Sonntag, 14. April 2019

China, ein Koloss kehrt auf die Weltbühne zurück – Interview eines deutschen Informatikers vor Ort

Otthein Herzog (Jahrgang 1944) ist seit 2015 Professor für Künstliche Intelligenz an der Tongji Universität in Shanghai. Seit 2010 ist er Professor of Visual Information Technologies an der Jacobs Universität in Bremen. Von 1993 bis 2009 leitete er die Forschungsgruppe für Künstliche Intelligenz an der Universität Bremen sowie das Technologiezentrum für Informatik (TZI). Von 1977 bis 1993 war er Mitarbeiter der IBM Deutschland in der Softwareentwicklung und der Forschung. Im Jahre 1989 war er Gründungsmitglied des SFB “Grundlagen der Computerlinguistik” der Universitäten Stuttgart, Tübingen und der IBM. Er leitete von 1986-1991 das IBM Deutschland Projekt LILOG – Linguistik und Logik im Institut für Wissensbasierte Systeme des IBM Wissenschaftlichen Zentrums Heidelberg.


Bertal Dresen (BD): Sie sind bereits mehrere Jahre in China tätig. Würden Sie bitte kurz erklären, was Sie veranlasste, nach einer durchaus bewegten Karriere in Deutschland nach China zu wechseln. Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?

Otthein Herzog (OH): Warum sollte ich nicht noch einmal etwas Neues anfangen? Vielleicht muss ich ein wenig ausholen: Wenn man offiziell im „Ruhestand“ ist und trotzdem noch etwas in der „alten“ Umgebung bewegen will, setzt man sich nur zu leicht dem Vorwurf aus, nicht „loslassen zu können“. Deshalb habe ich mich außerhalb der Universitäten, aber in einem zentralen Wissenschaftsbereich intensiv bei acatech – Nationale Akademie der Technikwissenschaften engagiert, und während meiner Beauftragung für „Internationale Angelegenheiten“ im acatech Präsidium viele internationale Kontakte geknüpft, z. B. nach Indien an das Indian Institute of Science und nach China an die Tongji University in Shanghai.

BD: Wie kamen sie auf die Tongji-Universität? Wie ist sie nach Bedeutung und Größe einzuordnen? Wie unterscheidet sich die Ausrichtung der Informatik von Europa oder den USA? Überwiegen Hardware- oder Software-Themen? Welche Anwendungen werden behandelt? Dürfen politische oder gesellschaftliche Implikationen behandelt werden?

OH: Von der Tongji University, mit der ich von acatech aus vier gemeinsame Konferenzen über „Smart Cities“ organisiert hatte, kam 2015 die Anfrage, ob ich für zwei Monate als Gastforscher an das „China Intelligent Urbanization Co-Creation Center for High Density Region“ nach Shanghai kommen wolle, um dort als Berater für Methoden der KI zu arbeiten. Das tat ich, und aus den zwei Monaten sind nun schon fast vier Jahre geworden. Die wissenschaftliche Dynamik und die Forschungsbedingungen sind herausragend, und die Kooperation mit den chinesischen Kollegen ist ausgezeichnet – solche Arbeitsbedingungen kann man bei uns lange suchen!

Die Informatik an der Tongji University dort ist stark Software- und Anwendungs-orientiert und behandelt dieselben Themen wie überall auf der Welt. 

Die Stadtplanung, wo ich arbeite, ist eines der Hauptgebiete der (immer noch sehr deutsch geprägten) Tongji University, die 1907 von einem deutschen Arzt gegründet wurde und heute 35.000 Studierende hat als eine der Top-Universitäten in China. Da die Stadtplanung offensichtlich gesellschaftliche Implikationen hat, spielen diese auch eine große Rolle derart, dass bei allen Planungen immer explizit gemacht wird, dass die Stadtplanung den betroffenen Menschen ein besseres Leben in einer für sie gesünderen Umwelt zu ermöglichen hat.

BD: Wie laufen Ihre Lehrveranstaltungen ab, primär in Englisch oder Chinesisch? Welche von Ihnen angebotenen Themen finden große Aufmerksamkeit? Wie wird die Forschung organisiert und finanziert?

OH: Da ich dort eine Forschungsprofessur habe, veranstalte ich selbst keine regelmäßigen Lehrveranstaltungen, arbeite aber viel mit Bachelor-, Master- und PhD-Studenten zusammen, die durchweg – mehr oder weniger – Englisch sprechen können.

In der Stadtplanung finden die Lehrveranstaltungen auf Chinesisch statt, während die Studierenden im Maschinenbau und der Elektrotechnik während der ersten Semester Deutsch lernen, und viele deutsche Professor*innen dieser Fächer dort Blockveranstaltungen auf Deutsch durchführen. Außerdem gibt es an der Tongji University ein Deutsch-Chinesisches Hochschulkolleg, in dem die deutsche Industrie zur Zeit 23 Stiftungslehrstühle finanziert.

BD: Welche anderen Universitäten oder Forschungseinrichtungen Chinas verdienen Beachtung? Reicht es aus, englisch-sprachige Fachzeitschriften und Tagungen (ACM, IEEE) zu verfolgen, wenn man wissen will, was geforscht wird? Wie hoch sind die Absolventenzahlen in Informatik in China insgesamt? Wie ist die Einstellung zu technischen Fächern allgemein? Was sollte ein deutscher Studierender beachten, der einige Semester in China studieren will?

OH: Es gibt zwei chinesische Universitäten, die in dem anerkannten internationalen Ranking „THE World University Rankings“ vor deutschen Universitäten stehen, z. B. Tsinghua University: Platz 22), Peking University (Platz 31, direkt vor der LMU, der ersten deutschen Universität in diesem Ranking), Da die Master-und PhD-Abschlussarbeiten in Chinesisch geschrieben werden, sind im Westen nur die Konferenz- und Zeitschriftenbeiträge sichtbar, die auf Englisch publiziert werden. Hinzu kommt, dass es inzwischen in China viele „Internationale Konferenzen“ gibt, bei denen die Konferenzsprache dennoch Chinesisch ist. Zusammengefasst: meiner Einschätzung nach werden die meisten chinesischen Forschungsergebnisse im Westen nicht wahrgenommen.

Ein deutscher Studierender sollte vor allem mindestens Grundkenntnisse des Chinesischen mitbringen, wenn er/sie nach China kommt, weil es nur dann möglich ist, von Anfang an Kontakte zu knüpfen.

BD: Welche Unternehmen mit Informatik-Bezug sind besonders erfolgreich? Für Aktienfreunde sind Alibaba, Baidu und Tencent bekannt. Im Zusammenhang mit 5G-Mobilfunk wird immer wieder Huawei als Marktführer erwähnt. Worin liegt der Schwerpunkt des Geschäfts, auf Hardware, Software oder Dienstleistungen? Wie verhält sich das Inlands- zum Auslandsgeschäft? Gibt es ein gegenseitiges Befruchten?

OH: Der chinesische Markt allein ist schon riesig, und infolge der offiziellen Abschottung vor Google, LinkedIn, Facebook und Twitter sind die entsprechenden chinesischen Firmen im Land sehr erfolgreich. Der online-Einkauf ist wesentlich weiter verbreitet als im Westen, ebenso Bezahlsysteme wie WeChatPay und AliPay, die schon fast das Bargeld abgelöst haben. Im Allgemeinen sind die Chinesen der Technik gegenüber wesentlich aufgeschlossener als ich das z. B. aus Deutschland kenne (und es gibt mehr Smartphones in China als Einwohner…).

BD: Wie funktioniert in China die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Industrie, anders (oder vielleicht sogar besser) als in Deutschland? Gibt es Vorzeige-Beispiele? Leidet die Freiheit der Forschung unter dem Staatseinfluss? Geht von einer der oben erwähnten Firmen eine Gefahr aus in dem Sinne, dass der chinesische Staat sie für seine Zwecke missbraucht?

OH:  Viele Professor*innen an Technischen Universitäten in China haben Beratungsaufträge in der Industrie; andererseits gibt es immer auch noch eine starke Tradition innerhalb von Universitäten für die „reine“ Lehre. Es gibt aber z. B. keine Institution wie Fraunhofer in China, die in einem entsprechenden Ausmaß institutionellen Technologietransfer anbieten könnte – allerdings sind erste Ansätze dazu durch Fraunhofer-Alumni zu bemerken.

Im Übrigen sind die chinesischen Firmen ebenso den lokalen Gesetzen unterworfen wie westliche Firmen in ihren Ländern – ich sehe da höchstens graduelle Unterschiede. Außerdem gilt für diese weltweit agierenden Firmen durchaus, dass ein expliziter staatlicher Einfluss sich sehr negativ auf ihre Geschäfte im Ausland auswirken würde.

BD: Welche Haltung empfehlen Sie Ihren deutschen oder europäischen Hochschulkollegen gegenüber China? Wie soll sich die deutsche oder die westliche Industrie und Wirtschaft verhalten? Auf was sollen sich unsere Politiker und Bürger einstellen? Was können wir allgemein von China lernen? Wie kann man Nutzen aus der Kooperation ziehen? Muss man Angst vor dem Koloss China haben?

OH: Meine Empfehlung gegenüber Hochschulkolleg*innen ist ganz klar: auch wenn man sich in der Vergangenheit vor allem an den USA orientiert hat, wird es in Zukunft immer wichtiger werden, sich (auch) an China zu orientieren: der 2016 World Economic Forum report: Human Capital Index, p. 21 nennt die Anzahl von „Recent Graduates“ in den STEM Fächern in China mit 4,7 Mio (USA: 0,6 Mio). Wir können auch deshalb, und auch im Hinblick auf die Qualität der Universitäten m. E. wissenschaftlich nur mithalten, wenn wir intensive wissenschaftliche Kontakte nach China pflegen.

Die deutsche Industrie und Wirtschaft hat schon lange klar erkannt, dass der Zugang zu dem chinesischen Markt für sie enorm wichtig ist und hat sich entsprechend aufgestellt, wie man an den Beispielen der Automobilindustrie und der Realisierung von Industrie 4.0-Konzepten in China deutlich sehen kann.

Hochachtung sollten wir alle haben vor den Leistungen in China während der letzten 40 Jahre: es ist dort gelungen, die Armut zu besiegen (500 Millionen wurden inzwischen über die Armutsgrenze gehoben, und bis 2020 soll die Armut zu 100% beseitigt sein), ein leistungsfähiges Erziehungssystem aufzubauen und der gesamten Bevölkerung eine moderne medizinische Versorgung zu sichern.

Lernen kann man sicherlich von China, dass Bildung wertvoll ist, und wie man wirtschaftliche Strategien mit langem Atem realisiert und koordiniert mit Wissenschaft, Wirtschaft und Politik auf diese Ziele hin arbeitet.

BD: Vielen Dank für einen sehr interessanten Bericht. Es ist mir eine besondere Freude nach dem Interview von 2014 dieses weitere Interview bringen zu dürfen.

1 Kommentar:

  1. Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Die Begeisterung für die chinesischen Universitäten und insbesondere für die Tongji-Universität kann ich gut nachvollziehen. Wahrscheinlich kann man da viel bewegen und das Engagement wird mit Wertschätzung vor Ort aufgenommen. Da stehen wohl nicht, wie in Deutschland, hinter jedem Wissenschaftler ja gleich zwei professionelle Bedenkenträger.

    Ähnlich ist’s ja - außerhalb des Wissenschaftsbereichs - mit den zahlreichen früheren deutschen Automobilmanagern, die sich in der chinesischen Automobilindustrie engagieren, dies oft bei Start-ups. Da mag freilich heutzutage auch viel in der Mischung machbar sein aus Vor-Ort-Präsenz in China und „remote“ von Deutschland aus.

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