Montag, 10. Dezember 2018

Nur her mit den Utopien! – meint der Philosoph Richard David Precht

Richard David Precht (*1964) ist Deutschlands bekanntester, derzeit lebender Philosoph und Publizist. Mehrere seiner Bücher sind Bestseller, er fehlt in keiner Talkshow. Wer ihn einmal gesehen hat, wird ihn kaum mehr vergessen. Er trägt mit Abstand die längsten Haare. Er stammt aus Solingen und ist an der Universität Lüneburg und an der Hochschule für Musik in Berlin tätig. Sein neuestes Buch heißt Jäger, Hirten, Kritiker: Eine Utopie für die digitale Gesellschaft (2018, 288 S). Der Titel ist aus einem Zitat aus dem Buch Die Klassenlose Gesellschaft von Karl Marx und Friedrich Engels aus dem Jahre 1845 abgeleitet.

Utopien und Dystopien

Eine Utopie ist eine meist positive Beschreibung einer fiktiven Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist. Der Wortstamm wird von dem griechischen Wort tópos für „Ort“ gebildet. Dagegen bezeichnet die Dystopie ein pessimistisches Zukunftsbild, das auf bedenklichen Entwicklungen der Gegenwart aufmerksam macht und vor deren Folgen warnt. Die Weltliteratur ist voll von utopischen Romanen und Erzählungen, beginnend mit Thomas Moores Utopia von 1516 bis zu Stefan Andres‘ Wir sind Utopia von 1942. Eine bekannte Dystopie ist George Orwells 1984, verfasst im Jahre 1948.

Obwohl Precht sein Buch im Untertitel als Utopie ankündigt, ist es in Wirklichkeit eine Dystopie. Nur ganz am Schluss gesteht er ein, dass er es eigentlich anders gemeint hatte. ‚Der Nährboden für den Pessimismus ist gut und reichhaltig gedüngt [auch von ihm]. Doch wenn alle Pessimisten sind, darf man sicher sein, dass am Ende die Dystopie steht, weil niemand sich bemüht, den Lauf der Welt zum Besseren zu wenden. … Während der Optimist Mut braucht, kann es sich der Pessimist in seiner Feigheit bequem machen. … Pessimismus ist [jedoch] keine Lösung!‘

Kurze Wirtschaftsgeschichte

In der Gesellschaftskunde, auch Soziologie genannt, durchlief die Geschichte der Menschheit mehrere Phasen. Nach dem paradiesischen Zustand der Sammler und Jäger kamen im vorderen Orient Gruppen von Menschen auf die Idee, Tiere zu züchten und Nahrungsfrüchte anzubauen. In Europa, in großen Teilen Asiens, im nördlichen Afrika und in Mittel- und Südamerika wurde der sesshafte Bauer kulturbestimmend. Im viktorianischen England entsprang irgendwann etwas Neues, nämlich die Erzeugung von Energie und die Fertigung von Textilien mit industriellen Methoden, also mittels Maschinen. Das zog fast alle auf ihre Lohnarbeit angewiesen Kräfte aus der Landwirtschaft ab in die angeblich viel besseren Arbeitsverhältnisse in der Industrie. Die Arbeiter ordnen sich dem die Maschinen und Materialien besitzenden Unternehmer unter. Der Manchester-Kapitalismus war geboren.

Wie von Marx und Engels diagnostiziert, führte dieser zur Entfremdung und zu Klassenkämpfen. Gleichzeitig sagten sie seinen Untergang voraus, lagen dabei aber falsch. Der Gedanke des Privateigentums und die dezentrale Planung bewirkten, dass der Kapitalismus überleben konnte. Besonders in Westdeutschland bewährte sich der sogenannte Rheinische Kapitalismus. Hier wurde zum Beispiel die Mitbestimmung erfunden.

Automation und Digitalisierung

In den letzten 20 Jahren sehen Publizisten eine neue Form der Wirtschaft entstehen, die auf Automation und Digitalisierung basiert. Wie bei den oben beschriebenen Umbrüchen werden alte Tätigkeiten durch neue ersetzt. Wurden einst Landarbeiter zu Fabrikarbeitern, so werden jetzt Lohnempfänger zu Kleinunternehmern. Die Wertschöpfung, aber besonders die Güterverteilung erfolgt immer mehr ohne Mittelsmänner. Es wird dezentralisiert, viele Prozesse laufen schneller und effizienter. Es werden Unternehmen und Lebensweisen infrage gestellt. Berufe entfallen ober werden in ihrer Bedeutung verändert. Startups werden zu globalen Firmen innerhalb weniger Jahre.

Die Digitalisierung stelle einen Anschlag auf die Freiheit des Individuums dar, so diagnostiziert Precht. Unsere Politiker fühlten sich nicht dazu berufen, neue Strategien zu entwerfen. Sie hätten Angst vor den Anwälten der GAFA (siehe unten). Anstatt Stress und Beschäftigungsangst müsse die Digitalisierung bei den Nutzern auch positive Wirkungen hervorrufen. Vor allem müsse sie entschleunigen. Sie müsse zu einer Kultur der Achtsamkeit führen, zu langfristigem Denken.

Kapitalistische Dystopie

Die Automatisierung wird zwar sehr stark von der deutschen Industrie getragen, etwa in Form des Einsatzes von Robotern. Bei der Digitalisierung geht der stärkere Impuls eindeutig von Kalifornien aus. Das Silicon Valley hat in den letzten 10 Jahren vier Firmen hervorgebracht, die hier die Spitzen darstellen. Ihre Namen als Großbuchstaben abgekürzt, symbolisieren die neue Wirtschaftsmacht der Welt: GAFA für Google, Apple, Facebook und Amazon. [Andere Autoren rechnen auch Microsoft (wie Amazon aus Seattle) hinzu, und sprechen dann von GAFAM]. Nach der nahe gelegenen Universitätstadt Stanford wurde die neue Wirtschaftsform gleich zum Palo-Alto-Kapitalismus umgedeutet. Dass inzwischen auch drei chinesische Firmen zur Spitze aufgeschlossen haben, ändert nichts an der Terminologie. Zu GAFA gesellt sich halt BAT (Baidu, Alibaba, Tencent). Weitere Mitspieler erwartet man aus Russland.

Die Bedrohung, die Precht und andere Autoren sehen, ergibt sich aus einer vermuteten Mesallianz der besagten Internetkonzerne mit den Geheimdiensten ihrer Länder. Die Freiheit aller ist dann in Gefahr. Wir alle werden dann manipuliert, da die benutzten Algorithmen einen besser kennen als man selbst. Orwells 1984 lässt grüßen. Außerdem werden viele menschliche Fähigkeiten rückentwickelt, so zum Beispiel das Autofahren. Schließlich übernehmen die Transhumanisten und reden uns die Singularität ein. Prechts Sorge drückt er so aus: ‚Techniker haben Menschen noch nie verstanden, warum sollten wir ihnen daher alles überlassen?‘

Sozialistisch verbrämte Utopie

Wenn Maschinen immer mehr Arbeit übernehmen − was nicht zu leugnen ist − entstünde eine Welt ohne Lohnarbeit. Das hat Karl Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue (1842-1911) bereits beschäftigt, aber auch den Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900). Sie plädierten einst für ein Recht auf Faulheit. Auch die inzwischen untergegangene Piratenpartei dachte in diese Richtung. Bei 400 Mrd. € vererbtem Vermögen sei das Wort Leistungsgesellschaft für Deutschland nur noch ein Euphemismus, eine Beschönigung.

Wir müssten endlich dahin kommen, Bildung nicht nur als Befähigung für den Arbeitsmarkt zu verstehen, sondern als Befähigung, um seinem Leben Sinn zu geben. Wir müssten wieder zur ,Vita contemplativa‘ des griechischen Mannes kommen, wo bekanntlich Frauen und Sklaven die Arbeit machten. Die Lösung heißt Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE). Precht schätzt, dass dies mindestens 1500 € pro Monat sein müssen. Es muss höher liegen als Hartz IV inkl. Mietzuschuss. Das sind nämlich 950 bis 1200 €, je nach Stadt. Nur wenige Leute seien dagegen, so der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge (*1951) und der linke Politiker Gregor Gysi (*1948). Für den einen sei es nicht bezahlbar, der andere möchte es nicht auch an Vermögensmillionäre geben.

Da er immer wieder gefragt würde, wo denn das Geld herkommen solle, schlägt er jetzt dafür eine CO2-Steuer und die Finanztransaktionssteuer vor. Das müsse reichen, meint er. Bezahlen sollten auf jeden Fall die Leute, die eh zu viel Geld haben und damit an der Börse spielen. Die Möglichkeit Kryptowährungen wie Bitcoin zur Finanzierung heranzuziehen, schließt Precht aus ökologischen Gründen aus. Bitcoin allein verbrauche bereits so viel Strom wie das EU-Land Dänemark.

Wem das BGE zu wenig ist, soll halt eine private Zusatzrente abschließen. Endlich gäbe es dann eine angstfreie Arbeitskultur. Selbst Kloputzen würde ordentlich bezahlt werden. Es sei keine Frage, ob das BGE kommt, es sei nur eine Frage wann. Wenn es demnächst mehr als fünf Millionen Arbeitslose gibt, sei die Zeit reif.

Gutes und schlechtes Verhalten

Entscheidend für alle wirtschaftlichen Überlegungen sei das zugrunde liegende Menschenbild. Dass der Mensch sich selbst verwirklichen muss, ist vielen Menschen noch gar nicht eingefallen. Über lebenslanges Lernen zu reden, sei meist zynisch (!). Der Trend gehe ohnehin von einer guten Beschäftigung zum schlechten Job. Der Anteil selbständig, aber prekär Beschäftigter steige an (Stichwort: Gig economy).

Am glücklichsten seien Norweger vor Dänen, Isländern und Schweizern. Die USA seien auf Position 14, Deutschland 16, Singapur 39 und China 79 (Quelle: World Happiness Report). Dass Glück mehr ist als nur Wohlstand, das sei offensichtlich, sogar für Amerikaner.

Man sollte nicht immer mehr Geld in MINT-Ausbildung stecken, sondern mehr Wert auf Empathie-Berufe legen wie Ökobauer, Sozialarbeiter und Musiker. Anstatt für Noten sollte man für intrinsische Werte lernen. Auf die Herzensbildung käme es an. Das Internet vernichte urbanes Leben. Es müsse nicht alles perfekt sein. Vor allem sollte man nicht die Leute ruinieren, die von der Seele etwas verstehen, nämlich Geistliche und Künstler. Schon Robert Musil (1880-1942) habe gesagt, logisches Denken schadet der Seele.

Probleme und Lösungen

Alle reden von Lösungen, nur Philosophen und Künstler nicht. Einige Probleme gibt Precht schon zu, die nicht von der Digitalisierung verursacht wurden. Dass es in Deutschland im Jahre 2017 über 3.000 Verkehrstote gab und über 400.000 Verletzte im Straßenverkehr, sollten wir nicht einfach hinnehmen. Ihnen standen 337 Morde gegenüber. Hierzu müssen auch technische Lösungen gesucht werden. In der von der EU verabschiedeten neuen Datenschutzverordnung (DSGVO)  sieht er einen ersten Schritt zur Eindämmung der GAFAs.

Die Künstliche Intelligenz (KI) und das Internet der Dinge (IoT) könnten zu neuen Geschäftsmodellen führen, auch für Europäer. Wenn wir dank des Einsatzes von Robotern wieder Fertigungsaufgaben zurück nach Deutschland verlagern, kann dies in Asien und Osteuropa Ängste verursachen und eventuell neue Migrationsströme auslösen. Es sei denn, dass neue Aufgaben oder Geschäfte hinzukommen. Die Vorstellung, dass es ein fest vorgegebener Kuchen ist, der immer nur neuaufgeteilt wird, scheint auch bei Precht vorzuherrschen. Selbst wenn es Precht (und vielen linken Publizisten) entgangen zu sein scheint, ist dies aber glücklicherweise nicht der Fall.

Schließlich hätten Politiker die Aufgabe, das Menschenbild der Aufklärung zu retten gegen Algorithmen und Maschinen. Der Staat müsse eine Grundversorgung anbieten. Außerdem seien Open-Source-Projekte erforderlich, die der Wiederbelebung einer Almende-Wirtschaft dienen. So und ähnlich träumen heute viele. Lassen wir sie doch weiterträumen!

Donnerstag, 6. Dezember 2018

Von Stephen Hawking zu Blaise Pascal – eine theologisch angefärbte Diskussion

Hartmut Wedekinds Beitrag in seinem Blog über Stephen Hawking löste in meinem Freundeskreis eine Diskussion aus. Ich möchte sie gekürzt wiedergeben.

Zunächst ergänzte Wedekind seinen Blog-Eintrag in einer Mail wie folgt: Der Vatikan hat den Urknall auch als Schöpfung eines Schöpfergottes bezeichnet, was quantenmechanisch nach Hawking nicht stimmt. Sein letztes Buch ist absolut lesenswert. Der Urknall entstand aus dem Nichts. Man hat Hawking aber vor Jahren in allen Ehren im Vatikan empfangen und nicht mehr in den päpstlichen Bann gestellt. Insofern lernte der Vatikan hinzu. Mit der Quantentheorie setzt sich der Vatikan nicht auseinander. Das kann er auch gar nicht, obwohl der Belgier Lemaitre, der den Urknall entdeckt hat, Jesuit war. Die Aufklärung bricht seit Galileo wie ein Wackerstein auf den Vatikan ein. Der Vatikan aber unterliegt regelmäßig (Kopernikus, Galilei, Keppler, und jetzt Hawking) und den Kant hat der Vatikan auch nicht kapiert. So gesehen nehmen die Blamagen kein Ende. Bloß keiner redet mehr darüber, weil der Vatikan erkenntnistheoretisch unerheblich geworden ist.

Hans Diel (HD): Hier nur einige Bemerkungen zu Wedekinds Position.

-    Dass die Religionen bei wissenschaftlichen Fragen besser die größere Kompetenz der entsprechenden Wissenschaftler anerkennen sollten, ist eine Erkenntnis, für die man keine Erkenntnistheoretiker benötigt.

-    Dass Naturwissenschaftler nicht unbedingt die größere Kompetenz bei metaphysischen und ethischen Fragen haben, ist zumindest meine Erkenntnis.

-    Dass sowohl der Vatikan als auch Hawking, erkenntnistheoretisch unerheblich sind, halte ich für einen Fakt. (Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht kundig bin, welche Erkenntnisse der Erkenntnistheoretiker und welche Erkenntnistheoretiker erheblich sind.)

-    Dass die Theorie, dass der Urknall NICHT aus dem Nichts entstanden ist, die WISSENSCHAFTLICH plausiblere Theorie ist, ist womöglich eine sinnvolle Erkenntnis für einen Erkenntnistheoretiker. Klar ist aber auch, dass jegliche Theorie bezüglich "was war vor dem (derzeit angenommenen) Urknall?" nur zu einer (unendlichen) Folge von Urknall-Minus-1-, Urknall-Minus-2-, ....Theorien führt.

Es macht durchaus Sinn, wenn sich Physiker Gedanken machen zu der Frage, was  könnte der Urknall-1 gewesen sein − genauer: Gibt es eine physikalisch sinnvolle Theorie, die erklärt, woraus der derzeit angenommenen Urknall entstanden sein KÖNNTE? Dazu haben einige Physiker Theorien veröffentlicht. Ohne Hawkings Theorie genau zu kennen, glaube ich nicht, dass seine Theorie fundierter ist als die, die ich bisher vernommen habe. Ich vermute, dass Hawking sich auch nicht zu der metaphysischen (oder erkenntnistheoretischen?) Frage geäußert hat, was am Ende (Anfang) der Folge Urknall-1, Urknall-2, .... war und ob diese Folge endlich ist (i.e., ob am Anfang das Nichts war). Zu dieser Frage gestehe ich dem Vatikan genau so viel Kompetenz zu wie Hawking.

Im Übrigen verehre ich Einstein als Physiker, selbst da wo er widerlegt wurde. Für mich ist er der Größte. Zu Fragen, die nicht die Physik betreffen, ist für mich Einsteins Meinung nicht interessanter als die von Heisenberg, Dürr (einem Schüler Heisenbergs), Gödel (einem Freund Einsteins), Hawking, Penrose oder Hilbert.

Peter Hiemann (PH) Ich habe Hartmut Wedekinds Blog-Eintrag wie folgt kommentiert: Einstein äußert sich klar in einem seiner ganz späten Briefe (1954 an den jüdischen, deutsch-amerikanischen Religionsphilosophen Eric(h) Gutkind), in dem er sich ein Jahr vor seinem Tod explizit vom Begriff „Gott“ und der Bibel distanzierte: „Das Wort Gott ist für mich nichts als Ausdruck und Produkt menschlicher Schwächen, die Bibel eine Sammlung ehrwürdiger aber doch reichlich primitiver Legenden. Keine noch so feinsinnige Auslegung kann (für mich) etwas daran ändern.“

Auch das Judentum kommt in dem Brief nicht gut weg: „Für mich ist die unverfälschte jüdische Religion wie alle anderen Religionen eine Incarnation des primitiven Aberglaubens. Und das jüdische Volk, zu dem ich gerne gehöre und mit dessen Mentalität ich tief verwachsen bin, hat für mich doch keine andersartige Originalität als alle anderen Völker. Soweit meine Erfahrung reicht ist es auch um nichts besser als andere menschliche Gruppen wenn es auch durch Mangel an Macht gegen die schlimmsten Auswüchse gesichert ist. Somit kann ich nichts ‘Auserwähltes‘ an ihm wahrnehmen.“

Hartmut Wedekind reflektierte meinen Hinweis auf Einstein: "Schönen Dank. Der späte Sinneswandel eines Albert Einstein war mir nicht bekannt. Wenig überrascht hat mich im Wikipedia-Beitrag für Georges Lemaitre, Jesuit und einer der Entdecker des Urknalls, die folgende Bemerkung: „Auf einer Tagung im November 1951 akzeptierte die Päpstliche Akademie der Wissenschaften Lemaîtres Theorie. Papst Pius XII. führte in einem abschließenden Vortrag aus, der mit dem Urknall zeitlich festlegbare Anfang der Welt sei einem göttlichen Schöpfungsakt entsprungen.“ Bei Hawking können wir nachlesen, dass diese Auffassung nicht haltbar ist. Wie so oft scheint die Kirche sich in kosmologischen Fragen wieder einmal zu irren. Vielleicht dauert es wie im Falle Galilei wieder 300 Jahre, bis man aus einem mythologischen Traum erwacht. „Schuster bleib bei deinen Leisten“, ist ein bekanntes deutsches Sprichwort." Soweit Wedekind.

Ich möchte noch klarstellen: Ich nehme unterschiedliche religiöse Vorstellungen zur Kenntnis. Ich halte jedoch eine fortlaufende Kommunikation zwischen Gläubigen und Ungläubigen für gemeinschaftlich 'sinnlos', weil sie auf beiden Seiten nicht zu Erkenntnis beiträgt. In diesem Sinn halte ich auch nichts vom Begriff 'Verehrung'. Kommunikation funktioniert nur auf der Basis, dass Vorstellungen 'respektiert' werden, und wenn es möglich ist, 'kooperierende' Gedanken ausgetauscht werden (Niklas Luhmann: Systemtheorie).

Bertal Dresen (BD): Ich habe folgenden Kommentar zu Wedekinds Blog-Beitrag hinterlassen: Viele Wissenschaftler wehren sich dagegen, wenn man sie als Atheisten bezeichnet. Damit unterstelle man ihnen, etwas zu wissen, was sie nicht wissen können. Sie bevorzugen die Bezeichnung Agnostiker. Andere wiederum bezeichnen dies als eine nicht akzeptable Ausrede. Man kann sich doch nicht ein Leben lang dumm stellen, um sich ja nicht zu einer Entscheidung durchringen zu müssen. Blaise Pascal (1623-1662) meinte, es sei die bessere Wette an Gott zu glauben. Der zu erwartende Gewinn sei dann größer als der zu erwartende Verlust.

PH: Blaise Pascal unterstellte, dass alle Menschen wetten müssen, ob es Gott gibt oder ob es ihn nicht gibt: "Es muß gewettet werden, das ist nicht freiwillig, ihr seid einmal im Spiel und nicht wetten, daß Gott ist, heißt wetten, daß er nicht ist. Was wollt ihr also wählen? [...] Ihr habt zwei Dinge zu verlieren, die Wahrheit und das Glück und zwei Dinge zu gewinnen, eure Vernunft und euern Willen, eure Erkenntniß und eure Seligkeit, und zwei Dinge hat eure Natur zu fliehen, den Irrthum und das Elend. Wette denn, daß er ist, ohne dich lange zu besinnen, deine Vernunft wird nicht mehr verletzt, wenn du das eine als wenn du das andre wählst, weil nun doch durchaus gewählt werden muß. Hiemit ist ein Punkt erledigt. Aber eure Seligkeit? Wir wollen Gewinn und Verlust abwägen, setze du aufs Glauben, wenn du gewinnst, gewinnst du alles, wenn du verlierst, verlierst du nichts. Glaube also, wenn du kannst.“

Pascal irrte, dass man die von ihm vorgeschlagene Wette eingehen muss.  Dem Irrtum, nicht zu glauben, und das Risiko, Höllenqualen zu erleiden, muss man nicht 'fliehen', wenn man die Wette verweigert. Dagegen ist es meines Erachtens immer  gewinnbringend, sich ohne zu grosse Erwartungen auf die Suche nach real verifizierbaren  Erkenntnissen zu begeben. In diesem Fall stellt sich die Frage nach gottgegebener Schöpfung nicht. Pascal hatte übrigens recht: Wer nicht an Gott glaubt und Gott doch existiert, hat am Ende gar nichts verloren, wenn er sich weiterhin der Suche nach real verifizierbaren  Erkenntnissen widmet.

Mit anderen Worten: Wer Pascals Wette nicht eingeht, ist vielleicht ein Atheist, der den Glauben an Gottes Existenz verwirft, oder ein Agnostiker, der sich nicht für Gott entscheiden kann oder will. Für mich und viele Wissenschaftler ist der Begriff 'Gott' ohne Bedeutung. Ich kann mir nicht vorstellen, wie der Glaube an gottgegebene Schöpfung zu einer physikalischen Erkenntnis beitragen kann.

HD: Ich stimme Ihrem letzten Satz voll zu. Ich gehe sogar noch weiter. Ich meine, dass auch ein gottgläubiger Physiker bei der Suche nach physikalischen Erkenntnissen immer von der Prämisse ausgehen muss, dass Gott dabei keine Rolle spielt (höchstens bei der Erfindung der Gesetze). Andererseits, wenn ein Physiker beim Betrachten der Schönheit der physikalischen Gesetze, sich in seinem Gottesglauben bestärkt sieht (ich kenne viele, bei denen dies der Fall ist), ist er deshalb natürlich auch kein schlechterer Physiker.

BD: Bekanntlich ist Pascals Name unter Informatikern deshalb so vertraut, weil Niklaus Wirth einer der vielen von ihm erfundenen Programmiersprachen diesen Namen gab. Ich glaube, dass Wirth sich dabei weniger von den theologischen Gedanken Pascals leiten ließ, als von seinen mathematischen Leistungen. Wer kennt zum Beispiel nicht das Pascalsche Dreieck. Es ist die Darstellung von Zahlen so, dass sich daraus gewisse Gesetzmäßigkeiten leicht erkennen lassen. Leider starb Pascal bereits mit 39 Jahren. Er ist dennoch unvergessen.