Donnerstag, 29. Januar 2015

Kann Mathematik die Welt erklären?

Schon immer wunderte es mich, wenn Bekannte voll Stolz bekundeten, dass nach ihrer Überzeugung Gott Mathematiker sein müsste, da die von ihm geschaffene Welt wohl nur mathematisch zu erklären sei. Jetzt ergab sich eine Gelegenheit, dieser Annahme auf den Grund zu gehen. Englands beliebtester Mathe-Guru Ian Stewart hat ein Buch vorgelegt, in dem er die Welt anhand von 17 Formeln erklärt. Das Buch heißt: Weltformeln (engl: Seventeen Equations that Changed the World). Ich habe das Buch überflogen und es dann meinen naturwissenschaftlichen Freunden zum Lesen empfohlen. Ich selbst bin beim zweiten Lesen nach der vierten Formel abgelenkt worden.  

Inzwischen stieß ich nämlich auf ein anderes Buch, das die Titelfrage direkter angeht. Es ist Mario Livios Buch mit dem Titel Ist Gott ein Mathematiker? Es erschien schon 2010 und ist wesentlich unterhaltsamer als Ian Stewarts Buch. Es ist eine lockere Geschichte der Mathematik mit vielen Anekdoten und Zitaten. Dabei versucht es der Frage nach dem göttlichen Ursprung der Mathematik auf den Grund zu gehen. Mario Livio (Jahrgang 1945) ist in Rumänien geboren und lebte die meiste Zeit in Israel. Er arbeitet zurzeit in Baltimore, Maryland, als Astrophysiker. Ich kann das Buch sehr empfehlen. Da es fraglich ist, ob ich nochmals zu Ian Stewarts Buch zurückkehre, gebe ich schon einmal zum Besten, wie weit mich Mario Livio brachte. 

Aufstieg der mathematischen Welterklärung 

Den Anfang machte die Geometrie. Die jungen Leute (es waren nur Männer), die sich um 530 vor Chr. in Kroton in Kalabrien im Hause des Pythagoras (570-510 v. Chr.) aufhielten, glaubten, sie hätten das göttliche Prinzip entdeckt, das die Welt zusammenhält. Erst als jemand ihnen klarmachte, dass sie nicht in der Lage seien, die Hypothenuse eines Dreiecks der Kathedenlänge 1 anzugeben, brach ihre Welt zusammen. Die Leute, die darauf bestanden, dass Wurzel 2 keine rationale Zahl sei, also nicht durch Division zweier ganzer Zahlen ermittelt werden könnte, wurden aus ihrer (Glaubens- ) Gemeinschaft ausgeschlossen. Das hatte allerdings nur lokale Wirkung. Denn über Platons Akademie in Athen soll um 300 v. Chr. der Satz gestanden haben: ‚Lasst keinen der Geometrie unkundigen eintreten‘. 

Das Mittelalter, das Euklids Werk aus dem Arabischem ins Lateinische übersetzte, hielt die Geometrie für die einzige gründliche Wissenschaft. Noch Thomas Hobbes (1588-1679) hob lobend hervor, dass nur die Geometrie präzise Definitionen vorausschickt, ehe sie etwas ableitet, also als wahr behauptet. Allmählich trat auch die Algebra einen ähnlichen Siegeszug an. Galileo Galilei (1564-1642) war zwar mehr von seinen Fernrohren als von der Mathematik fasziniert. Er hielt sie dennoch für göttlich. Er geriet mit seiner Kirche in Konflikt, weil er bezweifelte, dass sie die Quelle aller Wissenschaft sei. Johannes Kepler (1571-1630), der Schwabe, schwor auf Zahlenverhältnisse und schöne Kurven.  

Als René Descartes (1596-1650) zeigte, wie man Zahlen (Koordinaten) und Kurven zusammenbringen kann, gewann schließlich die Überzeugung, dass man alles berechnen kann. ‚Discours de la méthode de bien conduire la raison‘ (Abhandlung über die Methode zur Steuerung der Vernunft), so hieß der Titel seines Hauptwerks. Bei Descartes und später bei Newton erreichte der Glaube an die Allmacht der Mathematik seinen Höhepunkt. Für sie war Gott Mathematiker oder zumindest der gleichzeitige Urheber der Mathematik sowie der physikalischen Realität. Beide enthielten Wahrheiten, von denen man glaubte, dass sie direkt von Gott stammten. 

Zweifel an der mathematischen Allmacht 

Zwei der bekanntesten Vertreter der Aufklärung befanden sich schon in Rückzugsgefechten. Euklids Geometrie sei wahr, auch wenn es keine Kreise gäbe. Das meinte David Hume (1711-1776). Für Immanuel Kant (1724-1804) gehörte der euklidische Raum zum ‚a priori-Wissen‘ des Menschen. Seine Nutzung bedarf keiner Erfahrung. Unsere Sinne können nicht anders, als Euklid zu gehorchen. Da Kant außerdem das Walten der Vernunft und die Existenz eines höheren Wesens als vorgegeben ansah, fand er nicht überall in der Welt so viel Zustimmung wie bei uns in Deutschland. Laut Kant steuert uns die Vernunft und nicht wir sie, wie dies Descartes beschrieb.  

Anfang des 19. Jahrhunderts kam als Erstes die Geometrie in Schwierigkeiten. Der Ungar Janos Bolyai (1802-1860), aber auch Carl Friedrich Gauß (1777-1866) und vor allem sein Schüler Bernhard Riemann (1826-1866) zeigten, dass man ohne das von Euklid schon mit Misstrauen verwandte Parallelenaxiom zu ganz anderen Geometrien gelangt. Die sphärische Geometrie, mit der Gauß arbeitete (und nach ihm alle Geodäten der Welt), ist nur eine von vielen nicht-euklidischen Geometrien. Das ließ den Verdacht aufkommen, die Geometrie sei eine menschliche Erfindung.  

Wenn Gott schon keine Geometrie betreibt – so hoffte man – dann betreibt er wenigstens Logik und Arithmetik. Leider ging auch diese Hoffnung verloren. Die Meinung verbreitete sich, dass nicht nur die Geometrie sondern auch die Zahlen Geschöpfe des Menschen seien. Schon Leopold Kronecker (1823-1891) hatte den berühmten Satz in die Welt gesetzt, dass Gott (nur) die natürlichen Zahlen, also die positiven ganzen Zahlen, geschaffen habe, der Mensch aber den Rest. Der Holländer Luitzen Brouwer (1881-1966) vertrat die Meinung, dass auch die natürlichen Zahlen ein Produkt der menschlichen Intuition seien. Sie seien natürliche Denkobjekte. Kleinkinder und Mitglieder einer primitiven Urwaldgemeinschaft lernen sie quasi von selbst, da sie in einer Umwelt voller diskreter Gegenstände aufwachsen. 

Als letztes Teilgebiet verteidigte die Logik ihre göttliche Herkunft. Gottlob Frege (1848-1925) brachte die 2000 Jahre alte Logik in eine strenge mathematische Form. Er verlieh ihr einen Kalkül. Gleichzeitig wollte er die Grundlagen der Mathematik neu legen. In seiner ‚Begriffsschrift‘ unternahm er es, auch die Arithmetik aus der Logik abzuleiten. Er hatte sein grundlegendes Werk gerade zum Druck gegeben, als Bertrand Russell (1872-1970) ihn brieflich darauf hinwies, dass es gedankliche Schnitzer enthielt. Er hatte nicht beachtet, dass sein exakt aussehendes logisches Gebäude widersprüchliche Aussagen zulässt. Man nennt diese Aussagen Paradoxe oder Antinomien. Die bekannteste dieser Antinomien ist der Werbespruch eines Barbiers, der angibt, alle Menschen zu rasieren, die sich nicht selbst rasieren. Hier ist offen, wer den Barbier rasiert, sofern er ein Mann und keine Frau ist. 

Russel und sein Ko-Autor Whitehead lösten zwar dieses Problem, indem sie eine Typentheorie schufen. Für Informatiker gehört dieser Typenbegriff heute zum täglichen Brot. Mathematiker konnten sich jedoch nie so recht damit anfreunden. Eine Welt, die sich nur behandeln lässt, in dem man sie zerstückelt, widerstrebt dem Geist der Mathematik. David Hilbert (1862-1943) glaubte die Mathematik retten zu können, indem er sie auf ein inhaltsloses Spielen mit Formalismen reduzierte. Auch dieser Rettungsversuch schlug fehl, als Kurt Gödel (1906-1978) sich anmaßte nachzuweisen, dass jedes etwas anspruchsvolle formale System Sätze enthält, die weder als richtig oder falsch bewiesen werden können (Unvollständigkeitssatz). Er gab dem bereits wankenden Turm den letzten Stoß. 

Gedanken zum Selbstverständnis der Mathematik 

Im Grunde ist diese Darstellung der Entwicklung mathematischen Denkens sehr ernüchternd. Umso mehr wundert es, dass sogar Zeitgenossen noch von Mathematik in geradezu euphorischer Weise reden. Ein Beispiel ist der Engländer James Jeans (1877-1946), der meinte, dass das Universum von einem Vollblutmathematiker entworfen zu sein scheint. Auch Albert Einstein (1879-1955) wunderte sich, dass die Mathematik, obwohl sie von jeder Erfahrung unabhängig ist, dennoch vorzüglich auf Gegenstände der Welt passt.  

Roger Penrose (Jahrgang 1931) hält es geradezu für ein Wunder, dass sich die reale Welt an die platonische Mathematik hält. Mit platonisch ist die Vorstellung Platons gemeint, dass die Gesetzte der Natur realer sind als die Natur selbst. Die Natur ist bei Platon nur eine temporäre Verkörperung ewiger Gesetze. Nach dieser Definition wird auch der Satz verständlich, mit dem Livio das Selbstverständnis heutiger Mathematiker beschreibt: Mathematiker seien am Sonntag Formalisten (im Sinne von David Hilbert), während der Woche jedoch Platoniker. Eher vorsichtig drückt sich Michael Atiyah (Jahrgang 1929) aus. Der in England geborene und geadelte Libanese umschreibt es so: Das Gehirn des Menschen hat eine Entwicklung durchlaufen, die es ihm ermöglichte, die Welt zu erschließen. Warum sollte es nicht auch die Mathematik entwickelt haben, die hierfür so auffallend gut geeignet ist? 

Zu den Autoren, die Mathematik als reines Menschenwerk ansehen, gehört der Informatikern und Ingenieuren sehr bekannte Richard Hamming (1915-1996). Er hielt die Erklärungsmacht der Mathematik für eine Illusion. Es gäbe so viel, was die Mathematik nicht erkläre. Das überträfe bei Weitem das, was sie erkläre. Laut Livio werden immer wieder Beispiele zitiert, aus denen geschlossen wird, dass aus mathematischen Formeln neue physikalische Phänomene vorhergesagt werden konnten. Das berühmteste Beispiel sind Maxwells Gleichungen, die zur Folge gehabt hätten, dass Heinrich Hertz elektrische Wellen entdeckte. Ist es nicht eher seine Vorstellung von elektrischem Strom und magnetischen Feldern, also seine Physik, die die Wellennatur beinhaltete, als die mathematische Struktur der von ihm angegebenen Formeln? Eine ähnliches Situation besteht bei den Higgs-Teilchen. Wenn die Physik Erfolge hat, indem sie nach Symmetrien sucht, hat das nichts mit Mathematik zu tun. Symmetrien gibt es auch in der Biologie, d.h. Formen, die auf aufeinander abgebildet werden können. Als jüngsten Autor zitiert Livio den schwedischen Kosmologen Max Tegmark (Jahrgang 1967). Von ihm stammt der Satz: ‚Das Universum wird nicht durch Mathematik beschrieben, es ist Mathematik‘.  

Einordnung und Bewertung 

Es ist keine Frage, dass Mathematik ein enorm erfolgreiches Werkzeug ist. Das gilt aber auch für Fernrohre und Mikroskope, Spaten und Hämmer. Daraus zu folgern, dass der zu beschreibende Gegenstand selbst mathematischer Natur ist, erscheint abstrus. In der langen Geschichte der Menschheit wurden Tiere (Stiere, Schlangen) vergöttert, aber auch Himmelskörper (Sonne, Fixsterne) und Naturerscheinungen (Donner, Erdbeben). Werkzeuge (Hammer, Sichel) erreichten diesen Status nur selten. Eine naturliche Sprache (Arabisch, Hebräisch) kann für heilig gehalten werden, wenn wichtige Offenbarungen in ihnen verfasst sind. Die Mathematik hat denselben Nimbus. Manche Autoren halten sie nämlich für eine Sprache, ja für die universelle Sprache der Menschheit. Was Griechen, und vor ihnen Ägypter und Inder, mittels dieser Sprache erdachten, hat sich über die ganze Welt verbreitet. 

Der von Livio öfters zitierte Mathematiker Stephen Wolfram (Jahrgang 1959) meint, dass die Programmiersprachen eine ähnliche Rolle spielen könnten wie die Mathematik. Man kann mit ihnen die Welt beschreiben, ja sogar ganz neue Welten schaffen. Die Programmierung als solche  ̶  ihre Methoden und Sprachen  ̶   hat ein Potenzial, das dem der Mathematik entspricht, ja vielleicht sogar darüber hinausgeht. Das gilt auch für die didaktischen Möglichkeiten, die sich bieten, um die Welt des Lebendigen zu erklären. Um ähnlich standardisiert zu werden wie die Mathematik, dafür besteht jedoch kaum noch eine Chance. Viele Programmierer hatten das Erlebnis, dass ihr Programm auch Fälle und Situationen richtig behandelte, an die sie beim Schreiben des Programms nicht gedacht hatten. Ich kann mir jedoch keinen Programmierer vorstellen, der daraus ableitet, dass seine (oder irgendwelche anderen) Programme göttlichen Ursprungs seien. 

Durch das ganze Buch taucht immer wieder die Frage auf, ob Mathematiker ihre Erkenntnisse entdecken oder erfinden würden. Wenn man entdecken sagt, meint man, dass die Phänomene bereits vorher existierten. Beim Erfinden treten sie neu in die Welt. Die Antwort, die Livio gibt, ist etwas an den Haaren herbeigezogen. Das Konzept der Primzahlen sei eine Erfindung. Alle Sätze über Primzahlen seien Entdeckungen. Es ist gut, dass Informatiker dieses Definitionsproblem nicht haben, an dem Mathematiker so zu leiden scheinen. Trotzdem sind sich viele Informatiker immer noch nicht im Klaren darüber, dass es ihre Chance und ihre Aufgabe ist, ihr Fachgebiet durch Erfindungen technisch weiterzubringen. 

NB: Dass Livio eine ähnliche Auffassung über Mathematik vertritt, wie ich sie in diesem Blog schon öfters ausgedrückt habe, dürfte dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein. Außerdem möchte ich bemerken, dass der Idealismus Kantscher Prägung zumindest bei einem Beitragenden dieses Blogs auch heute noch hoch im Kurs steht.

Am 29.1.2015 schrieb Hartmut Wedekind:
Übernehmen Sie doch Lorenzens Aufsatz komplett, damit jeder sich seine eigenen Meinung bilden kann. Immerhin ist der Aufsatz auch wegen seiner profunden Kritik einige Klassen besser als das  wenig aufregende Buch von Livio, das eigentlich jeder historisch  gebildete Mathematiker mit ein bisschen Fleiß schreiben kann.

Montag, 26. Januar 2015

Kann man die EZB noch verstehen? (Ad-hoc-Reaktionen)

Der Beschluss der Europäischen Zentralbank (EZB), Schulden der Mitglieder in fast unbegrenzter Höhe (bis über ein Billion Euro) aufzukaufen, wird in Deutschland heftig diskutiert. Als Ingenieur, der an Wirtschaftsfragen nicht uninteressiert ist, wandte ich mich an einige Kollegen mit wirtschaftswissenschaftlicher Kompetenz. Sie sahen meine Fragen als begründet an und gaben umgehend eine klärende Antwort. Dass die Antworten ihrerseits wieder Fragen aufwerfen, liegt auf der Hand. Mit der Erlaubnis meiner Korrespondenzpartner (Hartmut Wedekind, Peter Mertens und Peter Hiemann) darf ich deren Auskunft veröffentlichen.  

Hartmut Wedekind meinte: 

Die Deutschen im EZB-Rat haben sich unterbuttern lassen, oder Autobahnen ins Nichts bauen und riesige, ungenutzte Real Estate-Siedlungen an spanische Küsten zu setzen, das sei südeuropäische (jetzt kommt das Lieblingswort) M e n t a l i t ä t", lasse ich nicht gelten. Statt Mentalität kann man auch Schwachsinn sagen oder Richtungslosigkeit (Sinn = Richtung). Aus der Psychologie der Not ist das alles leicht erklärbar: Denen steht das Wasser bis zum Hals. Nach der Griechen-Wahl wird am Sonntag vermutlich alles noch verschärft. Man greift zu Auswegen, die keine sind. Neben dem Flüchtling- und Zuwanderungsproblem (allgemein) liegt eine zweite Aporie. Und Aporetiker schlagen in ihrer Not häufig wild um sich. Das ist alles Psychologie, auch Kriminal-Psychologie, also Abgründe des menschlichen Seins. 

Was man von Draghi und seinen Leuten verlangen kann, ist, dass ein Investitionsvolumen, das dem geschöpften Geldvolumen von 1000 Milliarden entspricht, bis auf, sagen wir 10 Millionen, heruntergebrochen dargestellt wird. Machbarkeitsstudien, die berühmten ‚feasibilities studies‘, erbittet man sich auch gleich dazu, damit nicht wieder wie in der Vergangenheit Unglücke mit europäischem Geld passieren. Straßen ins Nichts bauen, kann jeder. Gekonntes Investieren aber ist eine hochkomplexe Leistung. Mit der linken Hand, wie in der Vergangenheit, ist da nichts zu machen. Überhaupt war im Euroraum, seit er besteht, nur Leichtsinn angesagt. Vom alten klassischen Vorsichtsprinzip der Kaufleute haben die nichts gehört. Wenn Draghi das nicht kann, tja, dann ist das, was die EZB tut, Schaumschlägerei. Englisch sagt man „ imposture“. Dafür finde ich im  Englisch-Deutschen Wörterbuch das  schöne deutsche Wort „Hochstapelei“. 

Peter Mertens schickte folgende Bemerkung vorweg:  

Viele (nicht alle) Argumente muss man mit den handelnden Personen, ihren Interessen und ihrer kulturellen Prägung verbinden, alles andere wäre blauäugig. Sie wissen das aus Ihrem Berufsleben. Die in der Angelegenheit "Dicke Berta" von ihren institutionellen Mandaten in der EU her Handelnden sind: 
  • Präsident der EZB: Draghi = Italiener (und Goldman-Sachs-geprägt).
  • Sein Stellvertreter: Constancio = Portugiese
  • Für die Finanzmarkttransaktionen zuständiger EZB-Direktor: Coeuré = Franzose
  • In den Verfassungsklagen gegen Draghi verantwortlicher (Bericht erstattender) Generalanwalt des EuGH: Villalon = Spanier
  • Präsident des EuGH: Skouris = Grieche
  • EU-Währungskommissar: Moscovici = Franzose
  • Präsidentin des Weltwährungsfonds: Mme. Lagarde = Französin.
D. h.: alles Bürger von Schuldnerländern. Die Positionen der tendenziell solide finanzierenden und in den EU-Gremien in der Minderheit stehenden Länder (Deutschland und andere, meist nordeuropäische Staaten) sind nicht zufällig anders als die der Mittelmeerländer, sondern kultur- und wirtschaftsgeschichtlich bedingt. Ein deutscher Wirtschaftshistoriker hat einmal auf Folgendes hingewiesen: Die Skandinavier haben relativ kurze Ernteperioden und lange Winter. Sie müssen also von der Ernte Teile abzweigen und auf Vorrat "bunkern" = sparen. Hingegen kann man am Mittelmeer über weite Strecken des ganzen Jahres ernten, man hat also das Sparen nicht in gleichem Maße verinnerlicht wie die Nordeuropäer.

Kollege Mertens ging dann auf meine Fragen im Einzelnen ein, und zwar mit der Bemerkung: Ihre Fragen sind durchaus begründet und nicht sofort von der Hand zu weisen. Ich versuche, differenziert zu antworten. "Ja" heißt, ich stimme Ihnen im Wesentlichen zu.

Bertal Dresen (BD): Warum gibt die ganze Welt Draghi Recht, nur die deutsche Politik (Schäuble) und die deutsche Wissenschaft (H.W. Sinn) nicht? Wissen die es besser, oder ist unsere Situation derart verschieden vom Rest der Welt, zumindest aber von der in Südeuropa?

Peter Mertens (Kollege B = KB): Ja, unsere Situation ist sehr verschieden. Z. B. wird aufgrund der höheren Kinderzahl der Französinnen in den kommenden Jahren bzw. Jahrzehnten (bis zu einem evtl. radikalen Strukturbruch, der aber erst mit Zeitverzögerung wirken könnte) Frankreich einen Zuwachs an Arbeitskräften von etwa 250.000/Jahr haben, Deutschland einen Mangel in etwa gleicher Höhe. Das schlägt nach Berechnungen verschiedener Institutionen, die sich mit Generationenforschung befassen, massiv zur Altersversorgung durch. Also müsste die deutsche Bevölkerung eisern sparen. (Ex-Sozialminister Müntefering: "Man muss das zweite und dritte Bein der Altersversorgung (v.a. private Vorsorge) stärken".) Die Niedrigstzinspolitik bis hin zu Negativzinsen ("Guthabengebühren") beeinträchtigt aber das Thesaurieren von Einkommensbestandteilen und verführt vor allem jüngere und "mittelalte" Berufstätige in den Luxuskonsum (Geländewagen, Auslandsurlaube bis hin zu Kreuzfahrten und Weltreisen, Luxusküchen usw.).

Wie die Gegnerschaft des Signore Draghi zu den deutschen Sparerinnen und Sparern, denen er ja „perverse Ängstlichkeit“ attestiert hat, zu beurteilen ist, wäre ein anderes Thema, ebenso die Distanzierung von französischen und amerikanischen Politikern und Ökonomen vom deutschen Rechtsstaat. Z. B. „Intelligente Interpretation“ oder „flexible Handhabung“ statt „Einhaltung“ eines Gesetzes. Von der Deutschland-skeptischen Mme. Lagarde wurde sogar berichtet, sie habe einmal in einer Sitzung gesagt: „Wenn ich noch einmal Bundesverfassungsgericht höre, verlasse ich den Saal“.

Die Situation in USA ist auch verschieden von der Eurozone, weil die US-Bundesstaaten keine Haftungsunion bilden. So mussten z. B. Kalifornien oder Detroit in die Insolvenz, Massachusetts oder Miami haben damit nichts zu tun, wohl aber Deutschland mit Griechenland. Das japanische Experiment der Geldflutung („Abenomics") gilt als gescheitert, die Konsequenz waren fast zwei Jahrzehnte Schrumpfung bzw. Stagnation.

Im Übrigen erscheint mir Ihre Einschätzung, die ganze Welt gäbe Draghi Recht, arg holzschnittartig. Die „EU-Auguren“ rätseln an dem Ergebnis der Abstimmung im EZB-Rat, nachdem Draghi diesmal nicht hatte abstimmen lassen, sondern den Pressevertretern nur sagte: „Eine große Mehrheit des 25-köpfigen Rates sei der Ansicht gewesen, dass es nötig sei, jetzt den Auslöser zu drücken“ (FAZ, 23. 1. 2015).

BD: Muss die EZB deshalb so handeln, weil die Regierungen in Europa oder die EU-Kommission nicht ihre Hausaufgaben machen?

KB: Sie tat es, musste aber nicht. Ersatz der Pflichterfüllung von Staatsregierungen durch finanzielle Maßnahmen der Zentralbank ist Gegenstand der Verfahren vor Verfassungsgerichten.

BD: Schwimmen die Banken nicht schon in Geld aufgrund der niedrigen Zinsen der EZB? Ist es nicht vielmehr ein Problem, den Banken das Finanzieren von privaten Investitionen überhaupt (wieder) schmackhaft zu machen? Es ist mein Eindruck, dass sie lieber Staatsfinanzierung oder Börsenspekulation betreiben.

KB: Ja. Die bisherige EZB-Politik des Geldflutens („Quantitative Easing“) hat in der jüngeren Vergangenheit schon zu Krediten durch die Geschäftsbanken an der Grenze des Vertretbaren geführt. In Verbindung mit härteren Auflagen an die Eigenkapitalausstattung der Banken (z. B. „Banken-Stresstests") sehen diese zu wenige Erfolg versprechende Investitionen, die sie kreditieren wollen/können. Dass die EZB-Geldspritzen die Spekulation fördern werden, gilt meines Wissens als unbestritten, siehe die extreme Aktienkurssteigerung nach der EZB-Entscheidung. Mit Aktien, riskanten Fonds u. dgl. kann/sollte aber nicht spekulieren, wer seine Altersversorgung maßgeblich auch mit persönlichen Ersparnissen finanzieren muss.

BD: Eine Anregung der Produktion allein greift doch heute zu kurz. Muss nicht auch der Konsum 'angeregt' werden? Ich denke an die sehr erfolgreiche Abwrackprämie.

KB: Die Abwrackprämie sehe ich rückblickend als sehr problematisch an. Details würden hier zu weit führen. Man könnte den Konsum auf breiter Front durch Senkung von Steuern und anderen Zwangsabgaben anregen. Das geht jedoch wegen der Staatsverschuldung auch nur sehr begrenzt. Gerade in Deutschland kommt es wegen der Demographie nicht auf erhöhten Konsum, sondern auf verstärktes Sparen und Investieren (in die Infrastruktur, soweit dadurch künftige Generationen entlastet werden) an.

BD: Woher weiß man, dass es überall in Europa (auch in Malta und Zypern) gute Ideen gibt, in die zu investieren sich lohnt? Wie mir ein deutscher Wagniskapitalgeber schon vor Jahren sagte, gehen deutsche Investoren am liebsten in die USA. Dort gibt es nicht nur mehr nützliche Ideen, vor allem aber ein höheres Maß an Transparenz und Wettbewerb (e.g. im Silicon Valley).

KB: Ja. Ich werde noch Ende dieses Monats (leider wohl etwas spät) auch wieder etwas Geld in Dollar tauschen.

BD: Was ist eigentlich das übergeordnete Ziel der transnationalen Wirtschaftspolitik? Es scheint eine niedrige Arbeitslosigkeit zu sein. Es ist ziemlich egal, was die Griechen in wirtschaftlicher Hinsicht machen, Hauptsache sie gehen nicht auf die Straße.

KB: Das übergeordnete Ziel der meisten Befürworter einer Währungs- und Haftungsunion ist der Frieden in Europa. Immer wieder haben deutsche Politiker den Euro als großes Friedensprojekt bezeichnet. Ich halte viele, soweit sie nicht Spezialinteressen vertreten wie die Lobbyisten der Exportindustrie, für "Euromantiker". In der Zeit des Gemeinsamen Marktes vor der Währungs- und Haftungsunion gab es das "Deutschland- oder Merkel-Bashing" wie „Merkel behandelt die Eurozone wie ihre Filiale“ (Juncker), „Was die Deutschen nicht mit ihren Panzern im zweiten Weltkrieg erreichten, haben sie mit dem Euro geschafft“ bis hin zu einer üblen Anspielung auf die Querschnittslähmung des Bundesfinanzministers m. W. nicht. Besonders schmerzend ist die seit der Begründung der Europäischen Währungsunion entstandene Entfremdung zwischen Italien und Deutschland. So formulierte der Italien-Korrespondent der FAZ, Piller, nach der jüngsten EZB-Entscheidung u. a.: „Die Geldschwemme der EZB wird in Italien als Triumph über den Lieblingsfeind Deutschland gesehen“ und „Kein Wunder, dass jüngst in einer Umfrage 54% der Italiener Deutschland als größten Feind bezeichnet haben“.

Der Versuch von vier Griechen im Dezember 2013, das Kind des deutschen Botschafters in Athen zu ermorden, wobei nach Presseberichten der griechische Schutzpolizist eine umstrittene Rolle spielte, war ein trauriger Höhepunkt. Meine bescheidene Frage, ob denn nun nach einem Jahr die Täterinnen/Täter gefasst sind, wurde von mehreren Institutionen wie dem Griechischen Generalkonsulat nicht beantwortet. Das Auswärtige Amt verweigerte die Antwort und verwies stattdessen auf einen Internettext der griechischen Polizei, der in griechischer Sprache und Schrift verfasst ist.

BD: Mario Draghi sagte, er würde Anleihen aufkaufen, bis die Inflation steigt. Ist da nicht ein seltsames Modell dahinter, dass nur eine wachsende Wirtschaft eine gute Wirtschaft ist?

KB: Die riesigen Staatsschulden können in mehreren europäischen Nationen ohne die Kombination „Wirtschaftswachstum und Inflation“ kaum abgetragen oder auch nur finanziert werden. Inflation und Wachstum müssen nicht korrelieren, sie tun es aber in Überhitzungsphasen oft. In den Siebziger Jahren gab es zeitweise "Stagflation", die inflationsfördernden Maßnahmen verringerten die Arbeitslosigkeit nicht. Andererseits erlebte Deutschland in den letzten beiden Jahren vergleichsweise starkes Wachstum ohne hohe Inflationsraten. Das 2%-Inflationsziel ist nicht gesetzlich vorgegeben. Signore Draghi hat kürzlich in einem Interview mit dem Handelsblatt auf eine Frage geantwortet: "Das ist unsere gesetzliche Pflicht“. Da es aber ein Gesetz mit dieser Zahl nicht gibt, entgegnete er auf eine weitere Frage der Interviewer: "Das hat der EZB-Rat beschlossen". Ich kann nicht erklären, wieso Geldwertstabilität, die die EZB von Amts wegen zu verteidigen hat, bei 2% Inflation gegeben ist, nicht aber bei 0%.

Peter Hiemann, der von Hause aus Mathematiker ist, schrieb:

Nachdem die EZB-Entscheidung gefallen ist, konnte ich nur ein paar Überlegungen anstellen, die ich Ihnen gerne mitteile. Ich stellte mir folgende Fragen:

(1) Wozu werden die zusätzlich verfügbaren Euro verwendet werden?
Zusätzliche Euro, die ausschließlich für reale Investitionen in kommunale Infrastrukturen und Industriekapazitäten verwendet werden, können einen gewünschten Effekt der Verbesserung der Wirtschaftssituation in derzeit „notleidenden“ EU Staaten entfalten. Mit zusätzlichen realen Investitionen in Unternehmen können Arbeitslosigkeit verringert und Anreize für zusätzliche private Investitionen geschaffen werden. Investitionen in nicht produktive „Werte“ (z.B. Aktien, Hedgefonds, Lebensversicherungen) tragen nicht zur „Verbesserung“ der derzeitigen Wirtschaftssituation bei. Mögliche politisch orientierte Steuerungen von Finanzflüssen zum Vorteil eines Staates können nur von nationalen Institutionen geleistet werden.

(2) Wer ist bereit, zusätzliche reale Investitionen in Unternehmen und privat vorzunehmen?
Schon vor der Ankündigung der EZB, zusätzliche Geldmittel bereitzustellen, gab es „überschüssiges“ Kapital, das fast „verzweifelt“ nach profitablen Anlagemöglichkeiten suchte. Die Ankündigung der Bereitstellung zusätzlicher Euro durch die EZB hat eine unmittelbare internationale Abwertung des Euro bewirkt. Das mag von der EZB beabsichtigt sein, um für Staaten des Euro-Raumes bessere Exportchancen zu schaffen. Ob und in welchen derzeit „notleidenden“ EU-Staaten überhaupt spezielle Produkte mit Exportchancen existieren, konnten Experten (weder der Politik noch der Ökonomie) der Öffentlichkeit nicht erklären oder vermieden es mitzuteilen. Die internationale Abwertung des Euro hat in der Bevölkerung einen Vertrauensverlust in die Euro Währung bewirkt, und Kleinanleger beflügelt (Schwarmverhalten?), mit  Aktienkäufen Euro Besitzstände zu „retten“. Der Mittelstand hat auch verstanden, dass deren Besitzstände in Lebensversicherungen durch die Emittierung „billigen“ Geldes durch die EZB mehr als gefährdet sind. Dass und wo derzeit die Bereitschaft existiert, zusätzliche reale Investitionen in Unternehmen (vor allem mittelständische) und privat  vorzunehmen, ist nicht zu erkennen.

(3) Wie wird sich die EZB-Aktion auf die Bevölkerung in verschiedenen EU-Ländern auswirken? Es ist unmöglich einzuschätzen, wie sich die gewaltige Vermehrung der Euro-Geldmenge auf das ökonomische Verhalten der Bevölkerungen in EU-Staaten auswirken wird. Der Vertrauensverlust in die Euro-Währung beunruhigt vermutlich am meisten große Teile der deutschen Bevölkerung, die der einst stabilen D-Mark nachtrauern. Das hat indirekt Auswirkungen auf das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber Ausländern. Ob berechtigt oder nicht, machen sich derzeit wohl alle Bevölkerungsgruppen in allen Ländern Gedanken hinsichtlich zukünftiger ökonomischer Perspektiven. Der unvorstellbare Super-GAU für Eurostaaten wäre eine Währungsreform mit der Wiedereinführung nationaler Währungen, die große politische Veränderungen nach sich ziehen würde. Es bleibt zu hoffen, dass derzeit „notleidende“ Eurostaaten es schaffen, mit zusätzlichen Euro Kapital-Reformen zu finanzieren, die langfristig diese Staaten in ruhiges Fahrwasser mit stabilen Schiffen bringen.

(4) Hat die EZB-Aktion das Potential, politische Veränderungen nach sich zu ziehen?
Politische Bewegungen sind seit Langem verstärkt zu beobachten, da es seit 2008 nicht oder nur unzulänglich gelungen ist, die lang anhaltenden ökonomischen Krisensituationen  „unter staatliche (politische) Kontrolle“ zu bringen. Am deutlichsten sind neue politische Bewegungen in Griechenland, Spanien und Frankreich zu erkennen. Derartige Bewegungen bieten kein einheitliches Bild hinsichtlich sozialer Orientierungen. Wohl in allen derzeitigen gesellschaftlichen Bewegungen kann zunehmende Unzufriedenheit mit der zunehmenden Differenzierung zwischen Arm und Reich beobachtet werden. Die EZB-Aktion wird vermutlich auch die derzeitige Diskussion über die Akkumulation des Reichtums in Großunternehmen und bei Großanlegern weiter „anheizen“. Zumal Unternehmen mit bewährten Namen um ihre Reputation besorgt sind, wenn ihre Produktstrategie und Investitionen von global operierenden Kapitaleignern kontrolliert werden. Der Verdacht mag sogar berechtigt sein, dass Großanleger EZB-Information besessen haben könnten, um mit Optionen für Währungs- und Aktientransaktionen „Investitionen“ durchgeführt haben.

(5) Können politischen Institutionen zusätzliche Aktionen mit dem Ziel initiieren, die Euro-Währung langfristig zu stabilisieren und für globale Handelstransaktionen attraktiv zu gestalten? Wie Vertreter führender politischer und ökonomischer Institutionen argumentieren, um die gegenwärtigen Krisensituationen nach unterschiedlichen Interessenlagen einzuschätzen und auch für ihre Interessen zu nutzen, lässt sich derzeit bei ihrem Treffen in Davos beobachten. Es würde einer international anerkannten, mit einem entsprechenden Mandat und Macht ausgestatteten Institution obliegen, das Wissen über globale Finanzströme zu erwerben und auf dem Laufenden zu halten, um alle Staaten in die Lage zu bringen, gemeinsame Konferenzen mit dem Ziel abzuhalten, gemeinsam ökonomische Interessen zu verfolgen, die keinem der beteiligten Staaten schaden. Die derzeit existierenden internationalen Institutionen wie EZB, Weltbank, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich oder Internationaler Währungsfond können nur versuchen, für anliegende Probleme kurzfristige Lösungen im Interesse der Kapitaleigner der internationalen Institutionen mit Hilfe existierender nationaler Institutionen zu verfolgen.


Vielleicht ist die Zeit reif für einen internationalen „New Deal“. Zur Erinnerung: Der New Deal war eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, die in den Jahren 1933 bis 1938 unter US-Präsident Franklin Delano Roosevelt als Antwort auf die Weltwirtschaftskrise durchgesetzt wurden. Er stellte einen großen Umbruch in der Wirtschafts-, Sozial- und Politikgeschichte der Vereinigten Staaten dar. Die zahlreichen Maßnahmen wurden von Historikern unterteilt in solche, die kurzfristig die Not lindern sollten (englisch relief ‚Erleichterung‘), in Maßnahmen, welche die Wirtschaft beleben sollten (recovery ‚Erholung‘), und in langfristige Maßnahmen (reform ‚Reform‘). Unter relief fielen die Hilfen für die zahlreichen Arbeitslosen und Armen, unter recovery unter anderem die Änderung der Geldpolitik und unter reform zum Beispiel die Regulierung der Finanzmärkte und die Einführung von Sozialversicherungen (Wikipedia).

Schlussbemerkung (Bertal Dresen): Wie bei jeder politischen Diskussion so kommen auch hier Grundüberzeugungen zum Vorschein. Über die Rolle des Staates in der Wirtschaft kann man sehr verschiedener Meinung sein. Das hängt mit dem Bild zusammen, dass man vom Staatsbürger hat. Für die einen ist er vor allem wirtschaftlich selbständiger Akteur, für andere der Empfänger von Transferleistungen. Für viele Leute ist zu viel Staat von Übel, für andere ist der Staat der unverzichtbare Regulator. Das gilt für Nationalstaaten ebenso wie für überstaatliche Verbünde wie die EU. Dass wir oft Euro-Raum mit EU-Raum gleichsetzten, ist eine Ungenauigkeit, die nicht nur Engländer marginalisiert.

Samstag, 17. Januar 2015

Die vier Jahre dieses Blogs – statistisch gesehen

Dieser Blog ist inzwischen über vier Jahre alt. Er hat zweifellos den Charakter eines neuen, bisher nicht bekannten Mediums verloren. Mit dem Neuigkeitswert nimmt natürlicherweise das Interesse ab. Es fiel mir schwer, mich überhaupt dazu aufzuraffen, wieder eine Statistik zu machen. Ich tat es schließlich mit dem mir selbst gegebenen Versprechen, in Zukunft statt im Halbjahreszyklus nur noch einmal pro Jahr einen Rückblick zu verfassen. Da ist es sinnvoll, nur volle Jahre als Vergleichsdaten zu verwenden. Damit will ich gleich heute beginnen. Die heutigen Daten basieren auf dem Stand von 15.1.2015. 

Besucherzahlen und Herkunft 

Die Zahl der Besucher (Seitenaufrufe) des Blogs hat sich von 57.175 im Jahre 2013 auf 62.447 im Jahre 2014 erhöht, also um 5.272 (9,2 %). Es gab also einen neuen Wachstumsschub. Auf die Gründe dafür wird weiter unten eingegangen. Die tägliche Besucherzahl liegt bei etwa 175 Besuchern. Das sind etwa 20 pro Stunde oder 5200 pro Monat. Das hätte ich mir vor vier Jahren nicht einmal im Traum vorgestellt. Insgesamt stieg die Zahl der bisherigen Besuche des Blogs von 81.883 auf 144.330. Da wiederkehrende Besucher nicht erkannt werden, ist die Zahl der unterschiedlichen Besucher natürlich um Einiges geringer. 

 

 Besucher und deren Herkunft (für die letzten zwei Jahre) 

Die Verteilung der Leser auf Länder zeigt interessante Veränderungen. Die Ukraine weist ein ungewöhnliches Anwachsen auf, das möglicherweise politische Gründe hat. Auch das Vereinigte Königreich wuchs überproportional. Russland und Spanien fielen zurück, aber auch die nicht gelisteten Übrigen Länder. Polen und Irland sind jetzt (wieder) unter den ersten Zehn. Es gibt daher in der obigen Liste drei Länder, für die keine Vergleichsdaten ausgewiesen sind (Abk. NA). 

Themen und ihre Beliebtheit 

Ich bin immer wieder beeindruckt, wie unterschiedlich die Besucherzahlen für einzelne Themengebiete sind. Die beiden Spitzenreiter halten unverändert ihre Position. Auch die beiden nächsten sind alte Bekannte. Auf Platz 5 liegt inzwischen das Interview von Manfred Roux mit Klaus Küspert vom Sommer 2014. Ihm folgen mein Beitrag zu Karl Ganzhorns 90. Geburtstag in 2011 knapp vor dem Interview, das ich mit Hasso Plattner im September 2013 führte. Zwei Schüler von Klaus Küspert, die über ihre berufliche Tätigkeit in Amerika berichten, wecken überdurchschnittliches Interesse. 

 
 Spitzenthemen über Gesamtzeit 

Mein vor vier Jahren unternommener Versuch, deutsche Erfinder und Unternehmerpersönlichkeiten aus der Informatik bekannt zu machen, wurde durchaus geschätzt. Auch zwei Fachbeiträge (Informationsbegriff, Programmiersprachen) halten sich ganz gut. Meine Sicht auf den ‚Whistle Blower‘ Edward Snowden findet sogar Beachtung. Ich verglich ihn mit Michael Kohlhaas, was einige Leser für unangebracht hielten. Schließlich reizen meine beiden Hobbys (Geschichte, Reisen) auch andere Leute zum Stöbern. 

Aktuelles Geschehen im letzten Jahr 

In der vorhergehenden Tabelle dominieren eindeutig die ‚alten Schätze‘. Nur zwei von 15 Spitzenreitern stammen aus dem letzten Jahr. Deshalb habe ich bereits beim letzten Mal eine neue Tabelle produziert. Die jetzige zeigt  die Spitzenreiter von 2014, also des ganzen letzten Jahres. Sie ergibt eine Basis für eventuelle weitere Jahresübersichten. Hier erkennt man sofort den Grund für den oben erwähnten Aufschwung. Es sind vier der Interviews von Manfred Roux und Klaus Küspert, die es in die 15er Spitzengruppe schafften. Es ist ein Boom, der die Nutzerzahlen vor allem in Deutschland in die Höhe trieb. Die beiden Kollegen haben diesem Blog einen Vitaminstoß verabreicht.

Das Gebiet der Physik, das zwei meiner Freunde (Hans Diel, Peter Hiemann) sehr fasziniert, ist leider nur mit einem Beitrag vertreten. Es ist die Beschäftigung mit dem Buch ‚Im Universum der Zeit‘ von Lee Smolin, dem wir zu Dritt zu Leibe rückten. Von den politischen Themen hat es nur der Beitrag über die Energiewende geschafft, ein Thema, für das mich Hartmut Wedekind gewinnen konnte. Es gab mir Gelegenheit, meinen Ressentiments gegen mathematische Modelle freien Lauf zu lassen. Außer den Beiträgen, die Karl Ganzhorn betreffen, sind es zwei Nachrufe auf verstorbene Kollegen (Heinz Zemanek, Wilhelm Spruth) die Beachtung fanden. Dies belegt, dass diese Mühe honoriert wird.

Spitzenthemen des letztes Jahres 

Mit insgesamt 372 Beiträgen macht die statistische Auswertung dieses Blogs immer mehr Arbeit. Leider sind die vom Blogger zur Verfügung gestellten Werkzeuge nicht nur sehr primitiv, sondern auch voller Fehler. Ich komme an der Knochenarbeit nicht vorbei. Zum Glück bekomme ich Hilfe in meiner Familie, wenn ich mich in punkto Datenverarbeitung überfordert fühle. Dabei gibt es doch so gute allgemeine Hilfsmittel. Nur helfen diese nur beschränkt, wenn man sie nur einmal im Jahr benutzt. Den nächsten Bericht wird es vermutlich Anfang nächsten Jahres geben, vorausgesetzt, dass ich dann noch Lust und Laune habe.

Mittwoch, 14. Januar 2015

Über ‚Charlie Hebdo‘ und Pegida, oder aber über Libertinismus und Blasphemie

Alle politischen Kommentatoren scheinen sich diese Woche in einem Punkte einig zu sein: Das Anwachsen der Zahl der Demonstranten beim letzten Pegida-Aufmarsch in Dresden passt nicht zu den Ereignissen in Paris. Dort gingen über eine Million Menschen auf die Straße, um auszudrücken, dass sie den Terroristenanschlag gegen die Redaktion der Satirezeitschrift ‚Charlie Hebdo‘ zutiefst verachten. Alle namhaften Politiker Europas und des Nahen Ostens reihten sich in den Trauerzug ein. In Dresden trug man auch Trauerarmbinden, argumentierte aber weiter gegen die Islamisierung des Abendlandes. Kann es sein, dass man aneinander vorbeiredet? So etwas kann vorkommen. 

‚Charlie Hebdo‘ und die 68er

Es wurde berichtet – selbst kann ich es nicht nachprüfen – dass das französische Satire-Blatt, das auf so traurige Weise berühmt wurde, die französische Demokratie verkörpere. Ja, es stelle die Essenz einer Demokratie dar, da es auf der freien Meinungsäußerung beruhe. Im speziellen Fall von ‚Charlie Hebdo‘ gehe es um die 1968er Bewegung. Vermutlich wird inzwischen jedem Schulkind das Gefühl vermittelt, dass unsere Demokratie hier ihre Wurzeln, ja ihren Anfang hat. Ihre Protagonisten gelten schon fast als Heroen der europäischen Geschichte. Als Zeitgenosse muss ich mich da manchmal etwas wundern.  

Die 1968er Bewegung wird außer als Opposition gegen den Vietnamkrieg vor allem als Aufstand gegen Autoritäten (insbesondere Altnazis) in der Politik, in der Bildung und in der Familie gesehen. Darüber hinaus wurden sexuelle Freiheiten erkämpft, unter anderem bezüglich Abtreibung und Homoehe. Was ihren Verlauf betrifft, so zerfällt die 68er Bewegung zumindest in drei Teile. Am stärksten in Erinnerung ist für mich der Teil, der sich radikalisierte. Ihr ‚nom de guerre‘ hieß ‚Rote Armee Fraktion (RAF). Sie beschäftigte die Polizei mehr als ein Jahrzehnt lang. Sie zog eine Blutspur durch ganz Europa. In Deutschland hinterließ sie eine Kette von Morden an bekannten Personen des öffentlichen Lebens (so Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hans Martin Schleyer, Karl Heinz Beckurts) und an Sicherheitskräften. Die Entführung eines Lufthansa-Fluges und der Befreiungsschlag von Mogadischu im Herbst 1977 gelten als Höhepunkt. 

Der zweite Teil der 68er Bewegung hat sich im kollektiven Gedächtnis eingeprägt durch das Foto der Kommune 1 in Berlin. Auf dem Foto zeigt eine Gruppe Erwachsener, durchmischt von Kleinkindern, der Welt ihren nackten Hintern. Das Bild sollte sexuelle und moralische Freizügigkeit symbolisieren, also eine Form des Libertinismus. Uschi Obermeier, Rainer Langhans und Fritz Teufel gehörten zu diesem Teil der Szene. Obermeier hat später versucht in Hollywood Fuß zu fassen. Langhans lebt heute in München in einem Harem von fünf Frauen.  

Ein dritter Teil der 68er fand den Weg in die Politik, und zwar durch die Gründung der Partei der Grünen. Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Jürgen Trittin gehören zu diesem Ableger. Cohn-Bendit zog als Vertreter der französischen Grünen ins Europa-Parlament. Fischer vertrat die Bundesrepublik als Außenminister während des Kosovo-Krieges. Sowohl Cohn-Bendit wie Trittin mussten sich noch in jüngster Zeit gegen Vorwürfe der Verführung Jugendlicher (Pädophilie) verteidigen. 

Aus Sicht der Gesellschaftsentwicklung ist es eine offene, aber berechtigte Frage, ob einige der oben erwähnten Errungenschaften auch gekommen wären, ohne dass Joschka Fischer Steine auf Polizisten hätte werfen müssen, ganz zu schweigen von den Übergriffen der RAF-Aktivisten. Jede blutig verlaufene Umwandlung führt zu dieser Frage. Die frühere DDR hat an diesem Teil unseres gesellschaftlichen Reifeprozesses nicht teilgenommen. Es kann dies mit ein Grund sein, warum in Ostdeutschland einige Dinge anders gesehen und empfunden werden als bei uns im Westen. Übrigens neigen auch Menschen dazu vergangene Revolutionen zu verherrlichen, von denen man es nicht erwartet hätte. So erklärte Volker Kauder, der Vorsitzende der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag, dass er voll in der geistigen Tradition der Französischen Revolution stünde. Zu den 68ern rechnet er sich noch nicht. 

Vom Libertinismus zur Blasphemie 

Wie oben erwähnt, war Libertinismus ein Kennzeichen der deutschen 68er Bewegung. Fälle von Blasphemie hingegen blieben uns weitgehend erspart. Sie ist bei uns nämlich strafbar nach §166 des Strafgesetzbuches. Gleiches gilt in England, Österreich und der Schweiz. Bei uns ist im Gesetz eine Einschränkung hinzugefügt, die besagt, dass es nicht immer gilt, sondern nur, wenn die Beschimpfung von Glaubensbekenntnissen, Religionen und Weltanschauungen den öffentlichen Frieden stört. Eigentlich müsste statt des Wortes ‚wenn‘ ein ‚weil‘ stehen. Sonst muss man glauben, dass man alle Religionen beleidigen darf, die tolerant sind und nicht auf Beleidigungen reagieren. 

In islamischen Staaten wie Pakistan wird Blasphemie sehr streng verfolgt. Auch die Meinung des Volkes entspricht voll der Rechtsauffassung des Staates. Das zeigte sich in dem Streit um die Mohammed-Karikaturen, welche die dänische Zeitung Jyllands-Posten im September 2005 brachte. Es gab monatelange Unruhen in der ganzen arabischen Welt. Trotzdem hielt es die französische Redaktion von ‚Charlie Hebdo‘ für opportun, die Gestalt Mohammeds immer wieder ins Lächerliche zu ziehen. Warnungen in Form von Sprengstoffanschlägen blieben nicht aus. Ein Gesetz, das Blasphemie verbietet, gibt es in Frankreich nicht (außer im Elsass und in Lothringen). 

Wie sehr das jetzige Attentat zu verurteilen ist, so darf man bezweifeln, ob wir dieser Form der Beweise unserer Meinungsfreiheit tatsächlich bedürfen. Der öffentliche Friede ist ebenfalls ein Rechtsgut, das in der deutschen Fassung des entsprechenden Gesetzes berücksichtigt wird. Es ist bezeichnend, dass im Moment die Abschaffung des Blasphemie-Gesetzes (§166) nur von einer einzigen deutschen Partei gefordert wird, nämlich von der um ihr Überleben ringenden FDP.  

Pegidas unverstandenes Anliegen 

Pegida hat das Problem, dass es schwer ist, ihr wirkliches Anliegen zu verstehen. Es gibt ein Dokument, in dem 19 Punkte stehen. Diese sind fast alle so, dass die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung ihnen zustimmen kann. Es geht primär um die bessere Betreuung von Flüchtlingen, aber auch um direkte Demokratie. Fast alle Punkte finden sich auch im Programm von Splitterparteien, die bei der letzten Wahl für den Bundestag kandidierten. Dass man für die oft geistlose Umdeutung grammatikalischer Geschlechter immense Energie verschwendet (Gender Mainstreaming), wird auch von einigen meiner Bekannten belächelt.  

Einen Gegensatz bilden die bei den Umzügen mitgeführten Plakate. Hier stehen Dinge zu lesen wie: ‚Sachsen bleibt deutsch‘ oder ‚Kartoffeln statt Döner‘. Auch der Ausdruck ‚Lügenpresse‘ kam bisher nur auf Plakaten vor. Dennoch wurde es zum Wort des Jahres erkoren. Pegida hat meines Erachtens wenig mit Charlie Hebdo noch mit dem Überfall zu tun. Ihre Anliegen  ̶  sofern man diese überhaupt zur Kenntnis nehmen will  ̶  liegen auf einer anderen Ebene. Solange die Vertreter Pegidas sich nicht in der Öffentlichkeit der Diskussion stellen, verbreiten sie Angst. Ob das ihre Absicht ist, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht begeben sie sich doch noch in die politische Arena. 

Reformierbarkeit des Islams 

Angela Merkel hat unserem Land schon einige Reformen zugemutet. Sie vollzog einen Zickzack-Kurs in der Energiepolitik. Sie verschärfte und lockerte die Rentenpolitik. Sie schaffte die Wehrpflicht ab und lieferte Waffen in Kriegsgebiete (nur für die Peschmerda, nicht für alle Kurden). Jetzt wendet sie sich offensichtlich auch den bei uns lebenden Muslimen zu. Sie übernahm  ̶  fast überraschend  ̶  Christian Wulfs Formulierung, dass der Islam zu Deutschland gehöre.  

Wenn man davon absieht, dass es politisch inopportun ist, eine im Raum stehende Formulierung nicht zu akzeptieren, wäre es besser zu sagen, nicht der Islam gehört zu Deutschland, sondern vier Millionen Muslime. Der Islam ist eine Weltreligion. Seine bevölkerungsstärksten Länder sind Indonesien und Malaysia. Eine Reform des Islams zu fordern, oder aber eine ‚Europäisierung‘ zu verlangen, ist unrealistisch. Dass Muslime, die in Deutschland leben wollen, unsere Verfassung anerkennen müssen, ist unabdingbar. Es müssen Wege gefunden werden, dies auch zum Ausdruck zu bringen, ohne gleich die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Wollen wir eine Absonderung von Ausländergruppen  ̶  nicht nur von Muslimen  ̶  vermeiden, muss auch eine Werbung für die deutsche Sprache erfolgen. Es muss attraktiv sein, Deutsch zu lernen.


Nachtrag am 17.1.2015:

Der Kommentator der letzten Nacht aus den USA hat mich drauf gebracht, was ich mit meinem Beitrag eigentlich sagen wollte. Das Redaktionsteam von 'Charlie Hebdo' mag in der Tradition der 68er gestanden haben, ich selbst tue es nicht. Einerseits war ich damals bereits mehr als 30 Jahre alt, andererseits hatte ich keinen Grund meinen Eltern und Lehrern zu misstrauen. Ich bin mir sicher, ich bin nicht der Einzige unter meinen Zeitgenossen, der so denkt.

Montag, 12. Januar 2015

Erich Neuhold über Informatikforschung in Deutschland, Österreich und den USA

Erich Neuhold (Jahrgang 1940) ist emeritierter Informatikprofessor der Technischen Universität Darmstadt und Honorarprofessor der Universität Wien. Von 1986 bis 2005 war er Leiter des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI) in Darmstadt. Von 1972 bis 1983 war er Professor an der Universität Stuttgart und von 1984 bis 1986 an der Technischen Universität Wien. Er war in Forschung und Management-Positionen bei IBM in Europa und den USA tätig. Er war 1983-1984 Direktor eines der Hewlett Packard (HP) Research Labs in Palo Alto und er ist seit vielen Jahren Berater der NSF in den USA, der DFG und der Europäischen Kommission. 

Seine Fachgebiete umfassen verteilte Datenbanken außerhalb und innerhalb des Internets (z.B. unstrukturierte, halbstrukturierte und strukturierte Daten), Informationsgewinnung und Retrieval, Web-Services und Geschäftsprozesse. Er und sein Team haben sich intensiv mit der Anwendung auf komplexe Systeme wie digitale Bibliotheken, Kulturerbe, E-Science, E-Commerce und E-Government befasst. Neuhold hat 10 Bücher und etwa 200 Fachartikel veröffentlicht. Er ist ein Fellow der IEEE und der Gesellschaft für Informatik (GI). Neuhold erhielt den Titel eines Dipl. Ing. in Elektrotechnik im Jahr 1963 und eines Dr. Techn. in Informatik im Jahr 1967, beide von der Technischen Universität Wien.  


 Bertal Dresen (BD): An Ihrer Berufslaufbahn fällt auf, dass Sie in drei Ländern, zwei Firmen und an drei Universitäten tätig waren. Ein solch breites Erfahrungsspektrum haben nicht viele Kollegen aufzuweisen. Fangen wir in Wien an. Wie muss man sich das Wiener Labor der IBM zwischen 1970 und 1980 vorstellen? Wer trieb an, wer riss mit? Welche Wirkungen halten Sie für am bedeutendsten in Bezug auf die industrielle Anwendung oder die Wissenschaft, für IBM oder außerhalb?  

Erich Neuhold (EN): Während meiner Zeit am IBM Labor Wien war Heinz Zemanek der Leiter und die treibende Kraft. Er hat das Labor aufgebaut und ihm seine wissenschaftliche Ausrichtung gegeben. Auf dem Gebiet formaler semantischer Beschreibungen hat das Labor mit den Sprachen VDL (Vienna Definition Language) und VDM (Vienna Development Method) und der formalen Beschreibung von Programmiersprachen weltweite Anerkennung erhalten.  

BD: Ich habe in diesem Blog meine Erinnerungen an Heinz Zemanek wiedergegeben. Sie betrafen vor allem seine Zeit in Böblingen und die Jahre danach. Wie haben Sie Zemanek erlebt? Worin sehen Sie Zemaneks hervorstechendste Leistung? 

EN: Wie bereits gesagt, war Heinz Zemanek für mich die Seele des Labors. Seine Ideen, seine wissenschaftlichen Ziele haben es letztlich ermöglicht, dass das Labor Weltruhm erlangen konnte. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die 'große' IBM darüber gar nicht so begeistert war. Zemanek hat immer wieder junge Wissenschaftler ans Labor geholt und ihnen eine ausgezeichnete Forschungsumgebung geboten. Für eine Reihe von ihnen, darunter auch mir, hat er damit den Weg in eine wissenschaftliche Karriere geebnet. Vor seiner IBM-Zeit hatten Zemanek und sein Team mit dem Mailüfterl den ersten volltransistorisierten Rechner Europas geschaffen. 

BD: Nach Ihrer (ersten) Wiener Zeit gingen Sie zu IBM Research in Yorktown Heights, NY. Sie arbeiteten dort intensiv mit George Radin zusammen. Das muss während des 801-Projekts gewesen sein? Wie erlebten Sie damals die IBM? Was möchten Sie zu George Radin über meine Würdigung hinausgehend sagen? Welche Erinnerungen haben Sie an Marc Ausländer, John Cocke, Marty Hopkins und andere Kollegen von Research? 

EN: Alle von Ihnen genannten Personen waren ausgezeichnete Wissenschaftler, die auch menschlich hohe Anerkennung verdienten. George Radin als der Manager hatte sicherlich einen wichtigen Anteil an dieser ausgezeichneten Arbeitsumgebung und der extrem hohen Motivation der Gruppe. Die große Zahl von IBM Fellows, die daraus hervor ging, legt natürlich auch ein Zeugnis dafür dar. John Cocke war der Senior der Gruppe und hat auch wesentliche Ideen, wie den Ansatz der RISC-Architektur geliefert, die dann mit der 801 das erste Mal weltweit [als Prototyp] realisiert wurde. Joel Birnbaum als IBM Research Direktor in Yorktown Heights hat durch seinen flexiblen Management-Stil diese Entwicklung sicherlich auch unterstützt. 

BD: Im Jahre 1972 nahmen Sie den Ruf an die Universität Stuttgart an. Was bewog Sie dazu einer deutschen Universität den Vorzug zu geben, etwa im Vergleich zu einer Karriere in der industriellen Forschung?  Haben sich Ihre Erwartungen erfüllt?  

EN: Ich habe zwischen Universitäten, der Industrie und der Großforschung mehrmals hin und her gewechselt und habe dies nie bereut. Die Welten sind sehr verschieden, aber jede hat ihre Reize und ihre Herausforderungen. Universität und Großforschung erlauben eine enge wissenschaftliche Zusammenarbeit mit jungen Menschen und erlaubt es, diese zum Erfolg zu führen. Die Industrie wie auch manche Teile der Großforschung sind auf Projekte mit Marktfähigkeit ausgerichtet, je nach Situation mit mehr oder weniger Einfluss von Produktion, Marketing und Vertrieb. Das war ein ganz anderer interessanter Anreiz für mich.  

BD: Wie sehen Sie Ihre Zeit in Stuttgart in der Retroperspektive? Ich erinnere mich an Ihre Vorlesung über formale Semantik. Ich sah darin eine Weiterentwicklung Ihrer Wiener Arbeiten. Setzten wir damals zu viel Hoffnung auf formale Verifikationsmethoden? Ist Tony Hoare ein einsamer Kämpfer geblieben? Ist das Thema ‚Semantisches Web‘ die zukunftsweisende Anwendung formaler Methoden, auf die wir hoffen können? 

EN: Formale Beschreibungsverfahren und formale Beweise waren mein eigentlicher Startpunkt in die Computer-Wissenschaften, aber eigentlich habe ich damals nie über die möglichen industriellen Anwendungen nachgedacht. Teilaspekte dieser Methoden haben sich später als sehr nützlich erwiesen, wie auch die Karrieren weltweit bekannter Forscher zeigen. Aber wirklich komplexe Systeme konnten mit solchen Methoden weder beschrieben noch verifiziert werden. Im Internet und mit dem Semantischen Web ist dies auch nicht gelungen.                                                                                                          

BD: Was Ihr Arbeitsgebiet bei HP war, ist mir entfallen. Ich weiß nur, dass Joel Birnbaum, der früher bei IBM war, dort die Idee der RISC-Architekturen populär machte. Welche Spuren haben Sie bei HP hinterlassen? 

EN: Bei HP war ich Direktor eines Forschungslabors in Palo Alto, das sich mit Betriebssystemen, Datenbanksystemen und Kommunikationssoftware beschäftigt hat. Ich war zu der Zeit bei den HP-Labs unter der Führung von Joel Birnbaum (der von IBM hierher kam), als die HP RISC-Architektur realisiert wurde. Mein Labor war an der für diese neuen Systeme benötigten Software konzeptuell beteiligt und hat auch die Datenbankstrategie von HP wesentlich mit beeinflusst. 

BD: Ihre längste Zeit – fast 20 Jahre – waren Sie in Darmstadt. Sie leiteten dort das Institut für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI), zuerst als Institut der GMD, später unter dem Dach der Fraunhofer-Gesellschaft. Ich fand viele Projekte des IPSI äußerst interessant und erinnere mich noch an sehr eindrucksvolle Demos. Wie sehen Sie heute die Wirkung des IPSI auf Wissenschaft und Wirtschaft? 

EN: Beim IPSI der GMD war die Orientierung auf (eventuell-) anwendungsorientierte Forschung ausgerichtet, während die Fraunhofer-Gesellschaft sich mehr der Auftragsforschung widmet. Da in Deutschland wenig primäre IT-Firmen existieren, z.B. SAP, Software AG, sind diese Aufträge sehr häufig mehr Consulting und Experimente als Forschung. Forschungsförderung, wie vom BMBF oder der EU sind in der Fraunhofer-Gesellschaft nicht besonders hoch geschätzt. Im wissenschaftlichen Bereich hatte das IPSI Weltrang erreicht und wurde international immer wieder erwähnt. Wir hatten auch bereits während der GMD-Zeit eine Reihe erfolgreicher Firmengründungen durchgeführt. 

BD: Das Gebiet der Publikationsdienste ist im Web bekanntlich enorm gewachsen. Im Jahre 1998 schrieben Sie in der Festschrift [1] anlässlich des 10-jährigen Bestehens von IPSI: ‚Ten years from now, we all should be able to design our individualized digital professional and personal lives, find our own effective way to select, interpret and produce data, information and knowledge.‘ Wieweit ist das eine Hoffnung geblieben oder haben wir uns dieser Vision angenähert? Oder sind Sie der Meinung von Jaron Lanier, dass das Internet sein Potenzial nicht erreichte, da es mit PDF-Dateien regelrecht vollgestopft, ja abgewürgt wurde. Zudem ließen sich die Nutzer von ‚Sirenen-Servern‘ betören. Haben nicht Firmen wie Google und Facebook alles, was überhaupt sinnvoll ist, längst ausprobiert? 

EN: Wie jeder weiß, hat sich meine Prognose weitgehend erfüllt. Das Internet, mit Fest- und Mobilnetz ist aus dem heutigen Leben, auch in Entwicklungsländern, nicht mehr wegzudenken. E-Commerce, E-Government, Enter- und Infotainment sind wesentliche Teile unseres täglichen Handelns geworden. Was ich allerdings nicht vorhergesehen habe, ist der Umfang der Spionage, die in das persönliche Leben und das der Firmen ständig eindringt und immer tiefere Analysen ohne echte Beachtung existierender Gesetze und sogar Verfassungen erlaubt. Ob dies Firmen wie Google, Facebook, Apple  ̶  als die am weitesten bekannten Beispiele  ̶  oder Regierungsstellen sind wie NSA, BND oder Mossad  ̶   um nur einige zu nennen  ̶  alle verhalten sich gleich und begründen es mit kommerziellem Interesse, Wissensdrang oder Sicherheit. Leider sind aus der Geschichte diese Entwicklungen bekannt, die immer am Ende zur Überwachung, der Einschränkung der Meinungsfreiheit und damit zu polizeistaatlichem Verhalten führten. Metternich, Stalin, Hitler und Ulbricht hätten es heute viel leichter.   

BD: Im Jahre 2001 ging das IPSI mit den übrigen Instituten der GMD zur Fraunhofer-Gesellschaft über. Im Jahresrückblick 2003 [2] hoben Sie hervor, dass die stärkere Betonung der Auftragsforschung für Sie und Ihre Mitarbeiter eine Herausforderung darstelle. Wie bewerten Sie heute die Umorientierung des Instituts? Kam es zu Ausgründungen oder zu marktgängigen Produkten oder Diensten? 

EN: Für die Umstellung in die Fraunhofer-Welt blieb mir nicht mehr genügend Zeit vor meinem Ruhestand im Jahre 2005. Aber wie auch andere GMD-Institute gezeigt haben, war und ist diese Umstellung nicht leicht. War die Auflösung der GMD überhaupt notwendig und vernünftig? Ich und viele internationale Persönlichkeiten glauben es nicht. War es Politik? 

BD: Sie sind alsbald zehn Jahre emeritiert. Wie hat sich das privat und fachlich ausgewirkt? Wie ich weiß, leben Ihre Frau und Sie sowohl in Wien wie im Schwabenland. Wenn ich nochmals an Zemanek erinnere, so gab es für ihn keinen Ort auf der Welt, der an Wien herankam. War er ein Sonderfall? 

EN: Wir haben in den USA (New York State und Kalifornien) wie auch in Hessen, dem Schwabenland und Wien (wo ich aufgewachsen bin) gelebt und uns überall sehr wohl gefühlt und viele Freunde gefunden, mit denen wir bis heute noch engen Kontakt halten. Mit unserem jetzigen Aufenthalt in Böblingen (und teilweise in Wien) haben wir in Deutschland wesentlich länger gelebt als in einem der andren Länder und es nie bereut. Das Schwabenland liegt uns natürlich, und nicht nur wegen drei unserer fünf Enkelkinder, besonders am Herzen. 

BD: Lieber Herr Neuhold, haben Sie vielen Dank für dieses Interview. Es erinnert an die vielen Stationen Ihres Berufsweges. Wenn es mir auch nicht gelang, Sie zu provokanten technischen Aussagen zu verleiten, dafür sind Sie umso deutlicher in Bezug auf gesellschaftliche Auswirkungen und Forschungspolitik. 

Zusätzliche Referenzen: 
 
  1. Frankhauser, P., Ockenfeld, M.: Integrated Publication and Information Systems. 10 Years of Research and Development. Darmstadt 1998
  2. Fraunhofer-Institut für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI): Leistungen und Ergebnisse. Jahresbericht 2003