Freitag, 27. Dezember 2019

Opas weihnachtliche Gedanken zur Wirtschaft

Nach der weihnachtlichen Bescherung von Kindern und Enkelkindern durfte der Großvater dieses Jahr eine kurze belehrende Ansprache für die Familie halten. Um der Gelegenheit gerecht zu werden, musste er sich kurz fassen. Hier die vollständige Version.

Rolle des Geldes

Geld ist nicht nur das, was einem täglich begegnet. Münzen sind gerade dabei auszusterben. Papiergeld ist als Nächstes dran. Was uns bleibt, ist Buchgeld. Bezahlen wird man nur noch digital. Das dafür wichtigste Gerät ist das Smartphone. Es ist nicht nur Uhr, Navi, Radio oder Fernseher. Es ist auch Portemonnaie. Andere Computer lassen sich für diesen Zweck auch verwenden – allerdings meist nur mit Einschränkungen. Eine ist, dass man sie nicht in der Hosentasche herumtragen kann. Es kann aber auch sein, dass bestimmte Fähigkeiten fehlen, wie etwa ein QR- oder Barcode-Scanner.

Ein geringer Teil des auf Konten verfügbaren Geldes ist außerhalb von Banken entstanden. Die Banken schaffen laufend neues Geld, und zwar durch die Vergabe von Krediten. Sobald ein Kredit zugeteilt ist, ist der Unterschied zu andern Geldquellen nicht mehr sichtbar. Jeder Kredit hat eine beschränkte Laufzeit. Es können dies 50-100 Jahre sein. Danach kann er aber durch einen neuen Kredit abgelöst werden. Die Kredite, die normale Banken ausgeben, lassen diese sich durch Güter der Realwirtschaft decken, d.h. absichern. Dennoch kann das durch Kredite geschaffene Geld den Wert aller Güter der Realwirtschaft überschreiten.

Zinspolitik der Währungsbanken

Die für uns maßgebenden Währungsbanken (Fed, EZB) haben die Aufgabe, den Wert ihrer jeweiligen Währung (US-Dollar, Euro) zu schützen. Ihre Hauptsorge ist eine Deflation. Das ist ein Zustand fallender Preise. Dann hat die Realwirtschaft keine Motivation zu investieren. Dieses Risiko wird abgewendet, indem man 2% Inflation zulässt. Früher glaubten die Währungsbanken, dass sie das im Umlauf befindliche Geld in Grenzen halten müssten. Bei Buchgeld besteht diese Notwendigkeit nicht. Das Anwachsen der Geldmengen ist keine Inflation.

Die Währungsbanken erteilen den Geschäftsbanken ihrerseits Kredite, ohne dass dafür Kosten anfallen. Anstatt früherer 5-6% zahlen die Geschäftsbanken jetzt 0% Zinsen (Lombardzinsen genannt) an die Zentralbank. Im Extremfalle werden sogar negative Zinsen erhoben, d.h. die Zentralbank bestraft das Horten von Geld. Geschäftsbanken gehen in derselben Weise mit ihren Kunden um, also den Unternehmen und den Privatpersonen. Geld ist ein Schmiermittel der Wirtschaft. Nur das zählt, sonst nichts. Schmiermittel zu horten, ist von Übel.

Im Gegensatz zu dem, was oft in der Presse verlautet, ist die Nullzinspolitik der Banken das Beste, was Sparern passieren kann. Man sollte Mario Draghi in Frankfurt ein Denkmal setzen, anstatt ihn zu beschimpfen. In einem früheren Blog-Beitrag schrieb ich dazu:

Durch die Politik des billigen Geldes werden Leute, die sich bisher keine Gedanken darüber machten, wo man Geld nützlich verwenden könnte, plötzlich gezwungen selbst nachzudenken oder sich klug zu machen.

Es erscheint mir schon merkwürdig, wenn namhafte Autoren und Wissenschaftler dafür argumentieren, dass es gut sei, wenn man ihr Publikum dumm halte.

Anlage in guten Firmen

Es ist eine beliebte Form der Volksverdummung, wenn man die Mär verbreitet, dass Geld ‚arbeitet‘. Weder Münzen, noch Scheine, noch Buchgeld tun etwas. Auch dann nicht, wenn es bei Banken auf einem Sparbuch-Konto liegt. Geld arbeitet nur, wenn es von guten Firmen aus der Realwirtschaft genutzt wird. Banken könnten dabei helfen, diese Firmen zu finden. Sie tun dies aber immer weniger. Der Grund: Sie haben den Kontakt verloren.

Kriterien für gute Firmen sollte jedes Kind kennen. Die zwei wichtigsten seien hier genannt. Nummer Eins heißt: Der Gewinn der Firma muss ausreichen, um seine Schulden zu bezahlen. Im Fach-Jargon: EBITA (Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen, engl.: earnings before interest, taxes and amortization) muss positiv sein, und das über mehrere Jahre hinweg. Nummer Zwei heißt: Das Geschäftsmodell muss Sinn machen, d.h. die Firma sollte etwas anbieten, was Kunden gebrauchen können und was ethisch oder moralisch einwandfrei ist.

Vier besonders gute Beispiele

Im Folgenden seien kurz vier Firmen aus der Informatik-Branche erwähnt, einer Branche, die ich zufällig recht gut kenne. Es gibt gute Firmen in vielen Branchen, große und kleine Firmen, alte und neue.

  • IBM: Für große Rechner erschloss man außer technisch/wissenschaftlichen auch kommerzielle Anwendungen. Dann erfand man den PC und Programme als Produkte. Beides überließ man anderen. Damit verlor die IBM-Aktie schnell ihre Attraktivität.  
  • Apple: Steve Jobs sah im Telefon einen Computer und packte beide zusammen. Er nahm stolze Preise, so wie einst IBM. Dann begann er damit, Musik online zu verkaufen. IBM war sich zu schade dafür.
  • Google: Die zwei Stanford-Studenten Jerry Page und Serge Brin machten aus ihrer Dissertation ein Produkt, die beste Suchmaschine der Welt. Sie verkauften Werbeplatz in der Nachbarschaft von Suchbegriffen. Sie versteigerten sozusagen unsere Sprachen. Außerdem können sie sagen, welche Werbung gelesen wird – was kein klassischer Werbeträger kann − und lassen sich das bezahlen. Sie rechnen dafür Bruchteile von Pennies ab. Erst die Masse macht dann – wie so oft − das Geschäft.
  • Amazon: Jeff Bezos war an der Wall Street tätig, als das Internet aufkam. Da er seinen Chef vom Potential desselben nicht überzeugen konnte, machte er sich selbständig. Zuerst verkaufte er Bücher, danach Alles, was sich online verkaufen lässt. Das Internet schlägt den ortsgebundenen Einzelhandel haushoch durch bessere Information und besseren Service. Bezos konzentrierte sich immer nur auf Marktanteile. Rendite war ihm sekundär.

Ich habe über diese Firmen ausführlich in diesem Blog geschrieben. Ich selbst hatte bzw. habe Aktien aller dieser Firmen. Sie haben mir sehr viel Freude gemacht. Hier eine Übersicht über die Jahresschlusskurse:



Zwei recht gute deutsche Firmen

Bei der Aktie der Firma Allianz konnte man in fünf Jahren bescheidene 300% Kurssteigerung mitnehmen. Bei den Volks- und Raiffeisenbanken gibt es keine Aktien, sondern nur Genossenschaftsanteile. Hätte man Nicht-Genossen reingelassen, wären die Genossen möglicherweise zu schnell reich geworden und damit untreu.

Nicht so gute Firmen

Wo es gute Firmen gibt, gibt es auch schlechte. Wenn der Staat einschreitet, um zu helfen, ist es meist recht schlimm oder schon zu spät. Ein Beispiel aus der Bankenbranche heißt Commerzbank. Und wer gibt noch einen Pfennig für die einst so berühmte Deutsche Bank?

In unserer Branche sehe ich die Firma Facebook als ein Übel an. Diese Firma hat ein Geschäftsmodell, das man als unethisch bezeichnen darf. Sie verdient ihr Geld mit der persönlichen Information, die Nutzer ihr über sich selbst geben oder gegeben haben. Auch darüber habe ich in diesem Blog ausführlich geschrieben.

Freitag, 20. Dezember 2019

Zur wirtschaftlichen und politischen Gemengelage am Jahresbeginn 2020


Der bevorstehende Jahreswechsel gibt Veranlassung etwas über die derzeitige wirtschaftliche und politische Situation nachzudenken. Ein Beispiel offerierte der Journalist Gabor Steingart. Er betrachtete einen Ausschnitt, nämlich die allgemeine Wirtschaftslage. Das ist aber längst nicht alles, was einen beschäftigen kann und sollte. Seine Sicht deckt sich nicht mit der Sicht anderer maßgeblicher Meinungsmacher. Immerhin lieferte er die Anregung zu diesem Beitrag. Im Folgenden wird der Bogen etwas weiter gespannt. Ich gebe meistens eine Art von Vorlage (so wie der Ausdruck im Fußball verwendet wird), auf die Leser reagieren können. Die Auswahl der Themen ist weder systematisch, noch vollständig.

Gabor Steingarts wirtschaftlicher Ausblick

Der Journalist und Blogger Gabor Steingart verteilt an jedem Werktag ein so genanntes Morning Briefing. Am 19.12.2019 schrieb er:

… die Rezession des Jahres 2019 blieb weitestgehend ein mediales Phänomen („SZ“: „Es droht die nächste große Wirtschaftskrise“), das seine Reichweite durch die politische Apokalyptik erhielt. Olaf Scholz gefiel sich mit dem Satz: „Die fetten Jahre sind vorbei“. Das stimmte, aber nur in Bezug auf die Karriere von Scholz. Die Realwirtschaft dagegen wird in 2020 erneut durchstarten. Die Prognosen von IWF und OECD zeigen eine Weltwirtschaft im Wachstum. Auch die Stimmungsdaten des Münchner Ifo-Instituts zum Geschäftsklima deuten auf eine optimistisch gestimmte Unternehmerschaft hin. Sieben Gründe sprechen dafür, dass wir auf absehbare Zeit keine Rückkehr zum traditionellen Konjunkturzyklus erleben und womöglich sogar vor einem Jahrzehnt weltweiter Prosperität stehen:

Erstens: In den kommenden 30 Jahren steigt die Weltbevölkerung von fast 7,7 Milliarden auf rund 9,6 Milliarden Menschen, sagt die OECD. Ein Anstieg von etwa 25 Prozent. Wenn die Staatengemeinschaft nicht alles falsch macht, bedeutet dieser Zuwachs eine nie dagewesene Stimulierung von Kaufkraft und Wirtschaftsleistung.

Zweitens: Die Notenbanken in Europa, den USA und Asien fluten die Geldmärkte. Das treibt die Aktienkurse. Zugleich findet die wundersame Geldvermehrung über die laxe Kreditvergabe der Banken ihren Weg in die Realwirtschaft. Nahezu risikolos können Investitionskredite aufgenommen werden

Drittens: Die Welt fühlt ökologisch, aber lebt hedonistisch. Die Lust auf Kaffeekapseln, Onlineshopping und Billigflüge ist ungebrochen, wovon die großen Konsumartikelhersteller Nestlé, Procter & Gamble, PepsiCo, aber auch Walt Disney, McDonald’s und Netflix profitieren. Die Aktie von PepsiCo hat sich seit Jahresbeginn um 30 Prozent im Wert gesteigert. Die Aktie von Walt Disney legte um 40 Prozent zu. Diese Wertpapiere erzählen die Geschichte einer Gesellschaft, die anders handelt, als sie redet.

Viertens: Wir erleben die Gleichzeitigkeit von Globalisierung und Digitalisierung, was einen Wachstumsturbo ohne historisches Vorbild bedeutet. Die wachstumsfördernde Wirkung der Fließbandproduktion, wie Henry Ford sie einst in Detroit erfand, wird durch die heutige Kettenreaktion der Innovation um ein Vielfaches übertroffen.

Fünftens: Die Welt hat gelernt, mit ihrer Überforderung zu leben. Trump, Johnson, Putin, Erdoğan und Bolsonaro amüsieren das Publikum, aber ängstigen es nicht. Nirgendwo auf der Welt gibt es Anzeichen für eine Angststarre, die zur Konsumverweigerung führen könnte.

Sechstens: Die beschleunigte Emanzipation und damit der Eintritt gut ausgebildeter Frauen in das Erwerbsleben bedeutet eine enorme Steigerung der Produktivkraft. Allein seit 2002 stieg die deutsche Erwerbstätigenquote der Frauen von 62 Prozent auf zuletzt 76 Prozent. Die ehemals stillgelegten Potenziale kommen zur Entfaltung.

Siebtens: Die Qualifizierung der Menschen und damit die Anreicherung der Erwerbspotenziale schreiten in Europa voran. Seit 2009 verfügen rund 50 Prozent der EU-Bürger über einen Bildungsabschluss im Sekundarbereich II (Abitur). Im tertiären Bildungsbereich (zum Beispiel Universitäten und Hochschulen) stieg die Quote von über 22 auf knapp über 30 Prozent.
Fazit: Die Wachstumskräfte wirken mit hoher Dynamik und in voller Breite. Selbst mit Vorsatz dürfte es nicht leicht sein, die Weltkonjunktur abzuwürgen. Erst die Gleichzeitigkeit einer weltweiten Terrorserie, einem wuchtigen Ölpreisanstieg und den Ansteckungseffekten einer zahlungsunfähigen Bank könnte die Weltwirtschaft in die Knie zwingen. Dieses Szenario beschäftigt bisher lediglich das Genre der Crash-Literatur.

Peter Hiemann aus Grasse reagierte darauf wie folgt:

Ich halte Steingarts Einschätzungen für zu kurz gegriffen und auch für leichtfertig.

1. Er übersieht die Probleme, die durch weltweites Bevölkerungswachstum entstehen.
2. Die wundersame Geldvermehrung findet derzeit selten ihren Weg in die Realwirtschaft.
3. Wertpapiere erzählen nur einen kleinen Teil der Geschichte einer Gesellschaft.
4. Globalisierung und Digitalisierung bedeuten sowohl ökonomisches Wachstum als auch
    Ursache für ökonomische Konfrontationen.
5. Bevölkerungen amüsieren sich nicht über Trump, Johnson, Putin, Erdoğan und
    Bolsonaro, sie polarisieren sich.

Steingart übersieht, dass veränderte Umwelt- und Gesellschaftsverhältnisse dazu zwingen, auch politische Rahmenbedingungen und ökonomische Prozesse zu verändern.

Europas erhoffte Revitalierung

Eine neue EU-Kommission hat ihre Arbeit begonnen. Die Präsidentin Ursula von der Leyen wurde mit vielen Vorschusslorbeeren ins Amt gehoben. Ihr erstes großes Thema, die Umwelt, wurde ihr von außen aufgedrückt. Mit der Ausnahme Polens konnte sie sogar schon alle Mitgliedsstaaten auf die neue Richtung einschwören. Die Frage bleibt, wie konkret werden die Maßnahmen, die von der EU-Kommission veranlasst werden und wie wirken sie.

Sollten die Regierungen es schaffen, hier an einem Strang zu ziehen, so ist noch längst nicht sicher, dass auch die Wirtschaft und die Bevölkerung mitziehen. Die Sorge besteht, dass Wohlstand und Wachstum leiden. Sobald der Eindruck entsteht, dass einzelne Gruppen gewisse Besitzstände verlieren können, formt sich Widerstand. Das haben uns vor allem die Franzosen vorgemacht.

UK in selbstgewählter glorreicher Isolation

Boris Johnson hat einen fulminanten Wahlsieg errungen und kann jetzt seinen Weg gehen, so wie er dies möchte. Der Brexit ist unausweichlich geworden. Offen ist jedoch seine Gestaltung. Bisher vermied man es, konkret zu werden. Das wird sich jetzt ändern. Ich erwarte, dass die anstehenden Verhandlungen schwierig werden, hat doch die Rest-EU einige Vorstellungen, die bei den Tories nicht sehr beliebt sind, etwa die Sicherung von Arbeitnehmerrechten.

Der von Johnson gehegte Wunsch, dass jetzt die USA die englische Wirtschaft verhätscheln, mag zwar bestechend sein, hat aber Tücken. Als Kolonialisten haben die USA keinen besonders guten Ruf, siehe Puerto Rico und die Philippinen. Als 51. Bundesstaat der USA könnte man sich dem Beispiel Nevadas annähern. Orte mit Spielcasinos wie Las Vegas und Reno leben zwar gut, ihre kulturelle Ausstrahlung ist jedoch gering. Das mag nicht alle Briten glücklich machen. Hongkong und Singapur scheiden als Vorbild aus. Dafür ist der Anteil fleißiger Chinesen noch zu gering.

Deutschlands müde Realisten

Manchmal entsteht der Eindruck, dass es bei uns nur noch resignierende Politikerinnen gibt. Kanzlerin Angela Merkel scheint sich im Ukraine-Konflikt in einer Weise zuständig zu fühlen, dass andere Fragen zurücktreten müssen, vor allem alles, was Deutschland betrifft. Hier hat sie eine designierte Nachfolgerin, Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK). Diese arbeitet sich immer noch ein. Ihre derzeitigen Projekte gereichen einem Gesellen durchaus zur Ehre, zum Meister ihres Fachs muss sie sich aber noch qualifizieren.

Die SPD hat ihre halbjährige Nabelschau beendet und sortiert ihr neues Personal ein. Von den übrigen Parteien erwarte ich keinen politischen Gestaltungswillen, der das Land verändert. Da schließe ich die ach so bewunderten Grünen mit ein.

In dieser Situation erwarte ich weder, dass neue Ideen bezüglich technisch-wirtschaftlicher Potentiale aufgegriffen werden, noch dass die Gesellschaft an sich flexibler und durchlässiger wird. Ich habe auch wenig Hoffnung, dass Beweger von außerhalb der Politik den nötigen Schwung generieren. Berlin ist halt kein Silicon Valley, Hamburg und München scheinen nicht interessiert zu sein.

USA und Trump gewöhnen sich aneinander

Ein Telefonat mit dem neugewählten Präsidenten der Ukraine ist von den oppositionellen Demokraten zum casus belli gegen Präsident Donald Trump hochstilisiert worden. Sie unterliegen anscheinend der Illusion zu glauben, dass der Mann oder die Frau im Volke dies ebenso gewichten. Da scheinen sie sich zu täuschen. Trump weiß dies auch, und wird aus der Anklage Kapital für eine Neuwahl schmieden.

Trump ist ein Enfant terrible. Das war er und das wird er bleiben. Wie obiges Beispiel zeigt, verfügt es aber über eine Art von Schläue (das Wort Bauernschläue drängt sich auf, ist aber falsch), die ihm hilft, aus allen peinlichen Situationen herauszukommen. Es ist ziemlich fest damit zu rechnen, dass er die Wiederwahl gewinnt.

Trump hat seinen Stil längst gefunden, wie er mit dem Rest der Welt umgeht. Er fährt jeden ausländischen Politiker so hart an, dass dieser erschrocken zusammensackt. Hat er sich erholt, darf er wiederkommen.  Wer sich von Vornherein als Schoßhund gebiert, darf dies tun. Er gewinnt dadurch jedoch keinen Respekt. So ist es Emmanuel Macron ergangen.

Putins Russland wird immer mutiger und fordernder

Putin und seine Freunde befinden sich derart lange und sicher im Sattel, dass sie sogar Fehler zugeben können. So geschah es bei einem Mord, mit dem der Geheimdienst einen Gegner entfernte. Er beschimpfte dafür Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass Deutschland den Auftragsmörder nicht auslieferte. Inzwischen hat er den Fehler eingesehen und schweigt.

Russland ist nicht leicht kleinzukriegen. Die Sanktionen, die der Westen verhängte, als Russland die Krim annektierte, dauern bereits drei Jahre. Sie können noch 10 Jahre dauern, dann hat Russland für alle daduch verurachten Probleme eine Lösung gefunden. Meist sind es Geschäftsleute aus dem Westen, die Russland helfen. So wird Russland demnächst Kuhmilch und Butter exportieren, die aus Betrieben kommen, die ein deutscher Unternehmer aufbaute, als der Import von Milch und Butter verboten wurde. Wer Russland etwas nicht zutraut, ist dies selber schuld. Diesen Fehler macht man nur einmal.

China expandiert seinen Einflussbereich weiter

Immer mehr Länder sehen die Vorteile, die ihnen eine gute Geschäftsbeziehung zu China einbringt. China belohnt dies mit Investitionen, besonders in Entwicklungsländern. Das Projekt Neue Seidenstraße vermittelt Chinas globale Denkweise. Man darf in allem das stets freundliche Gesicht eines chinesischen Geschäftsmanns erwarten − auch dann, wenn der Staat involviert ist. Man kann sich dafür eventuell einen Konflikt mit den USA einhandeln. Dieser besteht aber meistens nur vorübergehend, weil nämlich die USA ihre Politik gegenüber China ändern.

Viel gravierender ist es, Chinas Interessen in Tibet oder in Xinjiang entgegen zu wirken. Wer dies tut, muss mit einer harten Gegenreaktion Chinas rechnen.

Donnerstag, 12. Dezember 2019

Ökosoziale Orientierung (Essay von Peter Hiemann)


Das ökosoziale Paradigma verbinde ich mit dem Ulmer Informatiker Franz-Josef Radermacher. Im Jahre 2016 befassten sich gleich zwei Beiträge dieses Blogs mit ihm. Im April fasste ich zwei seiner Vorträge zusammen, die er im Abstand von sieben Jahren gehalten hatte. Im Juni erläuterte Radermacher in einem Interview sowohl sein wissenschaftliches Werk wie seine politischen Ideen. Hier erklärte er die von ihm vertretene ökosoziale Marktwirtschaft wie folgt:

Seit der Weltfinanzkrise hat sich in diesem Kontext die internationale Politik von der marktfundamentalistischen „Freie-Markt Philosophie“ in Richtung so genannter grüner und inklusiver Ökonomien (engl. green and inclusive economies) bewegt, was nichts anderes ist als unsere langjährige Position des Eintretens für eine weltweite Ökosoziale Marktwirtschaft. … Die Grünen betonen sehr stark den Aspekt Umwelt, sozialdemokratische Parteien die Frage des Sozialen, christdemokratische Parteien die Verantwortung im Sinne des christlichen Menschenbildes und die Liberalen das ebenso wichtige Thema der Freiheit. Im ökosozialen Modell brauchen wir alle diese Elemente, aber in einer geeigneten Mischung. Und diese Mischung muss die jeweiligen Verhältnisse reflektieren. Befinden sich die Verhältnisse z. B. zu nah an sozialistischen oder planwirtschaftlichen Strukturen müssen Freiheit, Einsatz und Unternehmertum gefördert werden.

Im heutigen Essay greift Peter Hiemann das Thema ökosoziale Orientierung auf und vertieft es. Er sieht den Ursprung der entsprechenden Ideen bei dem Soziologen Wolf Rainer Wendt. Lange erschien es so, als ob die Befassung mit der Position des Menschen, also das Ökonomische und Soziale, das A und O jeder politischen Betätigung seien. Derzeit wird nach meiner Meinung die Ökonomie sehr zurückgedrängt. Man sieht sie entweder als irrelevant an, also als selbstverständlich, oder betrachtet sie als schädlich und verdammenswert. Soziale Politik und soziale Arbeit stehen höher im Kurs. Dabei ist es ihre Aufgabe denjenigen Leuten zu helfen, die nicht selbst für ihr Wohlergehen sorgen können. Dies darf aber nicht zu Lasten der Natur und der Umwelt erfolgen. Diese Erkenntnis sieht Hiemann quasi als Grundlage einer neuen Kulturepoche an. Die Natur kennt keine Moral. Sie wirkt ohne Rücksicht auf andere und verzeiht keine irreversiblen Veränderungen. Das muss der Mensch lernen und akzeptieren.

Wie kein anderes Thema hat dieses neue Paradigma in diesem Jahr an Schwung gewonnen. Ich erinnere nur an Greta Thunberg und die von ihr ausgelöste öffentliche Diskussion. Aber auch die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hat soeben einen ‚Green Deal‘ vorlegt, d.h. einen Plan, wie man die ganze EU in den nächsten Dekaden umgestalten will. Ökosoziale Erwägungen wirken nicht nur auf Regierungen, sondern auch auf Unternehmen, Technik und gesellschaftliche Gruppen.

Lesen Sie, was Peter Hiemann dazu schreibt, indem Sie hier klicken.

Ich wünsche allen Lesern frohe Weihnachtstage und ein gutes Neues Jahr.

Freitag, 6. Dezember 2019

Extremisten unter uns und der Mord an Walter Lübcke

Gestern Abend sah ich eine Sendung bei Phoenix, die zwei der aktuell bei uns auftretenden Formen des Extremismus beschrieb. Die Sendung beschränkte sich auf rechten und linken Extremismus und ließ den islamischen Extremismus unerwähnt. Sie verglich Ziele und Erscheinungsformen.

Ziele und Erscheinungsformen des Extremismus

Die Linken berufen sich auf Marx, Lenin und Mao Zedong. Sie fordern die Abschaffung des Privateigentums und streben eine klassenlose Gesellschaft an. Sie wollen Nationalstaaten abschaffen und die Weltgemeinschaft an ihre Stelle setzen. Die Rechten träumen von der reinen Rasse und wollen alle Ausländer des Landes verweisen. Ihr Gesellschaftsideal ist der zentral gesteuerte Führerstaat. Die Islamisten wollen alles dem Weltbild des Propheten Allah unterordnen und keine anderen Gesellschaftsformen zulassen.

Politische Extremisten zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen fast jedes Mittel recht ist, solange es zum Ziel führt. Die Benutzung von Gewalt wird nicht ausgeschlossen. Die demokratische Grundordnung Deutschlands steht ihren Zielen im Wege und ist daher zu beseitigen. Nur die Rechten spielen heute eine Rolle bei Wahlen (NPD, AfD), die linken Aktivisten machen sich bei Aktionen wie im Hambacher Forst bemerkbar. Islamisten provozieren den Westen, indem sie theatralisch organisierte Anschläge durchführen wie in Paris oder Brüssel.

Der Bericht des Verfassungsschutzes gibt jährlich Zahlen zu den drei Gruppen. Für 2018 lauten sie:  Linke 32.000 (davon 9.000 gewaltbereit), Rechte 24.000 (12.000); Islamisten 26.000.

Mord an Walter Lübcke

Am 2. Juni 2019, kurz nach Mitternacht, wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) auf der Veranda seines Wohnhauses mit einem Pistolenschuss aus nächster Nähe getötet. Am 15. Juni 2019 wurde der aus Wiesbaden stammende Rechtsextremist Stephan Ernst festgenommen. Am 25. Juni legte er ein Geständnis ab, das er am 2. Juli jedoch widerrief. Die Tat begründete er mit Äußerungen Lübckes während der Flüchtlingskrise 2015. Lübcke hatte sich damals für die Aufnahme von Flüchtlingen eingesetzt und war der Hetze gegen diese von Seiten des Kasseler Ablegers der Pegida bei einer Bürgerversammlung in Lohfelden im Oktober 2015 öffentlich entgegengetreten. Dabei sagte er, wer die Werte der Verfassung ablehne, dem stehe es jederzeit frei, Deutschland zu verlassen. Anschließend haben Besucher der Veranstaltung diese Aussage als Videoausschnitt im Internet verbreitet. Lübcke war daraufhin Anfeindungen und Morddrohungen ausgesetzt.

Der Täter wohnte damals in Kassel rund einen Kilometer von der 2015 eingerichteten Erstaufnahmeeinrichtung entfernt, zwei Kilometer vom Bürgerhaus Lohfelden. Laut Ermittlern empörte er sich in einem Chat über Lübcke und nannte ihn einen Volksverräter. In seinen Handydaten fanden die Ermittler zahlreiche Hasskommentare und Drohungen („Entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben“; „Schluss mit Reden es gibt tausend Gründe zu handeln und nur noch einen 'nichts' zu tun, Feigheit“). Bei der ersten Vernehmung gab Ernst zu, dass er bei jener Bürgerversammlung im Oktober 2015 in Lohfelden war und Lübckes Aussage ein wesentlicher Grund seiner Tat gewesen sei. Die Aussage habe ihn „die ganze Zeit“ beschäftigt. Er sah darin einen Beweis, dass das deutsche Volk durch Ausländer ersetzt werden sollte.

Ernst war Mitglied des Schützenclubs Sandershausen bei Kassel, hatte dort aber nach Angaben des Vereinsvorsitzenden keinen Zugang zu Schusswaffen. In Ernsts Wohnung fand die Polizei eine Schreckschusspistole und Unterlagen, wonach er eine Erlaubnis zum legalen Waffenbesitz anstrebte. Die Polizei fand in einem Erddepot auf dem Firmengelände seines Arbeitgebers fünf Schusswaffen, darunter die Tatwaffe, die später zweifelsfrei identifiziert wurde, sowie eine Pumpgun und eine Maschinenpistole vom Typ Uzi mit Munition.

Wer wie Ernst sich vier Jahre lang mit Mordgedanken trägt, der handelt nicht im Affekt. Er habe Lübckes Wohnanschrift gegoogelt und sei 2017 und 2018 mit einer Pistole in der Tasche dorthin gefahren, aber jedes Mal froh gewesen, die Tat nicht ausgeführt zu haben. Sein Tötungsplan sei durch die Kölner Silvesternacht 2015/16, den islamistischen Anschlag in Nizza 2016, Videos von weiteren islamistischen Anschlägen und schließlich die Ermordung von zwei nordeuropäischen Frauen in Marokko gewachsen. Für all das habe er Lübcke Mitschuld gegeben, aber mit niemandem darüber geredet. Schließlich habe er dann Lübcke wortlos erschossen.

Wirkung des Attentats und Rolle der Brandstifter

Die Problematik dieses Attentats ist, dass dadurch viele Menschen verunsichert werden. Zwei Fragen drängen sich auf (1) Kann dieser Staat seine Politiker und Verantwortungsträger überhaupt schützen? (2) Wäre es manchmal besser, anstatt seine Meinung zu sagen, den Mund zu halten? Ich verkneife es mir, hier eine Antwort zu versuchen.

Sollte Alexander Gauland von der AfD nicht seine Wortwahl überdenken, wenn er sagt, man müsse Angela Merkel davon jagen wegen ihrer Flüchtlingspolitik. Oder Erika Steinbach, wenn sie Leute wie Walter Lübcke des Landesverrats bezichtigt und mit einem Galgen bedroht.

Viele Leute glauben, dass das Internet die Dinge sehr oft verschlimmert. Es brächte Leute auf Gedanken, auf die sie sonst nicht kämen oder nicht gebracht würden. Ich bin davon überzeugt, dass erst durch das Internet auch Dinge ans Licht kommen, von denen man sonst nie hören würde. Können nicht auch Gedanken existieren, von denen die Welt nie erfahren würde, dass es sie gibt, würde nicht das Internet so leicht zum Plaudern verführen, wie es das tut? Wovon das Herz voll ist, läuft ja manchmal der Mund über. Das gilt auch, wenn das was da sprudelt, eher einer Jauchegrube entstammt als einer Goldader.

Samstag, 16. November 2019

Immer noch kein Ende der Arbeit in Sicht – selbst 25 Jahre nach Jeremy Rifkins Warnung

Im Jahre 1995, also kurz vor Ende meiner Berufslaufbahn, erschien ein Buch im Markt, das mir klar machte, in welch einem glücklichem Zeitabschnitt der Geschichte ich gelebt hatte. Es war das Buch Das Ende der Arbeit (engl. The end of work) von Jeremy Rifkin (* 1945). Rifkin hatte argumentiert, dass es durch den Produktivitätszuwachs in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten zu einem dramatischen Verschwinden von Fabrikarbeitsplätzen gekommen war. Dies galt trotz des Wirtschaftswachstums im selben Zeitraum. Anhand weltweiter Wirtschaftsdaten wurde prognostiziert, dass diese Entwicklung sich fortsetzen würde. Rifkin erwartete, dass bis 2010 nur noch 12 % der arbeitenden Menschen in der Industrieproduktion eingesetzt werden. Bis 2020 würden es nur noch 2 % sein. Er sah ein großes Potential im Nonprofitsektor, der durch „Steuerumschichtung“ finanziert werden müsse.

Rifkins Prognosen Im Detail

Rifkin argumentierte, dass es zu vermehrter Arbeitslosigkeit in der Welt infolge der Ausbreitung von Automatisierung und Informationstechnologie in der Arbeitswelt käme, während insbesondere in den USA mehrere Millionen Arbeitsplätze in Produktion, Einzelhandel, Landwirtschaft und Dienstleistungen durch die Digitale Revolution überflüssig würden.

Aus diesem Rückgang ergab sich für ihn auch die Frage nach der Bestreitung des Lebensunterhaltes bei den durch Rationalisierung und damit verbundene Prozesse überflüssig gemachten Angestellten und Arbeitern. Er belegte, dass zwar in einigen Bereichen die Aufwertung der Employability der Betroffenen Abhilfe bringen kann, dies aber in der Regel nur bei einer Minderheit der alten Belegschaft den gewünschten Effekt zeitige – ein Großteil der Betroffenen finde sich in der Langzeitarbeitslosigkeit wieder.

Parallel zum Verfall der Marktwirtschaft, einschließlich des öffentlichen Sektors, würde ein dritter Sektor neuentstehen, der Nonprofit-Bereich. Das sind freiwilligenbasierte, gemeinschaftsbezogene Dienstleistungs-Organisationen, die mit öffentlicher Unterstützung neue Arbeitsplätze schaffen, um etwa den Stadtverfall aufzuhalten oder soziale Arbeit zu verrichten. Rifkin sieht hier ein großes Potential. Um diesen dritten Sektor zu finanzieren, schlägt Rifkin am Beispiel der USA vor, das Militärbudget nachhaltig zu reduzieren, eine Umsatzsteuer auf nicht lebensnotwendige Waren und Dienstleistungen zu erheben, sowie mit Geldern aus Bundes- und Länder-Haushalten ein Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) anstelle reiner Wohlfahrts-Leistungen zu finanzieren.

Lisa Herzogs Plädoyer für Arbeit als soziale Funktion

Der Titel Die Rettung der Arbeit [2019, 224 S.] stellt einen möglicherweise ungewollten Bezug zu Rifkins Bestseller her. Lisa Herzog (*1983) ist Politologin und Philosophin. Sie lehrte an der Hochschule für Politik der TU München, ehe sie 2019 nach Groningen wechselte.

Herzogs Buch ist wenig konkret. Sie führt aus, dass Arbeit zu wichtig sei, um sie ihrem Schicksal zu überlassen. Sie erfülle ein tief menschliches Bedürfnis. Sie stellt uns Menschen in soziale Räume. Sie sei mehr als nur ein Instrument zum Geldverdienen. Sie sei kein notwendiges Übel, das beendet werden muss. Wir sollten sie lieber verbessern als abschaffen. Wir sollten uns nicht von Arbeit befreien, sondern die Arbeit befreien.

Allerdings sollten Partizipation und demokratische Formen der Governance viel stärker auch in der Wirtschaft gelten. Zwang und Schikane sollten ein Ende haben. Es gäbe keinen technischen Determinismus, noch den der Märkte. Dass Wohlstand von der Spitze nach unten durchtröpfele (engl.: trickle down), das passiere nicht. Unternehmen entziehen sich lokaler Besteuerung.

Ökonomen ignorieren meist, dass Arbeit vor allem Sinn und Befriedigung produziert. Sie sei mehr als nur Selbstverwirklichung. Wer nicht arbeitet, dem fehlen wichtige soziale Kontakte. Technik sollte nicht nur zur Steigerung der Effizienz dienen. Sie sollte auch die Qualität verbessern. Auch in der Wirtschaft sollten Whistleblower als Helden gelten. Wäre dies der Fall, hätte der VW-Skandal einen andern Verlauf genommen.

Traditionsgemäß sind Unternehmen keine Demokratien. Eine Ausnahme bilden die Genossenschaften. Das Digitalisieren kann dem Demokratisieren helfen. Sie ermöglicht eine bessere Kommunikation und daher mehr partizipative Entscheidungen. Obwohl dies empirisch nicht belegt ist, sei es an der Zeit, es auszuprobieren. Die Ungleichheit sei in Deutschland zu groß. Sie schüre Misstrauen in der Gesellschaft.

Einordnung und Erklärungsansätze

Seit Marx und Engels gehört es zum Selbstverständnis oder gar zur Berufskrankheit von Wirtschaftstheoretikern, dass sie Dystopien in die Welt setzen, also Geschichten mit negativem Ausgang. Von Utopien lässt man lieber die Finger. Bei ihnen bekommt man sehr leicht in den Ruf des kindhaften Denkens. Des Weiteren kommt die Tatsache zum Tragen, dass schlechte Nachrichten mehr Aufmerksamkeit bekommen und sich schneller verbreiten als gute Nachrichten. Davon kann jeder Zeitungsredakteur ein Lied singen.

Aus den Reden vieler Politiker, vor allem denen der linken Parteien des politischen Spektrums kann man den Eindruck gewinnen, dass es der primäre Sinn der Wirtschaft sei, nicht-selbständige Arbeitsplätze zu schaffen. Dabei ist dies nichts Anderes als eine Perversion wirtschaftlichen Denkens. Sie wurde in die Welt gesetzt von Leuten, die sich dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber verpflichtet fühlen, oder aber ihr nach dem Mund zu reden pflegen. Ein harter, aber sehr deutlicher Vergleich wäre, wenn man behaupten würde, dass allgemein bildende Schulen primär die Aufgabe besäßen, das Inklusionsproblem zu lösen. Früher gab es dafür so genannte Sonderschulen.

Eine ursprünglichere und sinnvollere Erklärung des Wirtschaftens beginnt damit, dass Familien und andere Gruppierungen nach Wegen suchten, sich zu ernähren, um zu überleben. Auf das Jagen und Sammeln in der Natur folgten der Anbau von Nahrungsmitteln und die Viehzucht. Die dabei anfallenden Arbeiten wurden zuerst von Familienmitgliedern übernommen. Später stellte sich heraus, dass durch Arbeitsteilung zwischen den Familien und Gruppen zusätzliche Produkte oder Dienste ermöglicht wurden, die die ursprüngliche Gruppe auf sich allein gestellt nicht leisten konnte. Es entstand das Handwerk und die Krankenpflege sowie – mit einigem zeitlichen Abstand – die Kunst.

Wer die Behauptung in die Welt setzt, dass die Arbeit als solche abnimmt, missdeutet nicht nur die Natur des Menschen, der immer Bedürfnisse oder Wünsche hat, die nur andere Menschen erfüllen können. Er nimmt außerdem an, dass das seit Beginn der Menschheitsgeschichte so bewährte Prinzip der Arbeitsteilung aufgegeben wird. Warum soll ich mir plötzlich die Haare selber schneiden, wenn ich dies noch nie getan habe. Eine Alternative wäre sie wachsen zu lassen.

Dienstag, 29. Oktober 2019

Binnenmigration – oder über aktuelle Veränderungen in Deutschlands Bevölkerungsstruktur

Im Vergleich zu Ein- und Auswanderung taucht das Wort Binnenwanderung nur sehr selten auf. Die Einwanderung ist derzeit das alles beherrschende Thema. Ihre Ursache ist der relative Wohlstand Deutschlands gegenüber anderen Ländern. Bei der Auswanderung ist es genau andersherum. Sie wird in die Höhe getrieben, wenn anderswo das ‚Gras grüner‘ ist. Vergleicht man die Länder auf Europas Einkommensskala, so liegen die Einwanderungsländer an der Spitze und die Auswanderungsländer am Schluss. Luxemburg und die Schweiz bilden die Spitzenreiter, Bulgarien und Rumänien die Schlusslichter. Zusätzlich gibt es ein Gefälle zwischen Kontinenten, etwa zwischen Europa und Afrika, das zu enormen Wanderbewegungen Anlass gibt.

Neue RWI-Studie

Das RWI − heute Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, früher Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung – in Essen hat soeben eine Studie vorgelegt, in der im Grunde ein altbekanntes Strukturproblem beschrieben wird. Nur die erhobenen Daten sind aktuell. Das RWI berichtete darüber in einer Pressemitteilung vom 24.10.2019. SPIEGEL Online kommentierte und illustrierte die Studie mit einem eigenen Text und aufwändigen Grafiken.

Die absoluten Zahlen sind recht beachtlich. Zwischen 2008 und 2014 sind 15.9 Mill- Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit von einer Region (Stadt, Landkreis) in eine andere umgezogen.

Moderne Form der Landflucht

Der größte Anteil betraf Personen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren, und zwar 43%. Dabei stellt diese Altersgruppe nur 14% in der Bevölkerung dar. Nur 19% von ihnen zieht in einen Landkreis, 81% in eine Stadt. Den Landkreisen entstand eine Wanderungslücke von 460.000 Personen. Der Sachverhalt erklärt sich wie folgt: Wenn heute ein immer größerer Anteil eines Jahrgangs Abitur macht und studiert, ziehen immer mehr Jugendliche zwecks Ausbildung in die Städte. Unsere kleinsten Universitätsstädte haben immerhin 80.000 Einwohner (z. B. Clausthal-Zellerfeld, Eichstätt, Ilmenau). Nur Mittweida, Oberursel und Witzenhausen fallen ganz aus dem Rahmen. Nicht-akademische Berufe konnte man früher in nahezu jedem Dorf und jeder Kleinstadt erlernen – und kann dies teilweise auch weiterhin.

Ältere Personen wechseln wesentlich seltener ihre Region. Sie zieht es auch eher in ländliche Regionen. Sie gleichen aber den Verlust an Jugendlichen bei weitem nicht aus. Das führt zu einer Ausdünnung und gleichzeitiger Überalterung ländlicher Gebiete. Bei den Neuen Bundesländern verstärkt dieser Vorgang den schon länger vorhandenen Strukturwandel. In den alten Bundesländern kennt man das Phänomen vor allem seit der Jahrtausendwende.

Verödende Dörfer und Kleinstädte

In früheren Zeiten gab es immer Tätigkeiten für Akademiker in Kleinstädten und auf dem Lande. Erwähnen möchte ich Pastoren, Lehrer, Ärzte, Richter und Gutsbesitzer. Dass Pastoren seltener geworden sind, hat ganz spezielle Gründe. Auch die Anzahl der übrigen Tätigkeiten ist rückläufig, wenn man sie vergleicht mit den vielen neuen Tätigkeiten, die entstanden sind, vor allem im technischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Bereich. In der Tendenz sind sie aber eher in Städten zu finden, was viele Studierende veranlasst, nach Ende des Studiums dort zu bleiben.

Das breite Land ist dabei an Attraktivität zu verlieren, es sei denn man achtet auf Wohnungskosten, Landluft und Schönheiten der Natur. Da viele Dienstleistungen und Erwerbsmöglichkeiten ein regelmäßiges persönliches Wechseln zur Stadt erfordern, kommt es sehr auf die Verkehrsinfrastruktur an, ob dieser Pendlermodus attraktiv ist. Eine Alternative, die sich anbietet, ist die Nutzung durch digitale Netze, an deren Ausbau vielerorts aber noch gearbeitet wird. Außerdem genießen einige Großstädte ein gewisses soziologisches Renommee. Dieses drückt sich aus in modischen Accessoires wie Flaniermeile, Diskos, Partyszene, Kunstateliers und Rotlichtmilieu.

Die Konsequenz des Gesagten ist, dass auf dem Lande oder in Kleinstädten viele der dort verfügbaren Ressourcen oft nicht genutzt werden. Das ist besonders eklatant für den Wohnungsmarkt. Überall gibt es leerstehende oder schlecht genutzte Häuser und Wohnungen. Dass große Anwesen heute nur von einem Bruchteil der Personen bewohnt werden, die früher dort wohnten, ist normal. Die alleinstehende ältere Frau im Einfamilienhaus ist geradezu typisch.

Überspannter Wohnungsmarkt der Großstädte

Bis zum Jahre 2005 war die Landbevölkerung im Durchschnitt  jünger als die Einwohner von Städten. Inzwischen verhält es sich genau umgekehrt − und der Gegensatz vergrößert sich rasch. Denn junge Erwachsene ziehen massenhaft vom Land in die Stadt, während einige Ältere aus der Stadt aufs Land ziehen.

In fast allen Großstädten besteht ein Engpass für Wohnraum der mittleren und unteren Preisklasse. Dass der Senat der Stadt Berlin deshalb den Markt aushebeln will, kann man nur als Ausgeburt sozialistischer Denkweise verstehen. Angemessener wäre es, wenn die Unternehmen, die in Großstätten vertreten sein wollen, ihre Gehaltsstruktur dem Niveau der dortigen Wohnungspreise anpassen würden.

Sondereffekte

Einige Gegenden Deutschlands weisen Sondereffekte aus. So werden der Wohn- und Arbeitsmarkt von Lörrach und Trier fast vollständig von der Nähe zur Schweiz bzw. zu Luxemburg bestimmt. Im jeweiligen Nachbarland liegen Löhne wie Preise auf einem Niveau, das etwa doppelt so hoch ist als in Deutschland. Es erfolgt ein Sog, der sowohl Löhne wie Wohnungspreise auf das jeweils höhere Niveau treibt. Von der Politik zu fordern, sich der Situation regulierend anzunehmen, ist schierer Unsinn.

Volkes Meinung

Einen Leserbrief, den die SPIEGEL-Version hervorrief, will ich in Gänze wiedergeben (Pseudonym buffbuff). Ich teile dessen Meinung und genoss den Stil.

Nachdem jetzt gefühlt 80 prozent der schüler abi machen und jeder davon dann studieren gehen kann, passiert das eben auch. die kids gehen ein jahr nach australien und sonstwo chillen und schreiben sich dann irgendwo ein. früher waren es vielleicht 10 bis 20 prozent der schüler, die abi machten und davon gingen dann vielleicht zwei drittel studieren und vielleicht ein drittel auch weiter weg. heute sind die möglichkeiten ganz andere. das führt zu landflucht, weil wenn man einmal das stadtleben angefangen hat, zu geniessen, geht man frühestens mit familie und kindern wieder in landnähe. und jobs für studierte gibt es auf dem land eben auch immer weniger. schulen schließen, also weniger lehrer, krankenhäuser werden dicht gemacht, also weniger ärzte usw. usw.