Montag, 20. Mai 2019

Wunder gibt es immer wieder, auch in der Informatik − glaubt man Juraj Hromkovič

Vor gut zwei Jahren stieß ich zufällig auf das Buch ‚Sieben Wunder der Informatik‘ von Juraj Hromkovič. Ich las es mit Vergnügen, fand aber den Titel etwas daneben. Behandelt wurden sieben mathematische Algorithmen und man suggerierte, dass dies der wesentliche Kern des Fachgebiets Informatik sei. Das konnte ich natürlich nicht unwidersprochen stehen lassen. Jetzt begegnete ich Hromkovič wieder, und zwar als der Gastherausgeber eines Themenhefts Bildung des Informatik Spektrums (2/2019).

Erfinderinnen und Entwicklerinnen ausbilden

Bilden wir die Erfinderinnen, Gestalter und Entwicklerinnen digitaler Technologie aus und nicht nur ihre Konsumenten! So überschreibt Hromkovič seinen Leitartikel. Er bezieht sich darin auf das so genannte Dagstuhl-Dreieck, das die Ausbildung in Informatik auf eine Reflexion über Technologien reduziert. Gestaltung und Entwicklung kämen darin nicht vor, meint er. Da spricht mir jemand aus der Seele, so dachte ich, ziemlich lange hat es gedauert.

Im anschließenden Hauptbeitrag definiert Hromkovič drei Wurzeln der Informatik, nämlich digitale Informationsdarstellung, Automatisierung per Algorithmen und Computertechnologie. Die Digitalisierung habe ihren Anfang vor rund 5.400 Jahren in Mesopotamien gehabt, als Steuerdaten von Millionen Einwohnern erfasst und außerhalb des menschlichen Gehirns gespeichert wurden. Algorithmik betrieben die Schüler des Pythagoras, als sie Dreiecke mit den Seitenlängen 3, 4 und 5 erzeugten, um zu rechten Winkeln zu kommen. Nur die Computertechnologie ist jüngeren Datums. Dass Hromkovič zwei weitere Wurzeln der Informatik anerkennt, grenzt fast an ein Wunder. Tontafeln mit Keilschrift als digitales Medium anzusehen, verwundert etwas.

Die Ausbildung Jugendlicher sollte informatisches Denken vermitteln, nicht nur das Drücken von Knöpfen. Im Gegensatz zur Mathematik kenne die Informatik meist verschiedene Lösungswege für ein Problem. Es gehe darum einen auszuwählen, zu implementieren und die Korrektheit der Implementierung nachzuweisen. Ein Informatiker muss drei Techniken beherrschen, das Erschaffen von Schriften aus Zeichen und Symbolen, das Bilden von Sprachen aus Wörtern und Sätzen und die Durchführung einer Kommunikation mittels einer Sprache. Ihre Fortschritte erzielte die Menschheit nicht nur durch die Erzeugung neuen Wissens, sondern auch durch die Entwicklung konstruktiver Vorgehensweisen im Falle fehlenden oder unvollständigen Wissens. Genau das ist es, was von jedem Informatiker verlangt wird. Nach Hromkovič, der seine Schulzeit in der ehemaligen Tschechoslowakei verbrachte, sind die Schüler im Ostblock offensichtlich dem Werteverfall entgangen, der sich im oben erwähnten Dagstuhl-Dreieck manifestierte. Mir kommt das wie ein weiteres Wunder vor.

Hromkovič hat seine Ideen in einem Lehrbuch Einfach Informatik dokumentiert, anhand dessen ein spiralförmiger Lehrplan (Spiralcurriculum) für die Informatik in Grundschulen und Gymnasien abgeleitet werden kann. Er bescheinigt sich selbst, dass diese Lehrmethode das kreative Potential der Schüler weckt, das Verständnis der Welt fördert und eine wichtige Kulturtechnik vermittelt. Im Vergleich zu meiner ersten Begegnung mit Hromkovič ist mein Eindruck dieses Mal ausgesprochen positiv. Ich kann fast jeden seiner Sätze unterschreiben, von einigen wunderhaften Extremen abgesehen.

Unglückliche Verknüpfung mit dem Mathe-Unterricht

Einige der weiteren Beiträge dieses Themenheftes bestätigen meinen früheren Verdacht, dass sich die Informatik keinen Gefallen tut, wenn sie eine zu starke Verwandtschaft zur Mathematik postuliert. Wenigstens vier Beiträge des Heftes befassen sich mit der Gefahr, die besteht, wenn Schüler mit Konzepten aus dem Mathematik-Unterricht in den Informatik-Unterricht wechseln. Die Rolle des Zeichen ‚=‘ mal als Gleichheit und mal als Zuweisung ist nur das trivialste Beispiel. Der Beitrag Kohn/Komm ist allein diesem Problem gewidmet. Auch die beiden Beiträge Hauser/Komm/Serafini behandeln eine Gruppe von Anwendungen, bei denen die mathematische Denk- oder Herangehensweise zu unnötigen Problemen führt.

Der Beitrag von Gallenbacher erinnert an die von Charles Sanders Peirce (1839-1914) eingeführte Abduktion. Als Gegenstück zur allseits bekannten Deduktion gestattet sie es, aus Fakten Theorien zu bilden. Wie alle Künstler und Ingenieure würden Informatiker als weiteren Begriff den der Konstruktion verwenden. Damit würden neue Fakten geschaffen. Der Informatik-Unterricht sei daher die Gelegenheit, um diesen philosophischen Begriff einzuführen.

Meine Ideen zu Informatik im Schulunterricht

Die Themen Informatik in der Schule oder Informatik als Allgemeinbildung waren mehrmals Gegenstand eines Beitrags in diesem Blog. Der Beitrag vom Juni 2013 befasste sich speziell mit den Ansichten von englischen, französischen und schweizerischen Kollegen. Nach der Kommodifizierung der Informatik in den 1980er Jahren wird vielfach von einer Zweiteilung gesprochen. Man käme nur weiter, wenn man trennen würde zwischen der Qualifizierung der Massen (engl. computer literacy) und der Fachausbildung der Spezialisten (engl. professional training). Quer dazu liegt die Frage, welche Informatik-Inhalte verdienen es als Teil der modernen Allgemeinbildung angesehen zu werden. Mir scheint es, als ob Hromkovič dazu neigt, hier den Beitrag der Informatik sehr hoch anzusetzen. Ich selbst neige eher dazu, hier etwas zurückhaltend zu sein.

Rechner in ihrer derzeitigen Ausprägung als Smartphones haben wirklich das Potential sich zu universell einsetzbaren Hilfsmitteln des täglichen Lebens zu entwickeln. Obwohl Autos oder Fahrräder ebenso wenig wegzudenken sind, was die räumliche Fortbewegung betrifft, ist bisher niemand auf die Idee gekommen zu verlangen, dass möglichst viele Menschen es lernen sollten, Autos oder Fahrräder zu bauen. Sie benutzen zu können, und auch einige Notsituationen selbst beheben zu können, ist jedoch wünschenswert. Die Arbeitsteilung ist ein Prinzip, das in der gesamten Wirtschaft zu gesteigerten Leistungen führte. Sie ermöglicht es, Fähigkeiten zu entwickeln und aktuell zu halten, die über das hinausgehen, was ein einzelner Mensch oder ein einzelner Betrieb benötigt und rechtfertigen kann.

Jeder Informatiker, der seine Tätigkeit professiohell ausübt, sollte sich einer Art von kategorischem Imperativ unterwerfen. Wenn man einen Vorgang automatisiert - sei es in der Wirtschaft oder im Privaten - dann sollte man dies so tun, dass niemand mehr dasselbe nochmals machen muss. Studentische Übungen sind ausgenommen. Mit dieser Haltung haben Hasso Plattner und seine Kollegen die Anwendungen eines britischen Chemiekonzerns (ICI) angegangen, bevor sie SAP gründeten. Im übrigen gibt es keinen besseren Ansatz, um das immerwährende Fachkräfte-Problem in den Griff zu bekommen.

3 Kommentare:

  1. Wie erfrischend ist im selben Heft der Beitrag von Schöning/Jablonski/Ermer, der offensichtlich nicht Teil des Themenheftes Bildung ist. Er zeigt, dass dank BPMN auch komplexe Geschäftsanwendungen einigermaßen verständlich dargestellt werden können.

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  2. Juraj Hromkovic schrieb: Die Problematik ist ernst und erfordert behandelt zu werden.

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  3. Hartmut Wedekind schrieb: Ich hab von diesem Thema die Nase gestrichen voll.

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