviert und wurde dort Honorarprofessor. In der Gesellschaft für Informatik (GI) leitete ich für 15 Jahre den Fachbereich Softwaretechnik und gab die Zeitschrift ‚Informatik Forschung und Entwicklung‘ heraus. Anfang 1993 übernahm ich eine Lehrverpflichtung in den Neuen Bundesländern (Uni Rostock) und ging danach für vier Jahre als ordentlicher Informatik-Professor an die TU München. Während dieser Zeit leitete ich ein großes Digitalisierungsprojekt.

MOP: Toll, wie vielfältig Sie sich in der Informatik und insbesondere in den beiden großen Verbänden engagiert haben! Welche Auswirkungen der fortschreitenden digitalen Transformation nehmen Sie wahr?

AE: In dem unten vorgestellten und von mir betreuten Blog äußerte ich mich immer wieder zum Thema Digitalisierung. Mein letzter diesbezüglicher Beitrag war im November 2017. Aus ihm stammt der nachfolgende Text nebst Skizze.


Fortschreiten der Digitalisierung

Die Skizze listet Erzeugnisse und Dienstleistungen, mit denen ich täglich persönlich arbeite oder die ich in Anspruch nehme. Vor 50 Jahren standen überall A‘s. Alle Erzeugnisse und Dienste waren analog, also meist auf Papier. Inzwischen gibt es bei mir keine papiernen Zeitungen, Zeitschriften, Fotos und neugekaufte Bücher mehr. Musik und Filme auf Vinylscheiben oder magnetischen bzw. photochemischen Trägern sind auch verschwunden. Die Spalte Verwaltung enthält Planung, Konzeption, Disposition und Abrechnung. Sie taucht fast überall auf. Selbst bei den als analog bezeichneten Diensten ist bei deren Verwaltung die Digitalisierung sehr weit fortgeschritten.

Ich lese wesentlich mehr digitale Bücher, Zeitungen und Zeitschriftenartikel als ich je an analogen Texten konsumierte. Meine ganze Korrespondenz, meine Einkäufe und meine Bankgeschäfte wickle ich rein elektronisch ab, von ganz wenigen Sonderfällen abgesehen. Sportsendungen, Nachrichten und Dokus schaue ich auf iPads oder iPhones an. Mein Gewicht und einige andere Körperdaten verfolgt eine iPhone-App.

MOP: Eine sehr interessante persönliche Perspektive auf die Digitalisierung. Wie wirken Sie selbst an der digitalen Transformation mit?

AE: Während meiner Zeit an der TU München von 1993 bis 1997 bot sich mir eine Gelegenheit, dem Thema Digitalisierung in Deutschland eine Starthilfe zu geben. Unter dem Projektnamen MeDoc, eine Abkürzung für Multimediale elektronische Dokumente, wurden mittels Fördermitteln des Bundesministers für Forschung und Technologie (BMFT) Verlage, Bibliotheken und Hochschulfachbereiche angeregt, ihre papiernen Veröffentlichungen durch elektronische Dokumente zu ersetzen und die Auswirkungen auf Lehre, Forschung und Geschäftsmodelle zu testen. Die Erfahrungen und Ergebnisse sind in einer Vielzahl von Veröffentlichen berichtet. Zwei Referenzen sind unten angegeben. In Zahlen ausgedrückt umfasste das Projekt neun Forschungspartner (mit je 3-4 Mitarbeitern), 24 Nutzerhochschulen und 14 Verlage. Es wurden 60 Bücher digitalisiert und 11 Zeitschriften elektronisch angeboten.


Auswahl von bei MeDoc angebotener eBücher

Rückblickend ist zu bemerken, dass wir uns zu sehr mit der Frage des optimalen Formats für eBücher und eZeitschriften befassten. Alle Verlage entschlossen sich für ein Format (PDF bzw. ePub), das die Ähnlichkeit mit dem gedruckten Text sicherstellte und keine neuen Funktionen zuließ. Man portierte gewohnte Prozesse und Produkte und vermied jedwede revolutionäre Neuerung. Die prototypischen Werkzeuge, die wir damals entwickelten, konnten sich nicht im Markt durchsetzen, da alle Nutzer, die internationale Kontakte hatten, sich für Werkzeuge entschieden, die aus dem US-Markt kamen. Bei meinen beiden Ko-Projektleitern, Andreas Barth vom FIZ Karlsruhe und Arnoud de Kemp, damals beim Springer-Verlag in Heidelberg, fand ich Anregungen und Unterstützung. Der engagierte Einsatz der über 100 Projektbeteiligten ermöglichte den Erfolg.



MeDoc-Vortrag vor Bibliothekaren 1996

Seit dem Jahre 2011 betreibe ich einen Blog, Bertals Blog genannt, zu dem ich die Mehrzahl der Beiträge selbst schreibe. Inzwischen liegen 524 Beiträge vor. Sie hatten bisher über 300.000 Leser. Mehrere Beiträge haben über 2.000 Leser. Die Spitze liegt bei über 5.000. Besonders interessant ist die geografische Verteilung der Leser. Etwa die Hälfte kommt aus Deutschland, der Rest aus etwa 30 anderen Ländern. An der Spitze liegen die USA, Russland, die Ukraine, Frankreich, Spanien und China. Einige Leser kommen aus so entfernten Ländern wie Chile, Tadschikistan und Vietnam. Da alle Beiträge des Blogs in Deutsch verfasst sind, vermute ich, dass es sich bei den ausländischen Lesern primär um folgende Personengruppen handelt: Studierende, Deutschlehrer, Touristen, Geschäftsleute, Diplomaten und Geheimdienstler.

MOP: Ich hoffe, dass wir auch bald so viele Leser haben und mit Ihrem Interview heute bin ich sicher werden es gleich ein paar mehr. Welche Chancen verbinden Sie mit der digitalen Transformation?

AE: Ich möchte vorwegschicken, dass sich die digitale Transformation bei weitem nicht auf das Bibliotheks-, Publikations- und Verlagswesen beschränkt. Bei ihnen sind jedoch alle wesentlichen Aspekte früh erkennbar. Außerdem verfüge ich dort über eigene Erfahrungen. Meine Ausführungen sind bewusst technisch gehalten unter Einbeziehung wirtschaftlicher und sozialer Erwägungen. Dabei stehen die unmittelbaren Nutzer im Fokus, nicht jedoch indirekt betroffene. Die Zukunftssicherheit der Arbeitsplätze eines Waldarbeiters oder eines Buchdruckers bleiben außer Betracht.



MeDoc-Projektbericht 1998 [1].

Über die Vor- und Nachteile digitaler Dokumente habe ich in einem Blog-Beitrag vom Januar 2017 ausführlich diskutiert. Ich will deshalb hier nur eine Zusammenfassung wiedergeben. Es wurden 10 Vorteile gelistet. Der Text selbst ist teilweise der Veröffentlichung [2] entnommen.

  • Benötigte Speicherkapazität: Abhängig vom jeweiligen Aufzeichnungsformat kann Information auf wesentlich kleinerem Raum gespeichert werden, als dies bei analogen Medien der Fall ist.
  • Schnelligkeit der Übertragung: Hat man ein Dokument lokalisiert, lässt es sich innerhalb von wenigen Minuten übertragen, abhängig von der zur Verfügung stehenden Übertragungskapazität. Man braucht weder selbst zur nächsten Bibliothek zu gehen, noch muss dort jemand das Dokument aus dem Regal oder dem Archiv holen.
  • Gleichzeitige Nutzung desselben Exemplars: Ein elektronisches Dokument ist nie ausgeliehen, sofern es entweder online ist oder aber jederzeit vom Offline- in den Online-Zustand gebracht werden kann, d.h. es muss auf einem Rechner angeboten werden, der das Dokument automatisch laden kann.
  • Selektive Informationsverteilung: Analoge Medien haben teilweise das Problem, dass sie Information nur in vorgegebenen, relativ großen Einheiten verteilen können. So erscheint ein Heft einer Zeitschrift erst, wenn eine genügende Anzahl von Artikeln vorliegt. Eine Tageszeitung verteilt Stellenanzeigen an alle ihre Leser, gleichgültig, ob sie am Anfang ihres Berufslebens stehen oder dieses bereits hinter sich haben. Digitale Information kann in beliebig kleinen Einheiten und zielgenau verteilt werden.
  • Weltweite Verfügbarkeit: Es spielt keine Rolle mehr, wo auf der Welt sich ein Dokument befindet. Es ist gleich schnell verfügbar, egal, ob es sich jenseits des Atlantiks oder in der lokalen Bibliothek im Stadtzentrum befindet. Es besteht kein Grund, ein Dokument wegen der geographischen Verfügbarkeit zu reproduzieren.
  • Weiterverarbeitbarkeit: Ein digitales Dokument lässt sich, falls die Codierung und die Formate bekannt sind, auf einem Rechner weiterverarbeiten. Zum Verarbeiten gehören Vergrößern und Verkleinern, Drehen und Wenden, Verbessern und Verdichten, Zerschneiden und Zusammenkleben (die beiden letzten natürlich im übertragenen Sinne).
  • Erschließbarkeit: Ein digitales Dokument kann inhaltlich ganz anders erschlossen werden als ein konventionelles Dokument. Das kann erfolgen entweder basierend auf einer vorgegebenen oder erkennbaren Struktur oder völlig frei, indem der Inhalt Bit für Bit analysiert wird..
  • Integrierte Darstellung verschiedener Medien: Texte und Graphiken lassen sich mit Bewegtbildern (Videos), Tonaufzeichnungen (Audios) und Computer-Simulationen und -Animationen verknüpfen und das in beliebig kleinen Mengen. Es können auf diese Weise pädagogisch optimale Ausdrucksformen kombiniert werden und auf denselben Geräten gespeichert, übertragen und dargestellt werden.
  • Gemeinsame Lagerung: Die bei analogen Medien erforderliche getrennte Lagerung entfällt. Für einen Vortrag oder eine Vorlesung können außer einem Text auch Videoausschnitte (Videoclips) und Animationen gespeichert werden, von einem Experiment werden außer Temperaturmesswerten auch Geräusche registriert und ein Röntgenbild wird mit gesprochenen Kommentaren versehen.
  • Mögliche Kostenersparnis: An die Stelle der Kosten für das Medium Papier oder der anderen Datenträger (Glas, Holz, Metall, Stein, Zelluloid), einschließlich ihrer Lagerung und ihres Transports, treten die Kosten für die Informatik-Infrastruktur.



Vorstellung von Buch [2] auf der GI-Jahrestagung 2000

Ich ergänzte diese Liste, um eigene Erfahrungen, die ich gemacht hatte. Dabei fallen Dinge ins Gewicht, die der Nutzung durch außerhalb einer Großstadt lebende ältere Menschen zugutekommen.

  • Verbesserte Such- und Auswahlmöglichkeit: Digitale Dokumente suche ich nicht nur nach Autor, Titel und Schlagworten. Ich kann direkt nach einzelnen Worten im Text oder im Inhaltsverzeichnis suchen. Ehe ich ein Dokument ganz herunterlade oder gar kaufe, kann ich 20-50 Probeseiten lesen.
  • Variation von Schriftart, Schriftgröße und Beleuchtung: Viele gedruckte Bücher kann ich heute nur noch mit Lupe unter der Schreibtischlampe lesen. Das gilt insbesondere für alle Formen von Taschenbüchern, also die Billigausgaben. eBücher oder der digitale SPIEGEL, die ich per Tablett lese, sind selbst leuchtend und können vergrößert oder verzerrt werden.
  • Nachträgliche Korrekturen, insbesondere Vorwärtsverweise auf später erschienene Dokumente: Digitale Dokumente sind lebende Dokumente. Sie sind nicht mit Tinte gezeichnet oder in Stein gehauen. Als Blog-Betreuer kann ich noch nach Wochen Korrekturen machen oder ergänzende Kommentare zulassen. Ich kann einen Jahre alten, früheren Beitrag mit einem Hinweis auf einen neueren Beitrag versehen.
  • Vollautomatisches Aktivieren aller Referenzen: Die klassische Referenz nur mit Autor und Titel kommt mir vor wie ein abgesägter Arm im Vergleich zu den Möglichkeiten eines Links im Internet. Ich schicke nicht mehr jemand auf eine Expedition in kilometerweit entfernte Bibliotheken, sondern ziehe das Dokument wie an einem Seil direkt zu mir.
  • Automatische Übersetzung in andere Sprachen: Dank der Fortschritte in der maschinellen Sprachübersetzung kann ich einen fünfseitigen deutschen Text in einer halben Stunde in passables Englisch übersetzen. Für Französisch benötige ich etwas länger. Die Hauptsache aber ist, der übersetzte Text ist im gleichen Medium (und anderen, so fern ich es will) sofort überall auf der Welt verfügbar.
  • Gleichbehandlung aller Dokumente unabhängig vom Alter: Es hat mich selbst vollkommen überrascht, dass der am häufigsten besuchte Text meines Blogs ein über fünf Jahre alter Beitrag ist. Wer kümmert sich schon um fünf Jahre alte Beiträge in papiernen Zeitschriften oder Büchern. Sie liegen irgendwo angestaubt in Kisten oder Bücherregalen.
  • Nicht abnutzbar durch Vielfachnutzung: Von der Papierausgabe eines meiner Bücher wollte ein Bekannter zwei Exemplare haben. Er möchte das eine Exemplar nämlich lesen (und dabei evtl. grob behandeln) und das andere weglegen, damit es auch nach Jahren noch unbeschadet ist.
  • Tatsächliche Kostenersparnisse für die Nutzer: Es hat länger gedauert als erwartet, bis die möglichen Preissenkungen im vollen Umfang sichtbar wurden. Seit über zwei Jahren besitze ich ein Abonnement (Skoobe = Umkehrung von ebooks) für 9,99 Euro pro Monat, in dessen Rahmen über 10.000 eBücher angeboten werden. 
Obwohl die obige Liste, wie sie sich aus der Sicht der Nutzer ergibt, schon recht lange ist, sollte nicht vergessen werden, welche Vorteile sich für die Umwelt ergeben. Mein eigener Haushalt und meine eigene Betriebseinheit verarbeiteten früher Berge von Papier, für die irgendwo Bäume starben, chemische Prozesse abliefen, meilenweit Lasten transportiert, die anschließend wieder tonnenweise entsorgt werden mussten. Mein persönlicher Verbrauch an Faservlies, auch Papier genannt, hat sich inzwischen auf Klo-Papier und Taschentücher reduziert. 
 


Im Heimkino 2016

MOP: Welche Risiken verbinden Sie mit der digitalen Transformation?

AE: Auch hier gebe ich zunächst den ursprünglichen Text wieder. Es wurden sechs Nachteile digitaler Dokumente angeführt.

  • Abhängigkeit von technischen Hilfsmitteln: Digitale Dokumente, insbesondere solche in binärer Darstellung, sind für Menschen nicht ohne technische Hilfsmittel zu erstellen und zu nutzen. Diese Abhängigkeit verlangt gewisse Investitionen und Grundkenntnisse, aber auch das Vorhandensein von elektrischer Energie.
  • Leichte Veränderbarkeit: Ein digitales Dokument ist veränderbar, ohne dass Spuren der Veränderung am Dokument sichtbar sind. Soll eine Veränderung verhindert werden oder sichtbar gemacht werden, müssen bestimmte Vorkehrungen getroffen werden.
  • Umfang digitaler Dokumente: Gegenüber einem analogen Dokument gleichen Inhalts kann der Umfang des entsprechenden digitalen Dokuments das 10- bis 100-fache ausmachen.
  • Gefahr von Beschädigung und Verlust: Da die laufende menschliche Sichtkontrolle nicht möglich ist, kann eine Beschädigung oder gar ein Verlust eines digitalen Dokuments eintreten, den man erst sehr spät festgestellt. Es kann durchaus vorkommen, dass man eine nicht-lesbare oder gar leere Diskette erhält.
  • Risiken bei Übertragung über offene Netze: Bei Versand von Briefen und anderen Papierdokumenten gibt der Umschlag eine gewisse Sicherheit gegen ein Mitlesen des Inhalts. Im Prinzip kann jeder Teilnehmer alle Nachrichten lesen, die über ein offenes Netz versandt werden. Die Gefährdung kann sich dadurch ergeben, dass Nachrichten mit empfindlichem Inhalt an Nutzer gelangen, die diese Nachrichten überhaupt nicht haben wollten oder an solche Teilnehmer, die mit Absicht fremde Nachrichten anzapfen.
  • Aufwand für Langfrist-Archivierung: Eine langfristige Archivierung erfordert eine laufende Anpassung an die jeweils nutzbaren Technologien und Formate. Wird dies nicht gemacht, kann es sein, dass bereits nach fünf bis sieben Jahren das Dokument nicht mehr lesbar ist.
Weitere Nachteile digitaler Dokumente kenne ich weniger aus eigener Erfahrung als aus Berichten in den Medien: 
  • Mangelndes haptisches Erlebnis: Offensichtlich sind eBücher (noch) nicht populär als Geschenk für ältere Leute. Deshalb lasse ich ausgewählte Beiträge aus meinem Blog als Sammelband auf Papier drucken. 
  • Verunsicherung traditioneller Geschäftspartner: Das Jammern von Zeitungsverlegern hält schon seit Jahren unvermindert an. 
  • Überhandnehmen von Hass, Polemik und Beschimpfungen: Waren lange Zeit Viren, Trojaner oder Blockierer (DDoS) das Hauptproblem, so sind der schlechte Sprachstil im Netz oder die Falschmeldungen (engl. fake news) heute der Hauptgesprächsstoff. 
Zu erwähnen sind bisher nicht eingetretene Befürchtungen und bisher nicht ausgeschöpfte Möglichkeiten. Der von vielen befürchtete völlige Einbruch der kulturellen Aktivitäten von Autoren und Künstlern ist bisher ausgeblieben. Zwar hat Jaron Lanier, der Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels von 2014, auf die Gefahren hingewiesen, die unserer offenen Gesellschaft drohen, wenn ihr die Macht der Gestaltung entzogen wird und wenn Menschen, trotz eines Gewinns an Vielfalt und Freiheit, auf digitale Kategorien reduziert werden. Es käme darauf an, wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein und der digitalen Welt Strukturen vorzugeben, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern. Die großen Verteiler (also die Dreckschleuderer) seien die wahren Gewinner im Internet und nicht die einzelnen kreativen Schöpfer, beklagt Lanier. Insgesamt scheint dies die Produktion von lesenswertem Material (noch) nicht gestoppt zu haben. Nur so ist zu erklären, dass auf Buchmessen jedes Mal mehr Neuerscheinungen vorgestellt werden als im Jahr davor. Die Möglichkeiten, die in digitalen Dokumenten stecken, sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Einer, der auch diese Meinung vertritt, ist Sascha Lobo. Sein Vorschlag mit dem Namen Social Books (Abk. sobooks) ist nur einer von Vielen. Lobo möchte, dass es bessere Möglichkeiten gibt, Feedback an den Autor zu geben. Außerdem ist er für eine freie Nutzung aller Materialien, weit über das Zitieren hinaus.

MOP: Viele praktische Vorteile und viele relevante Aspekte. Was bedeutet es für Sie, Mensch-Sein mit Algorithmen? 

AE: Der obige Slogan kommt mir fast banal vor. Die Umkehrung ‚Mensch-Sein ohne Algorithmen‘ dagegen hätte mich echt aufhorchen lassen. Es wäre nämlich schlimm, wenn wir plötzlich keine Verfahren mehr hätten, um in endlicher Zeit zu verlässlichen Ergebnissen zu gelangen. Genau das nennt man nämlich einen Algorithmus, und zwar in Anlehnung an Muḥammad Ibn-Mūsā al-Chwarizmi (* um 780; † zwischen 835 und 850) aus Chiwa in Usbekistan. Ich habe 1989 dort sein Standbild gesucht und auch gefunden. 


Bei Al-Chwarizmi in Chiwa 1989

Algorithmen sind neben Datenstrukturen ein Kernelement der Informatik. Nicht alle Algorithmen sind auf Computer übertragbar. Das gilt jedoch für alle mathematischen Algorithmen, wie dem des Euklid oder dem des Eratosthenes. Beide sind über 2000 Jahre alt. Mittels Programmiersprachen können sie heute von Fachleuten in Programme überführt und auf einem Computer ausgeführt werden. Das gilt (noch) nicht für andere Klassen von Algorithmen, z. B. für Kochrezepte. Ich frage mich, ob die Kollegen, die der ACM-Veranstaltung diesen Titel gaben, sich mit Köchen vergleichen und gar anfreunden wollen. Jedenfalls haben sie sich von dem leidigen und technisch anspruchsvollen Thema der Programmiermethoden und der Programmiersprachen freigemacht. Bei Algorithmen glauben auch Leute mitreden zu können, die von Informatik-Fachkenntnissen nicht belastet sind. Es könnte interessant sein zu erfahren, welche speziellen Algorithmen oder welche Gruppen oder Kategorien von Algorithmen heute von besonderer Bedeutung sind, welchen Schwierigkeitsgrad sie besitzen, wem und wo welche zugänglich sind, und vor welchen Algorithmen sich der Mensch in Acht nehmen muss. Mit Mensch sei Wissenschaftler, Fachmann und Laie gemeint. Das könnte sehr spannend werden. 

MOP: Lieber Herr Endres, ich danke Ihnen herzlich für dieses interessante Interview und freue mich, dass wir Sie zu unserem Symposium im September begrüßen dürfen. Ich bin mir sicher, dass einige unserer Leser dort gerne das Gespräch mit Ihnen suchen werden.

Referenzen 
  1. Barth, A., et al. (eds): Digital Libraries in Computer Science – The MeDoc Approach. LNCS 1392, Heidelberg: 1998; 237 Seiten; ISBN 3-540-64493-80 
  2. Endres, A., Fellner, D.W.: Digitale Bibliotheken. Heidelberg: 2000; 494 Seiten; ISBN 3-932588-77-0

2 Kommentare:

  1. Peter Hiemann aus Grasse schrieb: Vielleicht hat das deutsche ACM Chapter sich vorgenommen, etwas Klarheit in die vielfältigen Aussagen hinsichtlich einer möglichen 'digitalen' Gesellschaft zu bringen. Man könnte versuchen, das Thema bzw. den Slogan 'Mensch-Sein mit Algorithmen' unter dem Aspekt des 'ACM Code of Ethics and Professional Conduct' zu bearbeiten. In diesem Sinn ist die Frage 'Was bedeutet es für Sie, Mensch-Sein mit Algorithmen?' eine Aufforderung, die derzeitigen Entwicklungen im Silicon Valley darauf einzuschätzen, wie weit sie der Gesellschaft nützen oder schaden können. Die Frage bezöge sich dann auf Algorithmen, wie sie Google und Facebook aus ihren Nutzerdaten gewinnen. Ähnliche Algorithmen werden bereits in autokratischen Gesellschaftssystemen für Kontrollzwecke missbraucht. Sollte man lediglich an Vorbereitungen für das 'ACM Symposium on Document Engineering' interessiert sein, teile ich Ihre Einschätzung „Der obige Slogan kommt mir fast banal vor“.

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  2. Lieber Herr Hiemann,

    vielen Dank für den schönen Kommentar, der unseren Geist für "Mensch-Sein mit Algorithmen" gut Trifft: was bedeutet es, in der heutigen Welt voller gewollter und ungewollter Interaktion mit Algorithmen zu existieren?

    Eine wichtige Motivation für mich die Interviewserie ins Leben zu rufen war gerade, dass jeder der Interviewten seine eigene Sicht auf die Digitale Transformation kommunizieren soll. Daher sind die Fragen auch bewusst recht breit gestellt.

    Mittlerweile haben wir eine ganze Reihe von Ansichten von lauter interessanten Menschen. Schauen Sie gerne mal rein, was die anderen Interviewten sagen: https://www.menschsein-mit-algorithmen.org/wp/category/mydigitaltransformation/

    Im Blog finden Sie auch mehrere Posts von Gerhard Schimpf gerade über den ACM Code of Ethics. Die Digitale Transformation ist ein sehr spannendes Thema.
    Ich freue mich schon auf unser Symposium am 20.9.2018 und 21.9.2018. Dort wird es viele weitere spannende Einsichten geben.

    Viele Grüße aus München, Marc-Oliver Pahl

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