ich erinnere mich, dass Sie mir einmal Kandels Buch empfahlen. Das Buch hat damals sicher mein Interesse für Neurobiologie geweckt bzw. bestärkt. Der Dokumentarfilm [letzte Woche bei Arte] mit Kandel zum gleichen Thema wie das Buch [‚Auf der Suche nach dem Gedächtnis‘] hat zwar keine neuen Erkenntnisse für mich erbracht, aber die Person Kandel zu sehen, ist ein Erlebnis für sich. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich.
Da mich Eric Kandel sowohl als Person als auch wegen seines wissenschaftlichen Werks schon früher faszinierte, war bei mir – treu dem Diktum von Kandel – bereits so viel Vorwissen im Gedächtnis, dass der Film viele Resonanzen anklingen ließ. Er ist 94 Minuten lang, in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Da Kandel selbst ein sehr europäisches Englisch spricht, ist auch das Original leicht zu verfolgen. Der Film ergänzt in vorzüglicher Weise die Autobiografie von Kandel, ein Buch, das ich nicht nur empfahl, sondern auch mehrfach an meine Freunde und Kinder verschenkte.
Der Film der Regisseurin Petra Seeger veranschaulicht Werk, Lebensgeschichte und Persönlichkeit von Eric Kandel, und das mit allen Mitteln, die einem Film zur Verfügung stehen. Er zeigt Bilder von der Arbeit seiner Mitarbeiter im Labor, aber auch öffentliche Reden und Preisverleihungen, insbesondere die des Nobelpreises im Jahre 2000. Der Film lässt immer wieder Kandel selbst zu Wort kommen. Im Rückblick werden Episoden aus der Jugendzeit von Schauspielern eingespielt, werden aber immer wieder von Kandel selbst eingebunden in wissenschaftliche Fragegestellungen.
So ist die Erinnerung an ein blaues Spielzeugauto mit Drahtsteuerung, das er zum 9. Geburtstag im Jahre 1938 in Wien erhielt, ein Beispiel dafür, dass es Emotionen sind, die Dopamin ausstoßen, durch das die synaptischen Verbindungen verstärkt werden. Ein anderes Beispiel ist die Tatsache, dass seine Frau noch nach 50 Jahren in der Lage ist, den geheimen Fluchttunnel wieder zu finden, der ihr in einem französischen Kloster möglicherweise hätte das Leben retten können, als sie dort vor den Nazis versteckt gehalten wurde. Erst das Gedächtnis macht aus einem Menschen ein Individuum. Es schafft Kontinuität und Kohärenz zwischen verschiedenen Ereignissen im Leben.
So ist die Erinnerung an ein blaues Spielzeugauto mit Drahtsteuerung, das er zum 9. Geburtstag im Jahre 1938 in Wien erhielt, ein Beispiel dafür, dass es Emotionen sind, die Dopamin ausstoßen, durch das die synaptischen Verbindungen verstärkt werden. Ein anderes Beispiel ist die Tatsache, dass seine Frau noch nach 50 Jahren in der Lage ist, den geheimen Fluchttunnel wieder zu finden, der ihr in einem französischen Kloster möglicherweise hätte das Leben retten können, als sie dort vor den Nazis versteckt gehalten wurde. Erst das Gedächtnis macht aus einem Menschen ein Individuum. Es schafft Kontinuität und Kohärenz zwischen verschiedenen Ereignissen im Leben.
Natürlich sind heute alle Arten der Meeresschnecke Aplysia in seinem Labor vorhanden, anhand deren primitiven Gehirn (mit 20.000 Neuronen) er die ersten fundamentalen Untersuchungen vornahm. Aber auch weitergehende Versuche an höheren Tieren mit komplexeren Gehirnen, nämlich Mäusen, werden erklärt. Noch lässt der Schritt zum Menschen (mit 10 hoch 11 Neuronen) viele Fragen offen. Kandels Gruppe hat herausgefunden, welcher chemische Prozess bei Mäusen bewirkt, dass ihre Gehirne weniger schnell degenerieren als die der Menschen. Uns älteren Menschen kann er aber noch keine Hoffnungen machen, das Problem der Alzheimer-Erkrankung bald zu lösen. „Wenn Sie Mäuse wären, könnte ich Ihnen bereits helfen“ sagt er seinen Zuhörern in einem öffentlichen Vortrag.
Kandel fühlt sich mehr der jüdischen Kultur und Tradition verbunden als der jüdischen Religion. Dem Holocaust als historischer Katastrophe ist er nur knapp entronnen, da seine Eltern ihn und seinen 15-jährigen Bruder 1939 allein von Wien nach New York schickten, wo bereits die Großeltern lebten. Seither bewegte ihn die Frage: Wie konnte es dazu kommen, dass Menschen mit einer bewundernswerten kulturellen Geschichte (wie die Deutschen) fähig waren, andere Menschen (die Juden) systematisch zu ermorden? Diese Frage brachte ihn dazu, sich zuerst der Geschichte, dann der Psychoanalyse Freuds und schließlich der neurobiologischen Forschung zuzuwenden. Seine Zeitgenossen hatten sich geschworen, den Holocaust nie zu vergessen, deshalb wollte er auf wissenschaftliche Weise zu erklären versuchen, was lernen und vergessen eigentlich bedeuten.
Dass er bei Besuchen in Wien ohne Schwierigkeiten die Wohnung der Familie und den Laden des Vaters wiederfand, stimmte ihn versöhnlich, ebenso die freundliche Aufnahme durch die Offiziellen der Stadt und des Landes. Einen Kontrast dazu bildete die chaotische Suche nach Erinnerungen an den Kurzwarenladen (engl. haberdasher shop), den sein Vater nach 1939 in Brooklyn betrieb.
Kandel hatte 1972 nachgewiesen, dass das Kurzzeitgedächtnis (KZG) von Lebewesen auf der Veränderung bereits vorhandener Proteine im Nervensystem beruht, das Langzeitgedächtnis (LGZ) dagegen auf einer Neubildung von Proteinen. Verkürzt gesagt: Das KZG arbeitet chemisch, das LZG entsteht durch biologische Wachstumsprozesse, also eine Veränderung der Struktur des Gehirns. Ich sehe in dieser auf experimentelle Weise gelieferten Erklärung des Gedächtnisses einen ähnlichen Meilenstein wie in der Entdeckung der Doppelhelix durch Crick und Watson im Jahre 1953. Hatten damals viele Biologen gehofft, jetzt das Prinzip des Lebens verstanden zu haben, so stellte sich später immer mehr heraus, dass dies bei weitem nicht ausreichte. Die Dinge sind viel komplizierter als vermutet. Dasselbe Schicksal kann auch Eric Kandel blühen.
Zu behaupten, dass Kandel das Leib-Seele-Problem der Philosophie gelöst habe, also den Dualismus in den Mülleimer verfrachtet, und dem Monismus oder dem Materialismus endgültig zum Durchbruch verholfen habe, ist meines Erachtens noch zu gewagt. Er selbst ist zwar der Überzeugung, dass es nichts mehr als ein uralter Traum der Menschheit ist, das Gedächtnis über den Tod hinaus zur Verfügung zu haben. Hier denkt er als Materialist.
Der heutige Wissensstand erfordert nicht, dass jedem einzelnen Gedanken auch mindestens eine Synapse oder ein Neuron, oder genauer gesagt ein physikalisches, chemisches oder biologisches Korrelat, gegenüberstehen muss. Deshalb frage ich mich, ob unser Gehirn nur sich selbst darstellende Information speichert, oder auch beschreibende Symbole (Bezeichner im Sinne der Linguistik), die zwar materiell codiert sind, deren Bedeutung aber nur durch eine logische, mathematische oder andere geistige Interpretation erschlossen werden kann? Dabei steht das Wort ‚geistig‘ für alles, was nur in einem emotionalen, kulturellen, sozialen oder historischen Kontext Sinn macht. Ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lernens besteht nämlich darin, sich diese Interpretationsregeln zu merken, einschließlich der dazu gehörenden Begriffshierarchien und Weltbilder.
Sollte es darüber hinaus vielleicht sogar möglich sein, dass das Gehirn nicht nur Daten speichert, sondern sich auch Werkzeuge baut, d.h. dass es sich Mechanismen schafft, mit denen Gruppen von Gedanken reproduziert werden können? Die dazu passende Analogie im Computer ist die Art, wie man dort Funktionen realisiert. Man kann entweder alle Werte voraus berechnen und in einer Tabelle speichern, oder aber eine Formel verwenden, die jeden einzelnen Wert bei Bedarf errechnet. Wie werden überhaupt Strukturen gebildet? Ist das Gedächtnis wirklich nur ein wirres Steckbrett, wo es eine entscheidende Rolle spielt, welcher Zettel neben welchem klebt?
Auch würde es Neurobiologen sicherlich helfen, wenn jemand ihnen zu einem besseren Informationsbegriff verhelfen könnte. Wenn immer sie über Information sprechen, meinen sie meistens nichts anderes als Signale. Leider tun sich hier auch manche Informatiker noch etwas schwer.
Ich habe Beckermanns Artikel über die verschiedenen philosophischen Ansichten des Leib-Seele-Problems gelesen. Anscheinend wird dieses Thema unter Philosophen immer noch als wichtiges Problem heiß diskutiert.
AntwortenLöschenIn den mir verfügbaren Abhandlungen von Neurobiologen und Hirnforschern kommt dieses Problem so nicht vor. Sie behandeln Körper und Geist als Einheit, und es ist allgemeine Auffassung, dass menschlichen Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Erinnerungen sowohl rationale als emotionale Komponenten umfassen. Bewusste Wahrnehmungen werden individuell verschieden unbewusst „bewertet“. Auch solche „Werte“ (Qualia), wie zum Beispiel Farbeindrücke, werden durch synaptische Verknüpfungen „realisiert“. Bei Emotionen handelt es sich um unbewusste Bewertungen, die als Gefühle ins Bewusstsein vordringen können. Episodische Erinnerungen sind durch erlebte Bewertungen „gefärbt“.
Das beste Buch, was ich zu diesem Thema vorschlagen kann, hat Gerald Edelman zusammen mit Guilio Tononi verfasst: „gehirn und geist – wie aus materie bewusstsein entsteht“. Edelmann behandelt Qualia als Werte eines viel-dimensionalen „Eigenschaftsraumes“, der eine wichtige Rolle bei sich ständig verändernden neuronalen funktionellen Clustern, dem sogenannten neuronalen „dynamischen Kerngefüge“, spielt.
Übrigens bezieht sich Thomas Metzinger in seinem Buch „Der Ego Tunnel“ auf Edelmann.
Metzingers „Phänomenales Selbst Modell“ und Edelmanns „dynamisches Kerngefüge“ scheinen mir „Verwandte“ zu sein.
Ich weiß natürlich nicht, was Eric Kandel von Edelmanns Arbeitshypothese hält. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass sich Kandel eher an Neurobiologie als an rein logischen philosophischen Gedankengängen orientiert.