Donnerstag, 11. Mai 2017

Visionen und Utopien, Chancen und Risiken der Digitalisierung – vom Jahre 2000 aus gesehen

Dieser Tage blätterte ich in dem Buch [1], das zum Abschluss eines frühen Digitalisierungsprojekts verfasst wurde. Das Projekt hieß MeDoc, lief von 1994-1997 und hatte 30 deutsche Hochschulgruppen und 20 Verlage zusammengebracht, um der Digitalisierung auf die Sprünge zu helfen. Ich zitiere im Folgenden aus dem letzten Kapitel, das die Überschrift ‚Zukunft der Wissensversorgung‘ trägt. Die wiedergegebenen Texte in den ausgewählten Unterkapiteln habe ich nicht an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Auch habe ich für die dort zitierte Literatur hier keine Detailreferenzen angegeben.

Realistische technische Visionen

„We can even imagine building the ultimate personal assistant consisting of ‘on-body’ computers that can record, index, and retrieve everything we’ve read, heard and seen” G. Bell and J.N. Grey (1997)

Wer Visionen hat, der gehe zum Arzt oder zum Psychiater, so heißt es spöttisch. Gemeint sind dann optische Halluzinationen. Das Wort hat aber auch noch eine zweite Bedeutung. Als Visionen in diesem zweiten Sinne bezeichnen wir alle die Vorstellungen, die jemand von zukünftigen Dingen hat. Wichtig sind dabei besonders die Dinge, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf uns zukommen werden und die einen großen Einfluß haben können. An sie sollten wir uns heranwagen und mit ihnen beschäftigen. Bei Visionen wollen wir uns zunächst auf technische Entwicklungen beschränken, die heute schon erkennbar sind. Sie entsprechen meist dem generellen technischen Trend, die Dinge kleiner und schneller zu machen. Es gibt dafür meist heute schon Prototypen. In fünf bis zehn Jahren wird ihr Einfluß im Markt bemerkbar sein. Die folgenden Entwicklungen halten wir für realistisch:  
  • Tragbare Terabyte-Speicher: Wir werden auf kleinstem Raum immer mehr Information speichern können. Wir werden tragbare Geräte haben mit einer Speicherkapazität im Terabyte-Bereich. Solche Speicher können alle Bücher einer Handbibliothek aufnehmen, sowie alle Lieblings-Musikstücke und Filme. Wir können das Gerät auf Reisen mitnehmen.
  • Ein Terabyte-ROM unter einem €: Große Speicher werden so billig sein, daß wir den Datenträger ähnlich wie heute eine CD-ROM verschenken können. Dieses Medium wird, auf den gespeicherten Inhalt bezogen, erheblich billiger sein als Papier. Nur wenn etwas besonders feierlich oder förmlich sein soll, wird es auf Papier dargestellt.
  • Übertragungsnetze im Bereich mehrerer Gigabit/s: Die heute im Versuchsstadium befindlichen Gigabit-Netze (wie das G-WIN des DFN-Vereins mit 2,5 Gbits/s) werden weit verbreitet sein. Wir können damit einen Terabyte-Speicher öfters neuladen. Unter Umständen kann dies sogar über Mobilfunk erfolgen, ist aber nicht entscheidend. Ein ›Netzstecker‹ an der Wand, der so häufig zufinden ist wie ein Stromstecker, ist meistens ausreichend. Der ›Netzstecker‹ kann sogar mit dem Stromstecker identisch sein, wenn das Stromnetz auch für die Datenübertragung verwandt wird.
  • Rechenleistung im GFLOPs-Bereich: Eine Rechnerleistung im Bereich von einer Milliarde Gleitkomma-Operationen pro Sekunde (Giga Floating-Point Operations per Second, Gflops) wird für Anwendungen auch im Bibliotheksbereich verfügbar sein. Damit können Verfahren des Suchens, der Komprimierung, der Verschlüsselung, der Visualisierung und der Analyse benutzt werden, die heute an der erforderlichen Rechnergeschwindigkeit scheitern.
  • Eingenähte Rechner: Rechner sind nicht mehr immer als technisches Gerät zu erkennen oder getrennt bereitzustellen. Sie sind so klein, daß sie in Kleidungsstücke oder Tragetaschen eingenäht werden können. Sie können auch eingeschweißt sein in Möbel, Gartengeräte, Lebensmittelverpackungen und dgl. Wir können sie daher in Situationen verwenden, an die heute noch nicht zu denken ist. Wir werden uns sogar daran gewöhnen, in Konsumgüter eingebettete Rechner wegzuwerfen, so wie wir heute verbrauchte Chip-Karten wegwerfen. 
  • 4B-Lesegeräte: Die Schwächen heutiger Bildschirme werden weitgehend ausgemerzt sein. Immer flachere Bildschirme werden das Lesen an jedem Ort ermöglichen, auch im Bad, im Bett, im Bus und am Strand (engl.: bath, bus, bed, beach). Manche wird es freuen, daß sie zum Lesen im Bett kein zusätzliches Licht mehr brauchen, da die Anzeige entsprechend eingestellt werden kann. Die Geräte können die Form einer Brille haben, so daß die Darstellungsfläche bei den Bewegungen des Kopfes mitgeht. Diese Lesegeräte werden im Wettbewerb stehen mit PCs (Laptops oder Palmtops) und Mobiltelefonen, von denen aus man auch surfen und Post versenden kann, sowie mit immer leichter werdenden tragbaren Fernseh-Monitoren. 
  • Elektronisches Papier: Es gibt im Versuchsstadium (am MIT und bei Xerox) mehrere Varianten von sogenanntem elektronischen Papier. In allen Fällen wird eine Fläche elektronisch verändert, die fürj eden Bildpunkt mit winzigen Farbkugeln bestückt ist. Diese werden wie bei einem LCD-Bildschirm von Elektroden angesteuert und entsprechend dem zu erzeugenden Bild so gedreht, daß entweder ihre dunkle oder die helle Hälfte nach oben zeigt. Als Trägermaterial kann Papier oder Kunststoff dienen. 
  • Einheitliches Informationsgerät im Haushalt: Im Privatbereich wird es zu einem Zusammenwachsen von Fernsehgeräten, PCs und Spielekonsolen kommen. Zunächst wird der Fernseher PC-Funktionen bekommen, danach die Spielekonsolen Fernseh-Funktionen. Ob einer der Gerätetypen verschwindet ist sekundär.
  • Individualisierte Auswahl und Benachrichtigung: Vermehrte Software-Funktionen in allen erwähnten Gerätetypen werden es ermöglichen, besser als heute zu sagen, was man wann und wie empfangen will. Dazu gehören auch einfache Methoden und Notationen zur Spezifikation von Informationswünschen.
  • Verläßliche Übertragung und Abrechnung: Es wird Hardware- und Software-Lösungen geben, die alle Sicherheitsanforderungen des Nutzers und des Anbieters zufriedenstellend erfüllen. Es steht einer elektronischen Abrechnung von Informationsprodukten nichts mehr im Wege.
  • Akzeptierte elektronische Zahlungsmittel: Aus der Vielzahl der elektronischen Zahlungssysteme, die heute in der Einführungsphase sind, werden sich zwei oder drei Systeme so weit entwickelt haben, daß man sich auch im privaten Bereich auf sie verlassen kann. 
  • Mengenunabhängige Übertragungstarife: Die Zunahme der übertragenen Datenmengen macht Tarife unattraktiv, die von der Zeit der Nutzung oder der Menge der übertragenen Daten abhängig sind. Ein Festpreis für eine bestimmte Bandbreite pro Monat ist üblich. Dies erlaubt dann auch im privaten Bereich eine dauernde Online-Verbindung (auch Evernet genannt).

Alle diese Beispiel stellen keine revolutionären Durchbrüche dar, sondern sind Extrapolationen eines bereits vorhandenen Trends. Nur das letzte Beispiel ist nicht auf bereits erkennbare technische Entwicklungen zurückzuführen, kann aber trotzdem eine enorme Auswirkung auf das Marktgeschehen haben. Genau diese Situation verschaffte in den USA, wo Ortsgespräche kostenlos sind, der privaten Nutzung des Internets einen großen Auftrieb. Es gibt auch Warner, die argumentieren, daß mengenunabhängige Tarife (engl.: flat rates) nur eines produzieren, nämlich Stau. Es kommt nicht derjenige Teilnehmer in den Genuß des Dienstes, der ihn am nötigsten hat (wie immer das definiert ist), sondern der mit der größten Geduld.

Das am Kapitelanfang wiedergegebene Zitat von Bell und Gray [BG97] deutet die Möglichkeit an, daß wir technisch bald in der Lage sein werden, alle Daten, mit denen wir innerhalb eines menschlichen Lebens in Berührung gekommen sind, auch zu speichern und maschinell auszuwerten. Wenn davon gesprochen wird, daß im Internet heute bereits etwa hundert mal soviel Information zur Verfügung steht wie in allen konventionellen Bibliotheken der Welt zusammen, so kann sich dieses Verhältnis in weiteren zehn Jahren auf 1000:1 verändern. Möglich ist auch, daß langfristig digitale Informationen etwas an Bedeutung gegenüber analogen Informationen verlieren, wenn Sensoren und Aktoren so klein sind, daß sie überall eingesetzt werden können. Als Quelle von Daten kann man sich die Umwelt, den Haushalt, ja den ganzen menschlichen Körper vorstellen. Basierend auf dieser Überlegung kommt Saffo [Saf97] zu dem Schluß, daß in Zukunft analoge Daten eine ganz neue Rolle spielen werden. Die Geschichte der Technik ist dadurch bestimmt, daß immer wieder nicht-vorhersagbare, also überraschende Entwicklungen stattfanden. Diese sind natürlich in der obigen Auflistung nicht enthalten. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, daß es diese nicht mehr geben wird.



Abb 18.1: Von Informatik betroffene Nutzerzahlen nach Moschalla


Was die erwähnten technischen Entwicklungen vor allem verändern werden, ist die Tiefe der Durchdringung unseres Alltags und unseres Berufslebens mit Informatik-Lösungen. Ebenso kann man nach der Breite der Durchdringung fragen. Bei dieser Sichtweise wird betont, von welcher Stufe der Entwicklung wieviele Nutzer betroffen sind. Eine solche Betrachtung gibt Abb. 18.1, die auf Moschalla zurückgeht und von Seitz [Sei98] zitiert wird. Das Bild zeigt die Entwicklung der Informationstechnik in vier Wellenbewegungen mit immer steigender Anzahl der betroffenen Nutzer. Für Leser dieses Buches dürfte es keine Überraschung sein, daß es die Phase der Inhalte ist, die bevorsteht und die den größten Einfluß haben wird. Natürlich sind Wissensprodukte der kleinste Teil dieser Inhalte; die Unterhaltung (für die vergrößerte Freizeit) und die Werbung (für alles, was Privatleute oder die Wirtschaft brauchen können oder auch nicht) werden dominieren. Wir hoffen allerdings, daß Wissensprodukte nicht die Chance versäumen, sich einen Anteil zu sichern.

Wunschträume und Utopien

Im Gegensatz zu Visionen stehen Wunschträume und Utopien. Wunschträume hat jeder Mensch. Es sind die Dinge, die man gerne haben möchte, obwohl man weiß, daß man zuviel verlangt. Utopien sind etwas ernster zu nehmen. Sie basieren meistens auf starken Überzeugungen. Sie überzeichnen oft einen Aspekt, um auf die Gefahr einer bestimmten Entwicklung hinzuweisen. Sie dienen manchmal aber auch dazu, um Ängste zu erwecken oder Partner unter Druck zu setzen. Wenn sie gar benutzt werden, um damit Politik zu betreiben oder Polemik zu machen, ist es ratsam zu warnen. Welches der folgenden Szenarien als Wunschtraum oder als Utopie einzustufen ist, sei dem Leser überlassen. Wir wollen hier darauf hinweisen, warum es sehr unwahrscheinlich ist, daß diese Entwicklung eintritt.

  • Information zum Nulltarif: Durch die neuen Medien wird die Verteilung von Information billiger als bisher. Das heißt aber nicht, daß sie gar nichts kostet. Die Kosten der Erzeugung, Aufbereitung und Qualitätssicherung verändern sich nicht. Bei einigen neuartigen Informationstypen (z.B. Multimedia) werden sie sogar steigen. Auch das Speichern und Vorhalten verursacht Kosten, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Schließlich erwarten die meisten Autoren eine angemessene Vergütung.
  • Autoren als Verleger: Jeder Autor hat die Möglichkeit, sein Erzeugnis selbst ins Netz zu stellen und abrufen zu lassen. Ein Autor mag dies tun, wenn er so bekannt ist, daß die Qualität seiner Werke von vornherein außer Zweifel steht. Daß er dann auf eine wirtschaftliche Verwertung vollkommen verzichtet, ist eher selten. Genauso selten dürfte das Interesse sein, das Inkasso selbst vorzunehmen. Entscheidend ist jedoch, daß Publikationen nicht nur für Autoren sondern auch für Leser da sind. Als Leser kann man gegenüber einem unbekannten Autor, der selbst publiziert,nicht skeptisch genug sein.
  • Selbstorganisation der Wissenschaft: Wissenschaftler treten sowohl als Autoren wie als Nutzer auf. Genauso wenig, wie sie als Autoren alle Aufgaben eines Verlegers übernehmen werden, ist damit zu rechnen, daß sie bezüglich der Nutzung neuer Medien auf die Dauer als Selbstversorger auftreten werden. Etwas ganz anderes ist es, daß gewisse Aufgaben vom Dienstleister zum Endverbraucher hin verschoben werden, wie etwa das Wählen eines Teilnehmers beim Telefonieren. Der Dienstleister (in dem Beispiel die Telefongesellschaft) kümmert sich besser um höherwertige Aufgaben. Sollte die Wissenschaft glauben, daß gerade sie ohne Dienstleister auskommt, tut sie sich bestimmt keinen Gefallen.
  • Retro-Digitalisierung aller Werke: Es gibt Autoren, die das Prinzip der digitalen Bibliothek dadurch ad absurdum führen wollen, daß sie vorrechnen, was es kosten würde, alle jemals geschriebenen oder gedruckten Werke zu digitalisieren [Zim97]. Aus Sicht der Natur- und Ingenieurwissenschaften ist es das Ziel digitaler Bibliotheken, die Verteilung neuer Veröffentlichungen besser als bisher zu regeln. Die Retro-Digitalisierung ist ein untergeordneter Aspekt. Wenn aus bibliothekarischer Vorsicht selektiv einige vorhandene Dokumente digitalisiert werden, dient dies der verbesserten Zugänglichkeit dieser Dokumente und dem Schutz gegen unsachgemäße Behandlung, Verlust und Diebstahl. 
  • Universelle Weltbibliothek: Es ist im Prinzip denkbar, daß alle digitalen Bibliotheken der Welt einen Verbund bilden, in dem alle Bestände zugänglich sind. Heute gibt es bereits mehrere regionale Verbünde, deren Kataloge miteinander verknüpft wurden. Daraus kann sich eine Tendenz ergeben, auch bei Neuanschaffungen eine stärkere Abstimmung vorzunehmen, um dadurch unsinnige Kosten zu vermeiden. Das Ziel, alle Bibliotheken der Welt auf diese Art zur Zusammenarbeit zu bringen, ist weder vordringlich noch leicht erreichbar. 
  • Perfekte Personalisierung: Manche Leute hoffen, daß es intelligente Programme geben wird, die allein durch die Beobachtung unseres Verhaltens genug lernen können, um uns bei der Wissensversorgung effektiv zu unterstützen. Oft knüpfen sich solche Vorstellungen an den Begriff der mobilen Agenten. Gemeint sind damit Programme, die aufgrund eines recht vagen Auftrags im Internet eine (mehr als nur triviale) semantische Suche betreiben oder andere Aufgaben lösen sollen. Es ist sehr zu bezweifeln, daß diese Anwendung außer in ganz speziellen Beispielen große Erfolge aufweisen wird. Erfolge sind nämlich nur da zu erwarten, wo das benötigte Weltwissen sehr klar beschränkt ist. Den ›gesunden Menschenverstand‹, also Allgemeinwissen, nachzubilden ist bisher noch nicht gelungen und wird auch noch einige Zeit in Anspruch nehmen. 

Man könnte auch diese Liste noch fortsetzen. Sie enthält alle diejenigen Beispiele, mit denen Bibliothekare oft konfrontiert werden. Daß wir diese Beispiele als Wunschträume oder Utopien ansehen, hängt damit zusammen, daß wir entweder die technischen oder die wirtschaftlichen Voraussetzungen etwas anders einschätzen.

Auf dem Weg zur Wissenswirtschaft

Nachdem das Feld der zu erwartenden technischen Lösungen etwas eingegrenzt wurde, wollen wir uns jetzt einige Gedanken zum Anwendungsgebiet selbst machen. Zu diesem Zweck werden einige Szenarien abgeleitet, die wir für wahrscheinlich halten. Sie betreffen Wissen und Wissensversorgung an sich. Daß wir zuerst über die mögliche technische Entwicklung und dann über deren Auswirkungen auf ein Anwendungsgebiet sprechen, mag manchem Leser etwas willkürlich erscheinen, ist es auch. Die meisten Trends, über die hier berichtet wird, sind nämlich unabhängig von den technischen Lösungen, die dafür zur Verfügung stehen. Die Situation, die am wahrscheinlichsten eintrifft, ergibt sich aus dem Zusammentreffen der beiden Entwicklungen. Wir möchten unsere Vorstellungen von der Zukunft der Wissensversorgung durch folgende Szenarien umreißen:

  • Die Menge des Wissens der Menschheit wird weiter steigen, vermutlich sogar geometrisch. Besonders betroffen davon sind Medizin, Biologie, Natur- und Ingenieurwissenschaften. Es ist sinnlos zu versuchen, dies zu verhindern oder zu leugnen. Einzelne werden es trotzdem tun.
  • Die Bedeutung des Wissens für das Leben in der Gesellschaft und das Funktionieren der Wirtschaft wird zunehmen. Auch Firmen müssen sich verstärkt um Wissens-Management kümmern, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wissen wird als Motor der Wirtschaft und als Regulativ der Gesellschaft stärker als bisher anerkannt.
  • Der Einzelne hat als Teilnehmer am Wirtschaftsprozeß nur eine gute Chance, wenn er sich sein Leben lang um die Weiterentwicklung seines persönlichen Wissens bemüht. Da die lebenslange Beschäftigung durch dieselbe Firma immer weniger die Regel ist, muß sich der Einzelne in stärkerem Maße als bisher selbst um seine Weiterbildung bemühen. Er kann sich in dieser Hinsicht nicht auf den Arbeitgeber verlassen.
  • Das Angebot an Wissensprodukten wird wesentlich umfangreicher und differenzierter sein als heute. Die aktuellsten und finanziell günstigsten Angebote werden online, also über Kommunikationsnetze, bereitgestellt und genutzt. Zusätzlich wird es ein vergrößertes Angebot auf Papier oder in Frontalkursen geben. Wie in der übrigen Wirtschaft werden Markennamen den Konsumenten helfen sich zu orientieren.
  • Viele der gewohnten Schranken und Strukturen der Wissensversorgung werden entfallen. Prozesse, die dadurch de facto vorbestimmt waren, müssen jetzt explizit gesteuert und gelenkt werden. Wir müssen selbst entscheiden, was wir auf Papier oder am Bildschirm lesen wollen, was wir hören statt sehen oder mieten statt kaufen wollen. Wir müssen mehr darüber nachdenken, warum wir etwas wissen oder gar in Dokumentform besitzen wollen. Wie müssen lernen zu selektieren.
  • Das Suchen nach relevantem Wissen wird immer schwieriger und muß von immer mehr Leuten beherrscht werden. Diese Fähigkeit ist eine wichtige Kulturtechnik und muß in der Jugend gelernt werden. Andererseits geht das Beschaffen von gefundenem Wissen schneller. Auch sind die Kosten insgesamt geringer. Es entsteht ein entsprechend großer Bedarf für Hilfen und Dienstleistungen.
  • Die Globalisierung des Wissensmarkts, vor allem in Medizin, Biologie, Natur- und Ingenieurwissenschaften nimmt weiter zu. Trotz des Einflusses der europäischen und anderer übernationaler Organisationen wird in den Gesellschaftswissenschaften (Jura, Volkswirtschaft) und Geisteswissenschaften (Germanistik, Philosophie) weiterhin das nationalsprachige Wissen eine große Rolle spielen. Ansonsten beschreiben englisch-sprachige Dokumente die entscheidenden Neuerungen.
Diese Szenarien unterstreichen das in der Einführung zitierte Leitbild der Wissensgesellschaft. Es gibt Wirtschaftswissenschaftler, die in diesem Zusammenhang von einer Wissenswirtschaft als einer vierten, einer quartären Wirtschaftsstufe sprechen. Bei Bürgel und Zeller [BZ98] sind diese vier Wirtschaftsphasen wie in Tab. 18.1 dargestellt.

 
Tab 18.1 Phasen der Wirtschaftsentwicklung nach Bürgel und Zeller

In dieser Darstellung ist die vierte Phase dadurch charakterisiert, daß Wissen als Produktionsfaktor für 60% bis 80% der Wertschöpfung verantwortlich ist. Entsprechend steigt der Anteil der Wissensarbeiter. Wörtlich heißt es: »Die entscheidenden Engpaßfaktoren im Wertschöpfungsprozeß sind nicht mehr (physische) Arbeit und Kapital, sondern Information und Wissen«. Für den Forschungs- und Entwicklungsbereich der Industrie gipfelt diese Betrachtungsweise in der folgenden Aussage: So wie heute bei vielen Industriefirmen die Hardware-Entwicklung von der Software-Entwicklung verdrängt wird, wird dann die Software-Entwicklung von der Wissensentwicklung verdrängt werden. Nicht nur für Informatiker ist dies eine sehr provokante, zum Nachdenken anregende Aussage!

Interessant ist auch, daß von diesen Autoren die Wissenswirtschaft nicht als Teil der Dienstleistungswirtschaft angesehen wird, wie es die meisten Leute tun, sondern als deren Weiterentwicklung. Unterschiedliche Volkswirtschaften werden sich zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenem Ausmaße in diese Phase hineinbewegen. Zu einer ganz ähnlichen Aussage kommt Friedman [Fri99]. Er formuliert es so: »Wir können annehmen, daß in den folgenden Jahrzehnten die Anziehung von intellektuellem Kapital und der Umgang damit darüber entscheiden werden, welche Institutionen und Staaten überleben und aufblühen werden und welche nicht«. Hoffen wir, daß unsere Wirtschaft die richtigen Prioritäten setzt!

Chancen der zukünftigen Entwicklung

Für viele Menschen mag die Wissensgesellschaft eine positive Weiterentwicklung unserer Gesellschaft darstellen, ausgehend von den Idealen der Aufklärung. Wieweit eine Gesellschaft bereit ist, die entsprechenden Szenarien als Teil der gewünschten Zukunftzu akzeptieren, wirddarüber entscheiden, welchen Wohlstand sie erreicht und welche Rolle die entsprechende Region in einem Lande oder das Land in der Welt spielen wird. Die technische Entwicklung beeinflußt die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Entwicklung, und umgekehrt. Hier sollen zunächst die Chancen betrachtet werden, also die positiven Entwicklungen, die gesellschaftlich wünschenswerte Auswirkungen haben könnten: 
  • Stellenwert des Wissens: Die neuen Möglichkeiten machen Wissen zum Konsumartikel. Es wird von überall her angeboten. Es wird wohlfeil. Ob es als Ware oder als Gemeingut erscheint, das entscheidet der globale Markt, nicht die deutsche Kultusministerkonferenz. Durch das Überangebot kann sich der Stellenwert verändern. Es kann sein, daß er sich verringert. Zu hoffen ist, daß er sich erhöht. Eine Verdopplung der Zahl der Bibliotheken in Deutschland ist sicher nicht zu erwarten, eher schon eine Verdopplung der Bibliotheksnutzer.
  • Stärkung der Wissenselite: Da es leichter ist, an das notwendige Wissen zu gelangen, können sich mehr Menschen leichter und schneller für hochwertige Tätigkeiten qualifizieren. Der Prozentsatz der Berufstätigen, die man als Wissensarbeiter ansieht, steigt. An die Inhalte des Wissens heranzukommen, wird nicht schwerer sein, als einen Fernseher einzuschalten. Ob man mit dem Gebotenen etwas anfangen kann, ist eine Frage, die sich an der Vorbildung und der Lernbereitschaft entscheidet. Die Erschließung und Verbreitung von Wissen ist ein Prozeß, der sich selbst antreibt und beschleunigt. 
  • Durchlässigkeit der Gesellschaft: Wissen erwerben zu können, ist in Zukunft immer weniger ein Privileg. Entscheidend ist nicht mehr Herkunft und familiäre Situation, sondern nur die Fähigkeit und die Bereitschaft, Wissen aufzunehmen. Beides zu beeinflussen, ist die Aufgabe von elterlicher Erziehung und schulischer Grundausbildung. Ob man seine Zeit lieber mit anderen Tätigkeiten verbringt, ist eine Frage der Einstellung. Angebote, die einen ablenken können, wird es reichlich geben, und zwar erheblich mehr als für die Vertiefung des Wissens. Daß die verbesserte Durchlässigkeit auch die Demokratisierung in Wirtschaft und Gesellschaft stärkt und festigt, ist anzunehmen. 
  • Neue Arbeitsplätze: Diejenigen Branchen, die in das neue Geschäft einsteigen, werden unmittelbaren Nutzen daraus ziehen. Es wird Verlage geben, die einige Gigabytes an Information pro Woche verkaufen und Bibliotheken, die mehrere Millionen Zugriffe pro Monat haben. Neue Arbeitsplätze werden in diesen Branchen möglicherweise in wesentlich geringerem Umfange geschaffen als durch die De-Industrialisierung anderswo verloren gehen. Sicher werden die neuen Kernberufe und die kreative Wertschöpfung durch zusätzliche lokale Dienstleistungen ergänzt (wie die Pizza-Lieferung für die Wissensarbeiter). Entscheidend ist jedoch, daß die Leistungsfähigkeit und damit das Beschäftigungsniveau der ganzen Wirtschaft nur so zu halten und zu verbessern sein wird. 
  • Schneller Aufschluß der Entwicklungsländer: Die Chancen sich weiterzubilden und damit wirtschaftlich Anschluß zu finden, werden für immer neue Personengruppen eröffnet. Das gilt vor allem für ländliche Gebiete und für Entwicklungsländer. Indem Entwicklungsländer sich schneller selbst versorgen, entfallen zwar die finanziellen Belastungen und die Zuwanderungsgefahren für die entwickelten Regionen. Allerdings verschärft sich auch der Wettbewerb um hochqualifizierte Tätigkeiten und Produkte. 

Ob diese Chancen genutzt werden, liegt einerseits in der Hand der Betroffenen, andererseits in der Bereitschaft der Gesellschaft, diese Chancen für ihre Mitglieder zu öffnen. Chancen sind Möglichkeiten. Man kann sich auch entschließen, sie nicht auszunutzen. Man kann es aber auch einfach versäumen. Zu hoffen ist, daß beides nicht geschieht.

Risiken der zukünftigen Entwicklung

Es gibt keine Entwicklung, die nicht auch Risiken in sich birgt. Risiken sind die Fallen, in die man geraten kann. Sie können die gewünschte Entwicklung entweder verhindern, verzögern oder in eine andere Richtung lenken. Manche Risiken sind sehr naheliegend, auf andere kommt man erst durch Vergleich mit anderen Fachgebieten. Daß die Liste länger geworden ist als die der Chancen, sollte niemanden beunruhigen: 
  • Technische Fehleinschätzung: Bei jeder technischen Entwicklung gibt es ein Zeitfenster, während dessen ein Einstieg möglich ist. Aufgrund von Fehleinschätzungen der relativen Bedeutung einer Entwicklung kann man den Anschluß verpassen. Als Folge davon würden vermutlich ausländische Anbieter in diese Lücke eintreten. Die Globalisierung der Märkte gleicht die Fehler einzelner Teilnehmer aus. 
  • Neue Techniken nur für Unterhaltungsindustrie: Die neuen Techniken sind auch für andere Anwendungsgebiete lukrativ und anwendbar, etwa für die Unterhaltung. Genau wie sich vor 40 Jahren die deutsche Elektroindustrie mehr für Unterhaltungselektronik als für Datenverarbeitung interessierte, kann man auch jetzt wieder der Anwendung digitaler Medien in Unterhaltung und Werbung den Vorzug geben. Kein Zweifel, daß Unterhaltung einen größeren Markt hat und sich leichter verkaufen läßt.
  • Verzettelung bzw. Fehlen kritischer Masse: Die föderale Struktur des deutschen Bildungswesens und damit des Bibliothekswesens kann dazu führen, daß viele kleine Projekte durchgeführt werden, die nicht kooperieren oder aufeinander abgestimmt sind. Der lokale Egoismus führt dann zu einer Verzettlung von Kräften und verhindert das Entstehen einer kritischen Masse, die einen bleibenden Einfluß hat und eine Kooperation mit internationalen Aktivitäten gestattet.
  • Nicht-technische Bedenken / Technik-Kritik: Viele technisch kompetente Diskussionspartner halten sich zurück, weil sie das Gefühl haben, auf die emotionalen Widerstände von Technik-Kritikern und Buch-Romantikern zu stoßen, oder aber sie haben Angst vor den Drohgebärden der Rechteinhaber, die bezüglich der Urheberrechtsfrage nicht zu überwindende Hürden aufbauen.
  • Blockade durch große Unternehmen: Die international stattfindende Konzentration der Verlage und der Software-Industrie kann dazu führen, daß sich Unternehmen gegenseitig blockieren statt dafür zu sorgen, daß es zu einer schnellen und regulären Entwicklung des Marktes kommt. Hier ist zu hoffen, daß die Nutzer und ihre Interessenvertreter (Fachgesellschaften) sich dem entgegenstellen oder aber daß der Markt durch Neugründungen für genügend Auflockerung sorgt.
  • Totale Überwachung: Oft besteht die Angst, daß die elektronische Wissensversorgung auch die Überwachung im Sinne der Orwellschen Utopie fördert. Eine digitale Bibliothek, deren man sich öfters bedient, weiß mehr über die Wünsche und Bedürfnisse des Kunden als etwa der Buchhändler um die Ecke. Nachdem das Jahr 1984 vorbei ging, ohne daß wir vom ›Großen Bruder‹ überwacht werden, ist diese Angst etwas geringer geworden. Die beste Sicherheit des Bürgers besteht darin, daß er den Dienstleister wechseln kann, sobald er Anlaß hat, ihm zu mißtrauen.
  • Überforderung des Staates: Gerade bei der digitalen Wissensversorgung neigen viele Bürger dazu, neue Forderungen an den Staat zu stellen. Sie halten dieses Gebiet für zu wichtig, um es allein den Kräften des Marktes zu überlassen. Das Rufen nach mehr Staat ist aber angesichts einer Staatsverschuldung von über 1.500 Milliarden DM nicht sehr opportun. Schlecht wäre es, wenn aus diesem Grunde gar nichts geschähe. 

Welches dieser Probleme akut oder gar bedrohlich wird, hängt von vielen Faktoren ab. Im Grunde sind alle diese Fehlentwicklungen stets als latente Gefahr vorhanden. Ist man sich eines Risikos bewußt, kann man eher gegensteuern. Die technische Entwicklung wird oft als eine Art von Naturgesetz angesehen. Das ist aber eine bewußte Übertreibung, die den Einfluß von Individuen und Gruppen ignoriert. Der Eindruck einer zwangsläufigen Entwicklung kann am ehesten entstehen, wenn eine genügend große Anzahl von Akteuren tätig ist, die sich gegenseitig herausfordern. Wären es nur wenige, könnten sie sich einigen und beschließen, den Wettlauf zu reduzieren oder gar einzustellen. Genau wie die Aufklärung als Gegenreaktion die Romantik auslöste, ist es nicht auszuschließen, daß die Wissensgesellschaft nicht von allen Menschen mit Freunde akzeptiert wird und daher Gegenreaktionen hervorruft.

Peter Glotz [Glo99] sieht sogar einen neuen Kulturkampf kommen zwischen den Beschleunigern und den ›Entschleunigern‹. Die Entschleuniger sind die Aussteiger, die sich der Globalisierung entziehen und dem wirtschaftlichen Streben die Beschaulichkeit und die Verinnerlichung entgegensetzen. Ob dies einmal eine Bewegung wird, die bestimmenden Einfluß hat, sei dahingestellt. Hier wurde darauf verzichtet, einen daraus entstehenden Konflikt näher auszumalen, statt dessen wurden Chancen und Risiken einander gegenüber gestellt. Auch soll hier nicht die Meinung vertreten werden, daß alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise in der Lage sind, sich den Anforderungen einer Wissensgesellschaft anzupassen. Das war in anderen Phasen der Menschheitsgeschichte, in denen eine große Umstellung erforderlich war, genauso wenig der Fall. Mal war der flinke Jäger besser dran, mal der geduldige Ackerbauer. Eine freie Gesellschaft sollte jedem Mitglied die Möglichkeit geben, sich im Rahmen seiner Begabungen und Interessen zu verwirklichen. Die soziale Komponente unserer heutigen Gesellschaft zeigt sich darin, daß körperlich Schwache, Kranke und Behinderte nicht ausgegrenzt werden. In Zukunft – so meinen einige von denen, die darüber nachdenken – könnten die Talentierten sogar eine teilweise Mitverantwortung für die Nicht-Talentierten übernehmen.

Referenz
  1.  Endres,A., Fellner,D.W.: Digitale Bibliotheken. Heidelberg: 2000; 494 S.; ISBN 3-932588-77-0

1 Kommentar:

  1. Als dieses Buch erschien, erhielt es einige kritische Rezensionen, besonders von Bibliothekaren. „Sie sollten Ihr Buch Informationssysteme oder sonst etwas (abschreckend) Technisches nennen, aber nicht Bibliotheken.“ schrieb mir einer von ihnen. Seither bemühe ich mich, äußerste Rücksicht auf alle die Berufsvertreter zu nehmen, die sich durch technische Ideen oder Trends gefährdet sehen könnten. Die Heizer, die auf Elektroloks bis zu ihrer Pensionierung mitfahren durften, bewiesen, dass es mächtige Interessen gibt, die sich Veränderungen entgegen setzen können.

    Wie gefährlich Analogien sind, musste ich übrigens selbst erfahren, als ich das Buch in einer Stuttgarter Buchhandlung suchte. Als ich das Buch im Regal weder unter Informatik noch unter Bibliotheken fand, bat ich das anwesende Personal um Hilfe. Man stellte fest, dass das Buch eingegangen war, man es aber im Sektor Architektur eingeordnet habe. Ich fand es schließlich zwischen Bauhaus und Le Corbusier. Der Buchhändler selbst entschuldigte sich später bei mir. ‚Habent sua fata libelli‘ musste ich auch hier denken.

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