Samstag, 27. Mai 2017

Trump auf Nahost- und Europa-Tour: Endlich mehr Klarheit in seiner Außenpolitik?

Nur wer erwartet hatte, dass er sein tägliches Twittern etwas reduzieren würde, für den hat Donald Trumps erste Auslandsreise die Hoffnungen erfüllt. Abgesehen davon war die Reise eine Art Offenbarung. Man kann auch Selbstdarstellung dazu sagen. Endlich gewann Trumps Außenpolitik deutlich an Konturen. Das war zwar für die meisten seiner Partner eher ein Grund für Enttäuschung als für Erleichterung. Dass er vorwiegend Ideen aufgriff, die er bereits im Wahlkampf äußerte, überraschte nur diejenigen Partner, die gehofft hatten, dass vier Monate im Amt ihn weichgekocht hätten. Im Weißen Haus spielte Trumps Außenpolitik bisher nur am Rande eine Rolle.

Saudis, Iran und die muslimische Welt

Barack Obama begründete seine Politik der islamischen Welt gegenüber 2009 mit einer Rede vor Studenten an der Universität in Kairo. Um den Kontrast auch optisch zu unterstreichen, sprach Trump vor muslimischen Machthabern im Palast zu Riad.  Während Obama an den Iran appellierte in Verhandlungen einzutreten, um den Streit über das Atomprogramm beizulegen, hatte Trump es damals schon als Fehler bezeichnet, mit Teheran einen Vertrag zu schließen. Da Obama dies dennoch tat, schlug Trump sich jetzt voll auf die Seite der sunnitischen Gegner des Iran und schloss mit ihnen ein Waffengeschäft ab. Den im Iran gerade wiedergewählten Präsidenten Rohani brachte er damit in eine schwierige Lage. Das gleiche gilt für alle Staaten, die auf verbesserte Geschäfte im Iran hofften. Einer davon ist Deutschland.

Israel und Palästinenser-Gebiet

Obama hatte zwar 2009 versprochen an einer Zweistaatenlösung für Israel und das Palästinenser-Gebiet zu arbeiten. Erreicht hatte er aber nichts. Sein Verhältnis zu Israel kühlte deutlich ab. In diesem Punkt machte Trump auf seiner Reise fast gleichlautende Versprechen. Er ließ jedoch vollkommen offen, was er konkret zu tun gedenkt.

EU und NATO

Beiden gegenüber hatte Trump im Wahlkampf deutliche Kritik geäußert. Was die EU betrifft, so blieb er dabei. Dem Brüsseler Duo (Juncker, Tusk) gegenüber benutzte er besonders drastische Worte. ‚The Germans are bad, really bad‘ soll er gesagt haben. Sie exportieren zu viel in die USA und importieren zu wenig. Angela Merkel hatte schon bei ihrem Besuch in Washington auf die von deutschen Autobauern geschaffenen Fabriken in den USA verwiesen. Das Argument scheint verpufft zu sein. Dabei betreffen die deutschen Handelsüberschüsse nicht allein die Autoindustrie. Eigentlich müsste er auf mehrere Branchen schimpfen. Auch gibt es außer Trump noch Leute, die in ein ähnliches Horn blasen, etwa Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds  (IWF), und Emmanuel Macron.

Den NATO-Ländern las er ordentlich die Leviten. Die Mehrzahl der Länder lasse sich von den USA verteidigen, ohne selbst einen angemessen Beitrag zu leisten. Das sei unfair den amerikanischen Steuerzahlern gegenüber. Genau so tönte er im Wahlkampf.

Andere Großmächte (G7)

Beim G7-Treffen in Taormina auf Sizilien, wo auch Japan und Kanada vertreten waren, sorgte er für regelrechte Frustration. Er war nicht bereit sich für das Pariser Klima-Abkommen zu erwärmen, noch für eine solidarische Flüchtlingspolitik, noch für freien Welthandel. Lediglich im Kampf gegen den Terrorismus will er weiter (führend) mitmachen. Auch äußerte er Mitgefühl für die Stadt Manchester. Dort hatte es eine Woche zuvor ein Attentat gegen die Teilnehmer eines Konzerts für Jugendliche gegeben.

Ausblick und G20

Normalerweise hat es Vorteile, wenn man die Position eines Partners kennt. Man muss dann weniger raten. Die Aufgabe aller Partner der USA ist es, sich auf diese Situation einzustellen. Natürlich kann man versuchen, Trump von seiner Position abzubringen. Es ist dann wichtig zu wissen, wer einem evtl. dabei hilft. Theresa May sicherlich nicht. Wie geschickt und verlässlich Emmanuel Macron ist, muss sich noch zeigen. Bekanntlich ist Trump offen für ‚Deals‘, also für Geschäfte.

Vom G20-Treffen im Juli in Hamburg sollte man in dieser Hinsicht eher wenig erwarten. Es ist das erste offizielle Zusammentreffen mit Wladimir Putin. Da wird Trump eine andere Agenda haben, als sich mit Merkel über Autoexporte zu unterhalten.

Beitrag von Hartmut Wedekind vom 26.5.2017

Das [was Trump predigt] ist übelster Merkantilismus. Stimmt das wirklich, was Trump Deutschland vorwirft? Eine „beggar-my-neighbor-policy“. Wenn nein, warum wird nicht argumentiert? Können die das etwa nicht auf höchster Stelle? Einen einfachen Grundkurs in Nationalökonomie hat doch jeder mal gehört - auch der Stab von Trump - und da kommt der Begriff „beggar-my-neighbor“ vor. Die USA ist das dominante Land der Ökonomie-Nobelpreisträger!! Ist das ein laufender Scherz des Nobelpreiskomitees, wenn die obersten Vertreter diese Landes so einen ökonomischen Käse erzählen?

Aber so einfach rumreden, das geht natürlich nicht. Das müsste auch der Staff von Donald Trump wissen? Und das müsste man denen entgegenhalten, nämlich, dass ihre Argumente mindesten 300 Jahre alt sind (Bartwickelmaschine), und dass das so einfach formuliert barocker Quatsch ist. Mein Gott, sind das in der Administration simple Gemüter auf
dem Niveau von Erstsemestern (Harvard?)

Nachtrag vom 29.5.2017

Der G7-Gipfel in Taormina bestach durch die Vielzahl herrlicher Bilder. Hier eine ganz kleine Auswahl. 






Nachtrag vom 2.6.2017

Im Rosengarten des Weißen Hauses verkündete Donald Trump gestern den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen. Die Belastungen der amerikanischen Wirtschaft stünden in keinem Verhältnis zu dem erwarteten Nutzen. Außerdem müssten die USA ‚billions and billions‘ an Länder überweisen, die den Amerikanern ihre Jobs klauen. Er sei schließlich von den Bürgern Pittsburghs gewählt und nicht von den Parisern.

Etwas pikant war die darauf erfolgte Erklärung des Bürgermeisters von Pittsburgh, dass seine Stadt das Klimaabkommen unterstütze und voll hinter dessen Vorgaben stünde. Mehrere Vertreter amerikanischer Firmen distanzierten sich von Trump, so Elon Musk, der Gründer der Autofirma Tesla. Auch Apple, Facebook, Ford, Dow Chemical und Exxon sprachen sich für das Pariser Abkommen aus. Das Kohleunternehmen Peabody Energy schloss sich Trump an. Bei der Verkündigung saß Trumps Ideengeber Steve Bannon strahlend in der ersten Reihe. Tochter Ivanka und Schwiegersohn Jared Kushner glänzten durch Abwesenheit.

NB: Einen Spezialbeitrag für Opernfreunde (Rossini) gibt es frei bei Youtube.

Montag, 15. Mai 2017

Wahl in NRW: Ist die Schulz-Blase bereits Vergangenheit?

Noch am Tag vor der Wahl glaubte Hannelore Kraft, dass ihre Position im Pott zwischen Rhein und Ruhr unangefochten sei. Dass die Grünen schwächelten, das hatte sich herumgesprochen. Umso überraschender war der Absturz der SPD. Hier die Zahlen:


Landtagswahl NRW am 14.5 2017

Grenzen der magnetischen Persönlichkeiten

Vom Schulz-Hype bleibt nur die Erinnerung. So schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen am Montag, dem 15.5.2017, dem Tag nach der Wahl. Nachdem sich weder im Saarland noch in Schleswig-Holstein die Schulz-Euphorie an den Wahlurnen bemerkbar machte, hatten alle auf Nordrhein-Westfalen gehofft. Jetzt ist das Jammern groß. War die saarländische CDU-Amtsinhaberin Annegret Kramp-Karrenbauer ein fleißiges Bienchen und der Kieler Torsten Albig ein Dussel (wegen seiner delikaten Angaben über das Verhältnis zu seiner Frau), so war an Hannelore Kraft eigentlich nichts auszusetzen. Die Hoffnung trog, dass allein die Persönlichkeiten zählen, die politischen Leistungen keine Bedeutung haben. Auch Prantl kam zu dieser Einsicht:

Einerseits sind die Deutschen politisch unzufrieden. Sie sehnen sich nach Belebung, sei es durch eine Person oder eine Partei; der wieder abgeebbte Schulz-Hype hat das wunderbar gezeigt. Andererseits gibt es den Wunsch nach Stabilität und Verlässlichkeit, nach einer Regierung, an die man sich in Zeiten globaler Turbulenzen halten kann. … NRW erlaubt einen Blick in die deutsche Zukunft.

Mir erging es nicht besser als den professionellen Beobachtern. Auch ich darf dazu lernen. Vor etwa vier Wochen schrieb ich in diesem Blog 

Die Wahl im Mai in NRW wird eher zur Testwahl für die Bundestagswahl im Herbst werden. Wegen der guten Ausgangssituation der SPD ist mit einer Bestätigung ihrer Erfolge zu rechnen.

Einige der Leute, die gestern etwas sagen mussten, gestanden ein, dass sie neu denken müssten. Es kann etwas knapp werden bis zum September.

Unterschätztes politisches Gespür der Wähler

Das aktuell aufgezwungene Thema Flüchtlingspolitik ist zwar nicht ganz weg, nur dominiert es nicht mehr in der Diskussion. Es trägt zum Grundstock bei für die AfD. Der Versuch, anstatt der Flüchtlingsproblematik, das uralte Thema der sozialen Gerechtigkeit neu aufzuwärmen, ist leicht als Ablenkungsversuch zu durchschauen. Wer sich dann noch an Gerhard Schröder zu reiben versucht, gibt ungewollt den Linken Recht.

Schulen und innere Sicherheit, Verkehr und Wirtschaft sind die innenpolitischen Themen, die immer interessieren. Es ist kein Wunder, dass der Wähler der CDU hier mehr Kompetenz zutraut als der SPD und den Grünen. Die Art, wie die Piraten mit dem Thema Internet und Digitalisierung umgehen wollten, konnte eh niemand ernst nehmen. Vier Jahre reichten, bis dass alle dies einsahen.

Dass die SPD als Partei trostbedürftig, ja trostsüchtig ist, sagt nichts aus über den Rest des Wahlvolks. Wenn die SPD, die sonst eher uneinig ist, plötzlich zu 100% hinter ihrem Kandidaten steht, beweist dies nur, dass der Kandidat alternativlos ist. Arme SPD!

Ob mit Absicht oder nicht, Angela Merkel erinnerte in den letzten Monaten daran, dass es immer auch einen Bedarf für Außenpolitik gibt. Nur in ruhigen Zeiten darf Innenpolitik Vorrang haben. Wer Nachrichten hört, und sich nicht auf den Lokalteil der Zeitung beschränkt, weiß, dass die Herren Erdogan, Putin und Trump existieren. Man fragt sich, wer eigentlich am besten mit ihnen umgehen kann. Bei Merkel weiß man, dass sie von ihnen ernst genommen wird. Was Schulz besser machen würde, ist noch nicht zu erkennen. Außerdem gibt es Theresa May und Emmanuel Macron. Es sind zwar beide Partner in der EU, bzw. demnächst außerhalb der EU. Wie mit ihnen eine Kooperation zustande gebracht werden kann, darüber wird hoffentlich von unsern Politikern nachgedacht. Sie müssen sich dazu nicht äußern.

Nachtrag am 18.5.2017

Im Januar 2012 bezeichnete ich Peer Steinbrück als Merkels besten Wahlhelfer. Er hatte sich gerade einige Patzer erlaubt, die ihn schon neun Monate vor der Wahl zum Nicht-Kandidaten werden ließen. Einige Beobachter sehen bei Martin Schulz das Rennen auch sehr frühzeitig als gelaufen an, obwohl seine Ausgangssituation eine ganz andere ist. Am Montag nach der NRW-Wahl ließ Schulz das ‚vorläufige‘ Wahlprogramm aus dem Schrank holen. Parteivize Thomas Oppermann durfte es mündlich vortragen. Aus der Vielzahl leicht verunsicherter Reaktionen hier die von ZEIT Online:

Verstolpert! Lange erwartet, haben die Sozialdemokraten ihren ersten Programmentwurf nun nebenbei und still veröffentlicht. Das passt in die Reihe vieler kleiner Wahlkampffehler.

Wenn ich Schulz wäre, hätte ich während des Wahlkampfes in NRW nicht das 69-seitige Wahlprogramm in der Schublade versenken lassen, damit Hannelore Kraft mit einem inhaltslosen Weiter-So-Gerede als angeblich geliebte Landesmutter argumentieren darf. Ich hätte junge, hoffnungsvolle Nachwuchskräfte gebeten, dem Kampf um den Sieg bei der Bundestagswahl Priorität zu geben gegenüber einem Amt in der GroKo. Anstatt die Ideen von Andrea Nahles und Manuela Schwesig, mit denen sie in der GroKo schon so enorm erfolgreich waren, in ein Papierchen zu verstecken, hätte ich die Urheberinnen gebeten, sie in der Öffentlichkeit argumentativ zu vertreten. Ihre Ämter in der GroKo könnten andere verdiente SPD-Frauen ausfüllen und genießen. Arbeit und Soziales (Ressort Nahles), Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Ressort Schwesig) sind zwar für die SPD zentral, sie stellen aber längst nicht alles dar, um das ein zukünftiger Kanzler sich kümmern sollte. Ohne gleich die Außenpolitik zu bemühen, sei an innere Sicherheit, Verkehr und Finanzen erinnert. Wenn diese Fachgebiete augenblicklich von der Union besetzt sind, wäre es doch gut hier Kompetenz zu zeigen oder zumindest welche aufzubauen. Das passiert nicht, indem man allen Diskussionen ausweicht.

SPD-Parteisekretärin Katarina Barley kündigte an, dass das Wahlproramm in den nächsten Wochen mit den Gremien der Partei ausführlich diskutiert und dann verabschiedet würde. Toll!, kann ich da nur sagen. Vielleicht kommt es anschließend bei einigen Menschen schön gebunden auf den Weihnachtstisch. Gewählt wird allerdings bereits in vier Monaten. 

Da der FDP nach ihrem grandiosen Sieg in NRW der Hochmut in den Kopf zu steigen scheint, dürfte sie für eine Koalition kaum in Frage kommen, weder in Düsseldorf noch in Berlin. Obwohl GroKos sich für Juniorpartner als sehr gefährlich erwiesen, und das Volk sie auch nur vorübergehend haben möchte, steuern wir mit Volldampf in Richtung GroKo. Im Kabinett von Angela Merkel dürfte Martin Schulz dann das lernen, was ihm fehlt. Das heißt, er hätte danach eine zweite Chance, sofern er lernfähig und lernwillig ist.

Anders als die Amerikaner sind Deutsche und Franzosen nicht bereit, große Schwächen eines Kandidaten zu übersehen, wenn sie ihn für ein hohes politisches Amt auswählen. Der Narzissmus und der Infantilismus, die beide Donald Trump nachgesagt werden, lassen europäische Wähler aufhorchen. Wem immer wir unser Land anvertrauen, der muss auch überzeugend nachweisen, dass er komplexe Prozesse steuern kann. Auch Wahlkampf zu führen bedeutet einen Prozess zu steuern.

Donnerstag, 11. Mai 2017

Visionen und Utopien, Chancen und Risiken der Digitalisierung – vom Jahre 2000 aus gesehen

Dieser Tage blätterte ich in dem Buch [1], das zum Abschluss eines frühen Digitalisierungsprojekts verfasst wurde. Das Projekt hieß MeDoc, lief von 1994-1997 und hatte 30 deutsche Hochschulgruppen und 20 Verlage zusammengebracht, um der Digitalisierung auf die Sprünge zu helfen. Ich zitiere im Folgenden aus dem letzten Kapitel, das die Überschrift ‚Zukunft der Wissensversorgung‘ trägt. Die wiedergegebenen Texte in den ausgewählten Unterkapiteln habe ich nicht an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Auch habe ich für die dort zitierte Literatur hier keine Detailreferenzen angegeben.

Realistische technische Visionen

„We can even imagine building the ultimate personal assistant consisting of ‘on-body’ computers that can record, index, and retrieve everything we’ve read, heard and seen” G. Bell and J.N. Grey (1997)

Wer Visionen hat, der gehe zum Arzt oder zum Psychiater, so heißt es spöttisch. Gemeint sind dann optische Halluzinationen. Das Wort hat aber auch noch eine zweite Bedeutung. Als Visionen in diesem zweiten Sinne bezeichnen wir alle die Vorstellungen, die jemand von zukünftigen Dingen hat. Wichtig sind dabei besonders die Dinge, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf uns zukommen werden und die einen großen Einfluß haben können. An sie sollten wir uns heranwagen und mit ihnen beschäftigen. Bei Visionen wollen wir uns zunächst auf technische Entwicklungen beschränken, die heute schon erkennbar sind. Sie entsprechen meist dem generellen technischen Trend, die Dinge kleiner und schneller zu machen. Es gibt dafür meist heute schon Prototypen. In fünf bis zehn Jahren wird ihr Einfluß im Markt bemerkbar sein. Die folgenden Entwicklungen halten wir für realistisch:  
  • Tragbare Terabyte-Speicher: Wir werden auf kleinstem Raum immer mehr Information speichern können. Wir werden tragbare Geräte haben mit einer Speicherkapazität im Terabyte-Bereich. Solche Speicher können alle Bücher einer Handbibliothek aufnehmen, sowie alle Lieblings-Musikstücke und Filme. Wir können das Gerät auf Reisen mitnehmen.
  • Ein Terabyte-ROM unter einem €: Große Speicher werden so billig sein, daß wir den Datenträger ähnlich wie heute eine CD-ROM verschenken können. Dieses Medium wird, auf den gespeicherten Inhalt bezogen, erheblich billiger sein als Papier. Nur wenn etwas besonders feierlich oder förmlich sein soll, wird es auf Papier dargestellt.
  • Übertragungsnetze im Bereich mehrerer Gigabit/s: Die heute im Versuchsstadium befindlichen Gigabit-Netze (wie das G-WIN des DFN-Vereins mit 2,5 Gbits/s) werden weit verbreitet sein. Wir können damit einen Terabyte-Speicher öfters neuladen. Unter Umständen kann dies sogar über Mobilfunk erfolgen, ist aber nicht entscheidend. Ein ›Netzstecker‹ an der Wand, der so häufig zufinden ist wie ein Stromstecker, ist meistens ausreichend. Der ›Netzstecker‹ kann sogar mit dem Stromstecker identisch sein, wenn das Stromnetz auch für die Datenübertragung verwandt wird.
  • Rechenleistung im GFLOPs-Bereich: Eine Rechnerleistung im Bereich von einer Milliarde Gleitkomma-Operationen pro Sekunde (Giga Floating-Point Operations per Second, Gflops) wird für Anwendungen auch im Bibliotheksbereich verfügbar sein. Damit können Verfahren des Suchens, der Komprimierung, der Verschlüsselung, der Visualisierung und der Analyse benutzt werden, die heute an der erforderlichen Rechnergeschwindigkeit scheitern.
  • Eingenähte Rechner: Rechner sind nicht mehr immer als technisches Gerät zu erkennen oder getrennt bereitzustellen. Sie sind so klein, daß sie in Kleidungsstücke oder Tragetaschen eingenäht werden können. Sie können auch eingeschweißt sein in Möbel, Gartengeräte, Lebensmittelverpackungen und dgl. Wir können sie daher in Situationen verwenden, an die heute noch nicht zu denken ist. Wir werden uns sogar daran gewöhnen, in Konsumgüter eingebettete Rechner wegzuwerfen, so wie wir heute verbrauchte Chip-Karten wegwerfen. 
  • 4B-Lesegeräte: Die Schwächen heutiger Bildschirme werden weitgehend ausgemerzt sein. Immer flachere Bildschirme werden das Lesen an jedem Ort ermöglichen, auch im Bad, im Bett, im Bus und am Strand (engl.: bath, bus, bed, beach). Manche wird es freuen, daß sie zum Lesen im Bett kein zusätzliches Licht mehr brauchen, da die Anzeige entsprechend eingestellt werden kann. Die Geräte können die Form einer Brille haben, so daß die Darstellungsfläche bei den Bewegungen des Kopfes mitgeht. Diese Lesegeräte werden im Wettbewerb stehen mit PCs (Laptops oder Palmtops) und Mobiltelefonen, von denen aus man auch surfen und Post versenden kann, sowie mit immer leichter werdenden tragbaren Fernseh-Monitoren. 
  • Elektronisches Papier: Es gibt im Versuchsstadium (am MIT und bei Xerox) mehrere Varianten von sogenanntem elektronischen Papier. In allen Fällen wird eine Fläche elektronisch verändert, die fürj eden Bildpunkt mit winzigen Farbkugeln bestückt ist. Diese werden wie bei einem LCD-Bildschirm von Elektroden angesteuert und entsprechend dem zu erzeugenden Bild so gedreht, daß entweder ihre dunkle oder die helle Hälfte nach oben zeigt. Als Trägermaterial kann Papier oder Kunststoff dienen. 
  • Einheitliches Informationsgerät im Haushalt: Im Privatbereich wird es zu einem Zusammenwachsen von Fernsehgeräten, PCs und Spielekonsolen kommen. Zunächst wird der Fernseher PC-Funktionen bekommen, danach die Spielekonsolen Fernseh-Funktionen. Ob einer der Gerätetypen verschwindet ist sekundär.
  • Individualisierte Auswahl und Benachrichtigung: Vermehrte Software-Funktionen in allen erwähnten Gerätetypen werden es ermöglichen, besser als heute zu sagen, was man wann und wie empfangen will. Dazu gehören auch einfache Methoden und Notationen zur Spezifikation von Informationswünschen.
  • Verläßliche Übertragung und Abrechnung: Es wird Hardware- und Software-Lösungen geben, die alle Sicherheitsanforderungen des Nutzers und des Anbieters zufriedenstellend erfüllen. Es steht einer elektronischen Abrechnung von Informationsprodukten nichts mehr im Wege.
  • Akzeptierte elektronische Zahlungsmittel: Aus der Vielzahl der elektronischen Zahlungssysteme, die heute in der Einführungsphase sind, werden sich zwei oder drei Systeme so weit entwickelt haben, daß man sich auch im privaten Bereich auf sie verlassen kann. 
  • Mengenunabhängige Übertragungstarife: Die Zunahme der übertragenen Datenmengen macht Tarife unattraktiv, die von der Zeit der Nutzung oder der Menge der übertragenen Daten abhängig sind. Ein Festpreis für eine bestimmte Bandbreite pro Monat ist üblich. Dies erlaubt dann auch im privaten Bereich eine dauernde Online-Verbindung (auch Evernet genannt).

Alle diese Beispiel stellen keine revolutionären Durchbrüche dar, sondern sind Extrapolationen eines bereits vorhandenen Trends. Nur das letzte Beispiel ist nicht auf bereits erkennbare technische Entwicklungen zurückzuführen, kann aber trotzdem eine enorme Auswirkung auf das Marktgeschehen haben. Genau diese Situation verschaffte in den USA, wo Ortsgespräche kostenlos sind, der privaten Nutzung des Internets einen großen Auftrieb. Es gibt auch Warner, die argumentieren, daß mengenunabhängige Tarife (engl.: flat rates) nur eines produzieren, nämlich Stau. Es kommt nicht derjenige Teilnehmer in den Genuß des Dienstes, der ihn am nötigsten hat (wie immer das definiert ist), sondern der mit der größten Geduld.

Das am Kapitelanfang wiedergegebene Zitat von Bell und Gray [BG97] deutet die Möglichkeit an, daß wir technisch bald in der Lage sein werden, alle Daten, mit denen wir innerhalb eines menschlichen Lebens in Berührung gekommen sind, auch zu speichern und maschinell auszuwerten. Wenn davon gesprochen wird, daß im Internet heute bereits etwa hundert mal soviel Information zur Verfügung steht wie in allen konventionellen Bibliotheken der Welt zusammen, so kann sich dieses Verhältnis in weiteren zehn Jahren auf 1000:1 verändern. Möglich ist auch, daß langfristig digitale Informationen etwas an Bedeutung gegenüber analogen Informationen verlieren, wenn Sensoren und Aktoren so klein sind, daß sie überall eingesetzt werden können. Als Quelle von Daten kann man sich die Umwelt, den Haushalt, ja den ganzen menschlichen Körper vorstellen. Basierend auf dieser Überlegung kommt Saffo [Saf97] zu dem Schluß, daß in Zukunft analoge Daten eine ganz neue Rolle spielen werden. Die Geschichte der Technik ist dadurch bestimmt, daß immer wieder nicht-vorhersagbare, also überraschende Entwicklungen stattfanden. Diese sind natürlich in der obigen Auflistung nicht enthalten. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, daß es diese nicht mehr geben wird.



Abb 18.1: Von Informatik betroffene Nutzerzahlen nach Moschalla


Was die erwähnten technischen Entwicklungen vor allem verändern werden, ist die Tiefe der Durchdringung unseres Alltags und unseres Berufslebens mit Informatik-Lösungen. Ebenso kann man nach der Breite der Durchdringung fragen. Bei dieser Sichtweise wird betont, von welcher Stufe der Entwicklung wieviele Nutzer betroffen sind. Eine solche Betrachtung gibt Abb. 18.1, die auf Moschalla zurückgeht und von Seitz [Sei98] zitiert wird. Das Bild zeigt die Entwicklung der Informationstechnik in vier Wellenbewegungen mit immer steigender Anzahl der betroffenen Nutzer. Für Leser dieses Buches dürfte es keine Überraschung sein, daß es die Phase der Inhalte ist, die bevorsteht und die den größten Einfluß haben wird. Natürlich sind Wissensprodukte der kleinste Teil dieser Inhalte; die Unterhaltung (für die vergrößerte Freizeit) und die Werbung (für alles, was Privatleute oder die Wirtschaft brauchen können oder auch nicht) werden dominieren. Wir hoffen allerdings, daß Wissensprodukte nicht die Chance versäumen, sich einen Anteil zu sichern.

Wunschträume und Utopien

Im Gegensatz zu Visionen stehen Wunschträume und Utopien. Wunschträume hat jeder Mensch. Es sind die Dinge, die man gerne haben möchte, obwohl man weiß, daß man zuviel verlangt. Utopien sind etwas ernster zu nehmen. Sie basieren meistens auf starken Überzeugungen. Sie überzeichnen oft einen Aspekt, um auf die Gefahr einer bestimmten Entwicklung hinzuweisen. Sie dienen manchmal aber auch dazu, um Ängste zu erwecken oder Partner unter Druck zu setzen. Wenn sie gar benutzt werden, um damit Politik zu betreiben oder Polemik zu machen, ist es ratsam zu warnen. Welches der folgenden Szenarien als Wunschtraum oder als Utopie einzustufen ist, sei dem Leser überlassen. Wir wollen hier darauf hinweisen, warum es sehr unwahrscheinlich ist, daß diese Entwicklung eintritt.

  • Information zum Nulltarif: Durch die neuen Medien wird die Verteilung von Information billiger als bisher. Das heißt aber nicht, daß sie gar nichts kostet. Die Kosten der Erzeugung, Aufbereitung und Qualitätssicherung verändern sich nicht. Bei einigen neuartigen Informationstypen (z.B. Multimedia) werden sie sogar steigen. Auch das Speichern und Vorhalten verursacht Kosten, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Schließlich erwarten die meisten Autoren eine angemessene Vergütung.
  • Autoren als Verleger: Jeder Autor hat die Möglichkeit, sein Erzeugnis selbst ins Netz zu stellen und abrufen zu lassen. Ein Autor mag dies tun, wenn er so bekannt ist, daß die Qualität seiner Werke von vornherein außer Zweifel steht. Daß er dann auf eine wirtschaftliche Verwertung vollkommen verzichtet, ist eher selten. Genauso selten dürfte das Interesse sein, das Inkasso selbst vorzunehmen. Entscheidend ist jedoch, daß Publikationen nicht nur für Autoren sondern auch für Leser da sind. Als Leser kann man gegenüber einem unbekannten Autor, der selbst publiziert,nicht skeptisch genug sein.
  • Selbstorganisation der Wissenschaft: Wissenschaftler treten sowohl als Autoren wie als Nutzer auf. Genauso wenig, wie sie als Autoren alle Aufgaben eines Verlegers übernehmen werden, ist damit zu rechnen, daß sie bezüglich der Nutzung neuer Medien auf die Dauer als Selbstversorger auftreten werden. Etwas ganz anderes ist es, daß gewisse Aufgaben vom Dienstleister zum Endverbraucher hin verschoben werden, wie etwa das Wählen eines Teilnehmers beim Telefonieren. Der Dienstleister (in dem Beispiel die Telefongesellschaft) kümmert sich besser um höherwertige Aufgaben. Sollte die Wissenschaft glauben, daß gerade sie ohne Dienstleister auskommt, tut sie sich bestimmt keinen Gefallen.
  • Retro-Digitalisierung aller Werke: Es gibt Autoren, die das Prinzip der digitalen Bibliothek dadurch ad absurdum führen wollen, daß sie vorrechnen, was es kosten würde, alle jemals geschriebenen oder gedruckten Werke zu digitalisieren [Zim97]. Aus Sicht der Natur- und Ingenieurwissenschaften ist es das Ziel digitaler Bibliotheken, die Verteilung neuer Veröffentlichungen besser als bisher zu regeln. Die Retro-Digitalisierung ist ein untergeordneter Aspekt. Wenn aus bibliothekarischer Vorsicht selektiv einige vorhandene Dokumente digitalisiert werden, dient dies der verbesserten Zugänglichkeit dieser Dokumente und dem Schutz gegen unsachgemäße Behandlung, Verlust und Diebstahl. 
  • Universelle Weltbibliothek: Es ist im Prinzip denkbar, daß alle digitalen Bibliotheken der Welt einen Verbund bilden, in dem alle Bestände zugänglich sind. Heute gibt es bereits mehrere regionale Verbünde, deren Kataloge miteinander verknüpft wurden. Daraus kann sich eine Tendenz ergeben, auch bei Neuanschaffungen eine stärkere Abstimmung vorzunehmen, um dadurch unsinnige Kosten zu vermeiden. Das Ziel, alle Bibliotheken der Welt auf diese Art zur Zusammenarbeit zu bringen, ist weder vordringlich noch leicht erreichbar. 
  • Perfekte Personalisierung: Manche Leute hoffen, daß es intelligente Programme geben wird, die allein durch die Beobachtung unseres Verhaltens genug lernen können, um uns bei der Wissensversorgung effektiv zu unterstützen. Oft knüpfen sich solche Vorstellungen an den Begriff der mobilen Agenten. Gemeint sind damit Programme, die aufgrund eines recht vagen Auftrags im Internet eine (mehr als nur triviale) semantische Suche betreiben oder andere Aufgaben lösen sollen. Es ist sehr zu bezweifeln, daß diese Anwendung außer in ganz speziellen Beispielen große Erfolge aufweisen wird. Erfolge sind nämlich nur da zu erwarten, wo das benötigte Weltwissen sehr klar beschränkt ist. Den ›gesunden Menschenverstand‹, also Allgemeinwissen, nachzubilden ist bisher noch nicht gelungen und wird auch noch einige Zeit in Anspruch nehmen. 

Man könnte auch diese Liste noch fortsetzen. Sie enthält alle diejenigen Beispiele, mit denen Bibliothekare oft konfrontiert werden. Daß wir diese Beispiele als Wunschträume oder Utopien ansehen, hängt damit zusammen, daß wir entweder die technischen oder die wirtschaftlichen Voraussetzungen etwas anders einschätzen.

Auf dem Weg zur Wissenswirtschaft

Nachdem das Feld der zu erwartenden technischen Lösungen etwas eingegrenzt wurde, wollen wir uns jetzt einige Gedanken zum Anwendungsgebiet selbst machen. Zu diesem Zweck werden einige Szenarien abgeleitet, die wir für wahrscheinlich halten. Sie betreffen Wissen und Wissensversorgung an sich. Daß wir zuerst über die mögliche technische Entwicklung und dann über deren Auswirkungen auf ein Anwendungsgebiet sprechen, mag manchem Leser etwas willkürlich erscheinen, ist es auch. Die meisten Trends, über die hier berichtet wird, sind nämlich unabhängig von den technischen Lösungen, die dafür zur Verfügung stehen. Die Situation, die am wahrscheinlichsten eintrifft, ergibt sich aus dem Zusammentreffen der beiden Entwicklungen. Wir möchten unsere Vorstellungen von der Zukunft der Wissensversorgung durch folgende Szenarien umreißen:

  • Die Menge des Wissens der Menschheit wird weiter steigen, vermutlich sogar geometrisch. Besonders betroffen davon sind Medizin, Biologie, Natur- und Ingenieurwissenschaften. Es ist sinnlos zu versuchen, dies zu verhindern oder zu leugnen. Einzelne werden es trotzdem tun.
  • Die Bedeutung des Wissens für das Leben in der Gesellschaft und das Funktionieren der Wirtschaft wird zunehmen. Auch Firmen müssen sich verstärkt um Wissens-Management kümmern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wissen wird als Motor der Wirtschaft und als Regulativ der Gesellschaft stärker als bisher anerkannt.
  • Der Einzelne hat als Teilnehmer am Wirtschaftsprozeß nur eine gute Chance, wenn er sich sein Leben lang um die Weiterentwicklung seines persönlichen Wissens bemüht. Da die lebenslange Beschäftigung durch dieselbe Firma immer weniger die Regel ist, muß sich der Einzelne in stärkerem Maße als bisher selbst um seine Weiterbildung bemühen. Er kann sich in dieser Hinsicht nicht auf den Arbeitgeber verlassen.
  • Das Angebot an Wissensprodukten wird wesentlich umfangreicher und differenzierter sein als heute. Die aktuellsten und finanziell günstigsten Angebote werden online, also über Kommunikationsnetze, bereitgestellt und genutzt. Zusätzlich wird es ein vergrößertes Angebot auf Papier oder in Frontalkursen geben. Wie in der übrigen Wirtschaft werden Markennamen den Konsumenten helfen sich zu orientieren.
  • Viele der gewohnten Schranken und Strukturen der Wissensversorgung werden entfallen. Prozesse, die dadurch de facto vorbestimmt waren, müssen jetzt explizit gesteuert und gelenkt werden. Wir müssen selbst entscheiden, was wir auf Papier oder am Bildschirm lesen wollen, was wir hören statt sehen oder mieten statt kaufen wollen. Wir müssen mehr darüber nachdenken, warum wir etwas wissen oder gar in Dokumentform besitzen wollen. Wie müssen lernen zu selektieren.
  • Das Suchen nach relevantem Wissen wird immer schwieriger und muß von immer mehr Leuten beherrscht werden. Diese Fähigkeit ist eine wichtige Kulturtechnik und muß in der Jugend gelernt werden. Andererseits geht das Beschaffen von gefundenem Wissen schneller. Auch sind die Kosten insgesamt geringer. Es entsteht ein entsprechend großer Bedarf für Hilfen und Dienstleistungen.
  • Die Globalisierung des Wissensmarkts, vor allem in Medizin, Biologie, Natur- und Ingenieurwissenschaften nimmt weiter zu. Trotz des Einflusses der europäischen und anderer übernationaler Organisationen wird in den Gesellschaftswissenschaften (Jura, Volkswirtschaft) und Geisteswissenschaften (Germanistik, Philosophie) weiterhin das nationalsprachige Wissen eine große Rolle spielen. Ansonsten beschreiben englisch-sprachige Dokumente die entscheidenden Neuerungen.
Diese Szenarien unterstreichen das in der Einführung zitierte Leitbild der Wissensgesellschaft. Es gibt Wirtschaftswissenschaftler, die in diesem Zusammenhang von einer Wissenswirtschaft als einer vierten, einer quartären Wirtschaftsstufe sprechen. Bei Bürgel und Zeller [BZ98] sind diese vier Wirtschaftsphasen wie in Tab. 18.1 dargestellt.

 
Tab 18.1 Phasen der Wirtschaftsentwicklung nach Bürgel und Zeller

In dieser Darstellung ist die vierte Phase dadurch charakterisiert, daß Wissen als Produktionsfaktor für 60% bis 80% der Wertschöpfung verantwortlich ist. Entsprechend steigt der Anteil der Wissensarbeiter. Wörtlich heißt es: »Die entscheidenden Engpaßfaktoren im Wertschöpfungsprozeß sind nicht mehr (physische) Arbeit und Kapital, sondern Information und Wissen«. Für den Forschungs- und Entwicklungsbereich der Industrie gipfelt diese Betrachtungsweise in der folgenden Aussage: So wie heute bei vielen Industriefirmen die Hardware-Entwicklung von der Software-Entwicklung verdrängt wird, wird dann die Software-Entwicklung von der Wissensentwicklung verdrängt werden. Nicht nur für Informatiker ist dies eine sehr provokante, zum Nachdenken anregende Aussage!

Interessant ist auch, daß von diesen Autoren die Wissenswirtschaft nicht als Teil der Dienstleistungswirtschaft angesehen wird, wie es die meisten Leute tun, sondern als deren Weiterentwicklung. Unterschiedliche Volkswirtschaften werden sich zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenem Ausmaße in diese Phase hineinbewegen. Zu einer ganz ähnlichen Aussage kommt Friedman [Fri99]. Er formuliert es so: »Wir können annehmen, daß in den folgenden Jahrzehnten die Anziehung von intellektuellem Kapital und der Umgang damit darüber entscheiden werden, welche Institutionen und Staaten überleben und aufblühen werden und welche nicht«. Hoffen wir, daß unsere Wirtschaft die richtigen Prioritäten setzt!

Chancen der zukünftigen Entwicklung

Für viele Menschen mag die Wissensgesellschaft eine positive Weiterentwicklung unserer Gesellschaft darstellen, ausgehend von den Idealen der Aufklärung. Wieweit eine Gesellschaft bereit ist, die entsprechenden Szenarien als Teil der gewünschten Zukunftzu akzeptieren, wirddarüber entscheiden, welchen Wohlstand sie erreicht und welche Rolle die entsprechende Region in einem Lande oder das Land in der Welt spielen wird. Die technische Entwicklung beeinflußt die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Entwicklung, und umgekehrt. Hier sollen zunächst die Chancen betrachtet werden, also die positiven Entwicklungen, die gesellschaftlich wünschenswerte Auswirkungen haben könnten: 
  • Stellenwert des Wissens: Die neuen Möglichkeiten machen Wissen zum Konsumartikel. Es wird von überall her angeboten. Es wird wohlfeil. Ob es als Ware oder als Gemeingut erscheint, das entscheidet der globale Markt, nicht die deutsche Kultusministerkonferenz. Durch das Überangebot kann sich der Stellenwert verändern. Es kann sein, daß er sich verringert. Zu hoffen ist, daß er sich erhöht. Eine Verdopplung der Zahl der Bibliotheken in Deutschland ist sicher nicht zu erwarten, eher schon eine Verdopplung der Bibliotheksnutzer.
  • Stärkung der Wissenselite: Da es leichter ist, an das notwendige Wissen zu gelangen, können sich mehr Menschen leichter und schneller für hochwertige Tätigkeiten qualifizieren. Der Prozentsatz der Berufstätigen, die man als Wissensarbeiter ansieht, steigt. An die Inhalte des Wissens heranzukommen, wird nicht schwerer sein, als einen Fernseher einzuschalten. Ob man mit dem Gebotenen etwas anfangen kann, ist eine Frage, die sich an der Vorbildung und der Lernbereitschaft entscheidet. Die Erschließung und Verbreitung von Wissen ist ein Prozeß, der sich selbst antreibt und beschleunigt. 
  • Durchlässigkeit der Gesellschaft: Wissen erwerben zu können, ist in Zukunft immer weniger ein Privileg. Entscheidend ist nicht mehr Herkunft und familiäre Situation, sondern nur die Fähigkeit und die Bereitschaft, Wissen aufzunehmen. Beides zu beeinflussen, ist die Aufgabe von elterlicher Erziehung und schulischer Grundausbildung. Ob man seine Zeit lieber mit anderen Tätigkeiten verbringt, ist eine Frage der Einstellung. Angebote, die einen ablenken können, wird es reichlich geben, und zwar erheblich mehr als für die Vertiefung des Wissens. Daß die verbesserte Durchlässigkeit auch die Demokratisierung in Wirtschaft und Gesellschaft stärkt und festigt, ist anzunehmen. 
  • Neue Arbeitsplätze: Diejenigen Branchen, die in das neue Geschäft einsteigen, werden unmittelbaren Nutzen daraus ziehen. Es wird Verlage geben, die einige Gigabytes an Information pro Woche verkaufen und Bibliotheken, die mehrere Millionen Zugriffe pro Monat haben. Neue Arbeitsplätze werden in diesen Branchen möglicherweise in wesentlich geringerem Umfange geschaffen als durch die De-Industrialisierung anderswo verloren gehen. Sicher werden die neuen Kernberufe und die kreative Wertschöpfung durch zusätzliche lokale Dienstleistungen ergänzt (wie die Pizza-Lieferung für die Wissensarbeiter). Entscheidend ist jedoch, daß die Leistungsfähigkeit und damit das Beschäftigungsniveau der ganzen Wirtschaft nur so zu halten und zu verbessern sein wird. 
  • Schneller Aufschluß der Entwicklungsländer: Die Chancen sich weiterzubilden und damit wirtschaftlich Anschluß zu finden, werden für immer neue Personengruppen eröffnet. Das gilt vor allem für ländliche Gebiete und für Entwicklungsländer. Indem Entwicklungsländer sich schneller selbst versorgen, entfallen zwar die finanziellen Belastungen und die Zuwanderungsgefahren für die entwickelten Regionen. Allerdings verschärft sich auch der Wettbewerb um hochqualifizierte Tätigkeiten und Produkte. 

Ob diese Chancen genutzt werden, liegt einerseits in der Hand der Betroffenen, andererseits in der Bereitschaft der Gesellschaft, diese Chancen für ihre Mitglieder zu öffnen. Chancen sind Möglichkeiten. Man kann sich auch entschließen, sie nicht auszunutzen. Man kann es aber auch einfach versäumen. Zu hoffen ist, daß beides nicht geschieht.

Risiken der zukünftigen Entwicklung

Es gibt keine Entwicklung, die nicht auch Risiken in sich birgt. Risiken sind die Fallen, in die man geraten kann. Sie können die gewünschte Entwicklung entweder verhindern, verzögern oder in eine andere Richtung lenken. Manche Risiken sind sehr naheliegend, auf andere kommt man erst durch Vergleich mit anderen Fachgebieten. Daß die Liste länger geworden ist als die der Chancen, sollte niemanden beunruhigen: 
  • Technische Fehleinschätzung: Bei jeder technischen Entwicklung gibt es ein Zeitfenster, während dessen ein Einstieg möglich ist. Aufgrund von Fehleinschätzungen der relativen Bedeutung einer Entwicklung kann man den Anschluß verpassen. Als Folge davon würden vermutlich ausländische Anbieter in diese Lücke eintreten. Die Globalisierung der Märkte gleicht die Fehler einzelner Teilnehmer aus. 
  • Neue Techniken nur für Unterhaltungsindustrie: Die neuen Techniken sind auch für andere Anwendungsgebiete lukrativ und anwendbar, etwa für die Unterhaltung. Genau wie sich vor 40 Jahren die deutsche Elektroindustrie mehr für Unterhaltungselektronik als für Datenverarbeitung interessierte, kann man auch jetzt wieder der Anwendung digitaler Medien in Unterhaltung und Werbung den Vorzug geben. Kein Zweifel, daß Unterhaltung einen größeren Markt hat und sich leichter verkaufen läßt.
  • Verzettelung bzw. Fehlen kritischer Masse: Die föderale Struktur des deutschen Bildungswesens und damit des Bibliothekswesens kann dazu führen, daß viele kleine Projekte durchgeführt werden, die nicht kooperieren oder aufeinander abgestimmt sind. Der lokale Egoismus führt dann zu einer Verzettlung von Kräften und verhindert das Entstehen einer kritischen Masse, die einen bleibenden Einfluß hat und eine Kooperation mit internationalen Aktivitäten gestattet.
  • Nicht-technische Bedenken / Technik-Kritik: Viele technisch kompetente Diskussionspartner halten sich zurück, weil sie das Gefühl haben, auf die emotionalen Widerstände von Technik-Kritikern und Buch-Romantikern zu stoßen, oder aber sie haben Angst vor den Drohgebärden der Rechteinhaber, die bezüglich der Urheberrechtsfrage nicht zu überwindende Hürden aufbauen.
  • Blockade durch große Unternehmen: Die international stattfindende Konzentration der Verlage und der Software-Industrie kann dazu führen, daß sich Unternehmen gegenseitig blockieren statt dafür zu sorgen, daß es zu einer schnellen und regulären Entwicklung des Marktes kommt. Hier ist zu hoffen, daß die Nutzer und ihre Interessenvertreter (Fachgesellschaften) sich dem entgegenstellen oder aber daß der Markt durch Neugründungen für genügend Auflockerung sorgt.
  • Totale Überwachung: Oft besteht die Angst, daß die elektronische Wissensversorgung auch die Überwachung im Sinne der Orwellschen Utopie fördert. Eine digitale Bibliothek, deren man sich öfters bedient, weiß mehr über die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden als etwa der Buchhändler um die Ecke. Nachdem das Jahr 1984 vorbei ging, ohne daß wir vom ›Großen Bruder‹ überwacht werden, ist diese Angst etwas geringer geworden. Die beste Sicherheit des Bürgers besteht darin, daß er den Dienstleister wechseln kann, sobald er Anlaß hat, ihm zu mißtrauen.
  • Überforderung des Staates: Gerade bei der digitalen Wissensversorgung neigen viele Bürger dazu, neue Forderungen an den Staat zu stellen. Sie halten dieses Gebiet für zu wichtig, um es allein den Kräften des Marktes zu überlassen. Das Rufen nach mehr Staat ist aber angesichts einer Staatsverschuldung von über 1.500 Milliarden DM nicht sehr opportun. Schlecht wäre es, wenn aus diesem Grunde gar nichts geschähe. 

Welches dieser Probleme akut oder gar bedrohlich wird, hängt von vielen Faktoren ab. Im Grunde sind alle diese Fehlentwicklungen stets als latente Gefahr vorhanden. Ist man sich eines Risikos bewußt, kann man eher gegensteuern. Die technische Entwicklung wird oft als eine Art von Naturgesetz angesehen. Das ist aber eine bewußte Übertreibung, die den Einfluß von Individuen und Gruppen ignoriert. Der Eindruck einer zwangsläufigen Entwicklung kann am ehesten entstehen, wenn eine genügend große Anzahl von Akteuren tätig ist, die sich gegenseitig herausfordern. Wären es nur wenige, könnten sie sich einigen und beschließen, den Wettlauf zu reduzieren oder gar einzustellen. Genau wie die Aufklärung als Gegenreaktion die Romantik auslöste, ist es nicht auszuschließen, daß die Wissensgesellschaft nicht von allen Menschen mit Freunde akzeptiert wird und daher Gegenreaktionen hervorruft.

Peter Glotz [Glo99] sieht sogar einen neuen Kulturkampf kommen zwischen den Beschleunigern und den ›Entschleunigern‹. Die Entschleuniger sind die Aussteiger, die sich der Globalisierung entziehen und dem wirtschaftlichen Streben die Beschaulichkeit und die Verinnerlichung entgegensetzen. Ob dies einmal eine Bewegung wird, die bestimmenden Einfluß hat, sei dahingestellt. Hier wurde darauf verzichtet, einen daraus entstehenden Konflikt näher auszumalen, statt dessen wurden Chancen und Risiken einander gegenüber gestellt. Auch soll hier nicht die Meinung vertreten werden, daß alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise in der Lage sind, sich den Anforderungen einer Wissensgesellschaft anzupassen. Das war in anderen Phasen der Menschheitsgeschichte, in denen eine große Umstellung erforderlich war, genauso wenig der Fall. Mal war der flinke Jäger besser dran, mal der geduldige Ackerbauer. Eine freie Gesellschaft sollte jedem Mitglied die Möglichkeit geben, sich im Rahmen seiner Begabungen und Interessen zu verwirklichen. Die soziale Komponente unserer heutigen Gesellschaft zeigt sich darin, daß körperlich Schwache, Kranke und Behinderte nicht ausgegrenzt werden. In Zukunft – so meinen einige von denen, die darüber nachdenken – könnten die Talentierten sogar eine teilweise Mitverantwortung für die Nicht-Talentierten übernehmen.

Referenz
  1.  Endres,A., Fellner,D.W.: Digitale Bibliotheken. Heidelberg: 2000; 494 S.; ISBN 3-932588-77-0