Mittwoch, 17. April 2019

Ein Luxemburger erklärt uns die Welt − sein Name ist Ranga Yogeshwar

Vielen Zuschauern ist es ein vertrautes Bild. Ein volkstümlicher Österreicher, namens Frank Elstner, überrascht sein Publikum mit spannenden Geschichten oder riskanten Experimenten. Erzählt oder durchgeführt werden diese von seinem stets freundlichen und arbeitswilligen Assistenten Ranga. Nicht der Vatergott Wotan lässt den Berggeist Alberich für sich arbeiten, sondern der Nachfolger des großen Camille Feltgen von RTL einen Luxemburger Physiker mit einem indischen Namen. Ranga Yogeshwar (*1959) und sein Zwillingsbruder Pierre haben eine Mutter aus Diekirch und einen Vater aus Bangalore. Beide gingen in Indien in die Grundschule, in Luxemburg aufs Gymnasium und studierten in Aachen Physik. Ranga fühlte sich nach einer kurzen Tätigkeit im Kernforschungszentrum Jülich zum Wissenschaftsjournalismus gezogen. Sein Landsmann Jean Pütz verstand es, ihn beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) unterzubringen.

Gesammelte Geschichten

Das Buch Nächste Ausfahrt Zukunft: Geschichten aus einer Welt im Wandel (2017, 400 S.) ist größtenteils eine Sammlung von früheren Beiträgen und Vorträgen. Die Beiträge erschienen teilweise in überregionalen Zeitungen wie der FAZ oder der Süddeutschen. Die Vorträge waren nicht Teil einer Fernsehsendung. Einige der Kapitel stellen eine Erstveröffentlichung dar.

Das Spektrum der Themen, das Yogeshwar behandelt. Ist sehr breit. Im Folgenden greife ich nur einige der Themen heraus, mit denen der Autor sich oft mehrmals befasst. Er vertritt eine Meinung, die ich fast immer teile. Dazu gehört, dass wir beide weder Utopien noch Dystopien mögen. Entscheidend ist es, die Realität zu erkennen und von ihr aus zu extrapolieren. Dabei müssen natur- oder sozialwissenschaftliche Methoden und Prinzipien zur Anwendung kommen. So wie jeder Mensch den eigenen Regenbogen sieht, so sehen wir die Welt und ihre Vergangenheit und Zukunft jeder auf eigene Art.

Irrweg Atomenergie

Für ihn als ausgebildeten Atomphysiker sind die beiden großen Havarien 1986 in Tschernobyl und 2011 in Fukushima besonders erschütternd. War Tschernobyl die Folge eines menschlichen Fehlers, so war Fukushima durch ein Erdbeben und einen nachfolgenden Tsunami verursacht. Heute sind beides strahlende Sarkophage. Der Autor war an beiden Orten, in Tschernobyl sogar mehrfach. Im Februar 2016, also 30 Jahre nach dem Unfall, war die Gegend noch im Umreis von 50 km entvölkert, nur ein einzelner Hund streunte umher. Die Strahlung war teilweise das 30-fache des Erlaubten. Über dem früheren Reaktor wölbt sich eine 25 Meter hohe Betonhülle. Als Nächstes wird über allem eine 50 Meter hohe Hülle gebaut.

In Fukushima durfte Yogeshwar 2014 zum ersten Mal im Gelände des Kraftwerks Aufnahmen machen. Wegen zu hoher Strahlung konnte das eigentliche Kraftwerksgelände bis heute nicht aufgeräumt werden. Dieser Tage ging die Nachricht durch die Medien, dass ein Brennstab per Roboter einige Hundert Meter weit transportiert werden konnte. Niemand weiß, wie hoch die Strahlung im Innern des Reaktors ist. Täglich werden 700 Tonnen Kühlwasser benötigt, das anschließend für einige Hundert Jahre auf dem Gelände gelagert werden muss, weil es kontaminiert ist.

Gefährdung des Planeten Erde

Im Jahre 2011 tauchte der Autor vor Norwegen mit einer Tiefsee-Kapsel bis zum Meeresgrund. Dort sah er 8000 Jahre alte Kaltwasser-Korallen. Es ist zu befürchten, dass, diese wegen des zu hohen CO2-Gehalts der Ozeane demnächst absterben. Ihm wurden Schildkröten vor Costa Rica gezeigt, die Plastikreste mit Quallen verwechselten und an ihnen erstickten. In Inzwischen schaffte es das Problem des Plastikmülls in das Bewusstsein der Allgemeinheit. Immerhin hat das EU-Parlament inzwischen bestimmte Plastikprodukte verboten.

Es steht für Yogeshwar außer Frage, dass wir Menschen nicht so fortfahren können wie bisher, wenn wir die Ressourcen, über die unsere Erde verfügt, nicht überstrapazieren wollen.

Wundertüte Genetik und sonstige Medizin

Yogeshwar beschreibt mehrfach die großen Fortschritte, die die Medizin erzielt hat, und hier speziell die Genetik. So besuchte er ein Labor in den USA (Jackson Lab, Bar Harbor, ME); das genetisch veränderte Mäuse massenhaft erzeugt und an Kliniken und Labors auf der ganzen Welt liefert.

Im Jahre 2004 besuchte er das Labor des Tierarztes Woo-Suk Hwang in Seoul, der von sich reden machte, da er aus menschlichen Körperzellen Embryonen klonte, um aus diesen Stammzellen zu gewinnen. Normalerweise arbeitet Hwang mit Eizellen aus Gebärmüttern von Schlachthofschweinen. Als er auf menschliche Eizellen überging, bedankte er sich zwar bei den Spenderinnen, dachte aber nicht daran, die nationale Ethik-Kommission zu befragen.

Sehr beeindruckt ist er von der Entdeckung des CRiSP/R-Verfahrens. In ihm wird nachgeahmt, wie Bakterien es schaffen in ihrem Erbgut einen Virus zu finden und herauszuschneiden. Es ist auf 6000 Erbkrankheiten anwendbar, die durch ein einzelnes Gen übertragen werden.

Grenzen maschineller Intelligenz

Das Lieblingsbeispiel, um die Grenzen der Künstlichen Intelligenz (KI) zu diskutieren, ist heute das selbstfahrende Auto. Yogeshwar beschreibt ausführlich eine Testfahrt auf der Autobahn zwischen Hannover und Hildesheim mit einem deutschen Prototypen. Er konstatiert, dass es ihm schwerfiel, seine Aufmerksamkeit so wach zu halten, dass er notfalls der Automatik zu Hilfe kommen konnte.

Er zweifelt nicht daran, dass die Software immer dazulernen kann und die Fahrereigenschaften diejenigen eines Menschen bald übertreffen können. Bedenken hat er, wenn wir dazu neigen, moralische Entscheidungen und die Abwägung von Schäden stets auf den Menschen zu verlagern. Was diese Art von Entscheidungen betrifft, ist der Mensch nämlich alles andere als ein Ideal. Das kann sogar besonders schlecht sein, da der Mensch oft irrational handelt.

Bildung – gestern und heute

Der Autor verbindet katastrophale Erinnerungen mit seiner Schulzeit in Indien. Heute stehen überall auf der Welt bessere Methoden zur Verfügung, sowohl was Pädagogik wie technische Ausstattung betreffen. Er verweist auf die Khan Academy für individuelles Lernen und das MOOC-Angebot der Harvard University. Harvard hatte 155.000 Nutzer im ersten Jahr. MOOC steht für Massive Open Online Courses. [Auf ein deutsches MOOC-Angebot wird vom Kollegen Christoph Meinel in diesem Blog hingewiesen]

Ängste und Gegenreaktionen

Oft wird Yogeshwar vorgeworfen, dass er zu technik-freundlich und zu fortschrittsgläubig sei. Den Eindruck habe ich nicht. Auf jeden Fall ist er sich voll bewusst, dass andere Menschen unter Umständen ganz anders reagieren als er selbst. Oft nutzt er einen historischen Vergleich, um die Dinge, die heute manche Menschen aufwühlen, in Relation zu früheren Situationen oder Ereignissen zu setzen. Folgende Ängste werden im Buch besprochen: 
  • Angst vor zu vielen und zu schnellen Änderungen. Die Welt verändere sich zu schnell, so sagen 51% der Meinungsführer. Darauf reagieren viele Menschen, indem sie ihr Heil in der Rückwärtsgewandtheit suchen. Auch glauben sie an Heilsbringer und alternative Fakten. Wird die modere Medizin zu komplex, werden die Patienten misstrauisch. Sie gehen lieber zu Quacksalbern. 
  • Fehlendes Vertrauen in die Zukunft. Laut Umfragen glauben in Deutschland nur noch 4% der Leute, dass die Zukunft besser wird. Das ist in andern Ländern anders, vor allem in Asien. Wir versäumen es – vor allem in Deutschland − zu Gestaltern der Zukunft zu werden.
  • Angst vor der Macht der Maschinen. Viele Menschen glauben daran, dass Maschinen dem Menschen Konkurrenz machen werden, ja ihn verdrängen können. Ray Kurzweil malt diese Vision in immer neuen Farben.
  • Angst vor der Macht der Konzerne bzw. des Staates. Den Firmen, die moderne Techniken besitzen und verbreiten, wird unterstellt, dass sie versuchen die Massen der Menschen manipulieren. Facebook hat sich besonders verdächtig gemacht. Es will steuern, was wir lesen. Google wurde sogar bereits verurteilt, weil es gewisse Produkte bevorzugt bewarb. Im Falle Chinas müssen wir leider annehmen, dass der Staat die Hand im Spiel hat, wenn dank des Citizen Score eine vollständige Kontrolle vorbereitet wird.

Wirtschaftlicher Nutzen darf nicht alles sein

Eine eindimensionale Ausrichtung auf die Wirtschaft vernachlässige die Kultur und die Religion. Vom Silicon Valley kann man nichts anderes erwarten. Dort hat man nur das Ziel, wenige schnell reich zu machen. Genau da passt das Internet. Es ermöglicht große Zahlen von Nutzern. Genau das macht uns Amazon vor. Bald wird man auch ein eigenes Mode Label haben. Das bindet Kunden.

Auch die wissenschaftliche Forschung sollte nicht nur nach ihrem Nutzen für die Menschen begründet werden. Die Vermehrung des Wissens an sich reiche als Motiv aus. Die Neugier des Menschen sollte höher stehen als die Krämerdenke. Das Foto, das die Raumsonde Voyager 1 vom ganzen Sonnensystem im Februar 1990 machte, sage mehr aus über die Position des Menschen als alle bisherigen Philosophen zusammen. Niemand wird uns je vermissen. Nur dort, wo der Kreis ist, entstand einmal Leben. Es hat bereits gelitten. Wir Menschen haben es in der Hand, es auch ganz zu zerstören.
Milchstraße von Voyager 1 aus im Februar 1990

Auszug aus einem Interview im Informatik-Spektrum 1/2019

Anlässlich der GI-Jahrestagung gab Ranga Yogeshwar ein Interview für die Mitgliederzeitschrift der Gesellschaft für Informatik (GI).  Hier einige Sätze, die über sein Buch hinausgehen:
  • Zuerst kommt die neue Technik, danach erst die Regeln dafür. Zuerst gab es Autos, dann Ampeln und schließlich Gurte.
  • Die Chinesen entdecken gerade Plattenbauten als großen Luxus im Vergleich zu dem, was sie hatten.
  • Nur der. dem es materiell gut geht, stellt die Sinnfrage.
  • ‚Darf ich eine intelligente Maschine taufen?‘ Das ist eine gute Frage für einen Theologen.
  • Erziehen wir unsere Kinder nur zu Konsumenten, oder auch zu Gestaltern?
  • Bibliotheken und Museen haben heute die Chance mit Multimedia-Lernmaterial viele Leute anzulocken.
  • Sagt bei uns jemand, er weiß was ‚Machine Learning‘ ist, so bekommt er sofort ein Stellenangebot von Google.
  • Bildung gibt es heute genauso gut in Mumbai wie in München.
  • Wenn ältere Menschen sagen, sie hätten keine Zeit zum Lernen, dann ist das meist eine glatte Lüge.
Zusammengefasstes

Der Eindruck ist berechtigt, dass durch das Zusammenfügen getrennter Veröffentlichungen eine gewisse Redundanz entsteht. Auch geht dadurch die Zielstrebigkeit verloren. Es fehlt der ‚Zug zum Tor‘ nennt dies ein Kommentator. Trotzdem ein lesenswertes Buch von einem engagierten Welterklärer. Ich werde ihm gerne weiter zuhören.

Nachtrag am 18.4.2019

Der SPIEGEL 15/2019 enthält ein Interview mit Thomas Straubhaar, dem ehemaligen Leiter des Hamburger Weltwirtschaftinstituts (WWI). Hier einige Sätze daraus:
  • Wir leben länger, wir sind gesünder, wir genießen mehr Wohlstand, und zwar weltweit.
  • Unsere Kindeskinder werden noch länger leben als wir, werden weniger arbeiten und werden bessere Jobs haben.
  • Wir müssen auf die Fähigkeiten der einzelnen Menschen vertrauen. Wir sollten keine Lösungen von oben verordnen. Wir sollten nicht aus Europäern Chinesen machen.
  • Wir wissen alle nicht, was wird. Nur wer die Veränderung mitgeht, wird den Umbruch erfolgreich meistern.

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