Dienstag, 29. Oktober 2019

Binnenmigration – oder über aktuelle Veränderungen in Deutschlands Bevölkerungsstruktur

Im Vergleich zu Ein- und Auswanderung taucht das Wort Binnenwanderung nur sehr selten auf. Die Einwanderung ist derzeit das alles beherrschende Thema. Ihre Ursache ist der relative Wohlstand Deutschlands gegenüber anderen Ländern. Bei der Auswanderung ist es genau andersherum. Sie wird in die Höhe getrieben, wenn anderswo das ‚Gras grüner‘ ist. Vergleicht man die Länder auf Europas Einkommensskala, so liegen die Einwanderungsländer an der Spitze und die Auswanderungsländer am Schluss. Luxemburg und die Schweiz bilden die Spitzenreiter, Bulgarien und Rumänien die Schlusslichter. Zusätzlich gibt es ein Gefälle zwischen Kontinenten, etwa zwischen Europa und Afrika, das zu enormen Wanderbewegungen Anlass gibt.

Neue RWI-Studie

Das RWI − heute Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, früher Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung – in Essen hat soeben eine Studie vorgelegt, in der im Grunde ein altbekanntes Strukturproblem beschrieben wird. Nur die erhobenen Daten sind aktuell. Das RWI berichtete darüber in einer Pressemitteilung vom 24.10.2019. SPIEGEL Online kommentierte und illustrierte die Studie mit einem eigenen Text und aufwändigen Grafiken.

Die absoluten Zahlen sind recht beachtlich. Zwischen 2008 und 2014 sind 15.9 Mill- Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit von einer Region (Stadt, Landkreis) in eine andere umgezogen.

Moderne Form der Landflucht

Der größte Anteil betraf Personen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren, und zwar 43%. Dabei stellt diese Altersgruppe nur 14% in der Bevölkerung dar. Nur 19% von ihnen zieht in einen Landkreis, 81% in eine Stadt. Den Landkreisen entstand eine Wanderungslücke von 460.000 Personen. Der Sachverhalt erklärt sich wie folgt: Wenn heute ein immer größerer Anteil eines Jahrgangs Abitur macht und studiert, ziehen immer mehr Jugendliche zwecks Ausbildung in die Städte. Unsere kleinsten Universitätsstädte haben immerhin 80.000 Einwohner (z. B. Clausthal-Zellerfeld, Eichstätt, Ilmenau). Nur Mittweida, Oberursel und Witzenhausen fallen ganz aus dem Rahmen. Nicht-akademische Berufe konnte man früher in nahezu jedem Dorf und jeder Kleinstadt erlernen – und kann dies teilweise auch weiterhin.

Ältere Personen wechseln wesentlich seltener ihre Region. Sie zieht es auch eher in ländliche Regionen. Sie gleichen aber den Verlust an Jugendlichen bei weitem nicht aus. Das führt zu einer Ausdünnung und gleichzeitiger Überalterung ländlicher Gebiete. Bei den Neuen Bundesländern verstärkt dieser Vorgang den schon länger vorhandenen Strukturwandel. In den alten Bundesländern kennt man das Phänomen vor allem seit der Jahrtausendwende.

Verödende Dörfer und Kleinstädte

In früheren Zeiten gab es immer Tätigkeiten für Akademiker in Kleinstädten und auf dem Lande. Erwähnen möchte ich Pastoren, Lehrer, Ärzte, Richter und Gutsbesitzer. Dass Pastoren seltener geworden sind, hat ganz spezielle Gründe. Auch die Anzahl der übrigen Tätigkeiten ist rückläufig, wenn man sie vergleicht mit den vielen neuen Tätigkeiten, die entstanden sind, vor allem im technischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Bereich. In der Tendenz sind sie aber eher in Städten zu finden, was viele Studierende veranlasst, nach Ende des Studiums dort zu bleiben.

Das breite Land ist dabei an Attraktivität zu verlieren, es sei denn man achtet auf Wohnungskosten, Landluft und Schönheiten der Natur. Da viele Dienstleistungen und Erwerbsmöglichkeiten ein regelmäßiges persönliches Wechseln zur Stadt erfordern, kommt es sehr auf die Verkehrsinfrastruktur an, ob dieser Pendlermodus attraktiv ist. Eine Alternative, die sich anbietet, ist die Nutzung durch digitale Netze, an deren Ausbau vielerorts aber noch gearbeitet wird. Außerdem genießen einige Großstädte ein gewisses soziologisches Renommee. Dieses drückt sich aus in modischen Accessoires wie Flaniermeile, Diskos, Partyszene, Kunstateliers und Rotlichtmilieu.

Die Konsequenz des Gesagten ist, dass auf dem Lande oder in Kleinstädten viele der dort verfügbaren Ressourcen oft nicht genutzt werden. Das ist besonders eklatant für den Wohnungsmarkt. Überall gibt es leerstehende oder schlecht genutzte Häuser und Wohnungen. Dass große Anwesen heute nur von einem Bruchteil der Personen bewohnt werden, die früher dort wohnten, ist normal. Die alleinstehende ältere Frau im Einfamilienhaus ist geradezu typisch.

Überspannter Wohnungsmarkt der Großstädte

Bis zum Jahre 2005 war die Landbevölkerung im Durchschnitt  jünger als die Einwohner von Städten. Inzwischen verhält es sich genau umgekehrt − und der Gegensatz vergrößert sich rasch. Denn junge Erwachsene ziehen massenhaft vom Land in die Stadt, während einige Ältere aus der Stadt aufs Land ziehen.

In fast allen Großstädten besteht ein Engpass für Wohnraum der mittleren und unteren Preisklasse. Dass der Senat der Stadt Berlin deshalb den Markt aushebeln will, kann man nur als Ausgeburt sozialistischer Denkweise verstehen. Angemessener wäre es, wenn die Unternehmen, die in Großstätten vertreten sein wollen, ihre Gehaltsstruktur dem Niveau der dortigen Wohnungspreise anpassen würden.

Sondereffekte

Einige Gegenden Deutschlands weisen Sondereffekte aus. So werden der Wohn- und Arbeitsmarkt von Lörrach und Trier fast vollständig von der Nähe zur Schweiz bzw. zu Luxemburg bestimmt. Im jeweiligen Nachbarland liegen Löhne wie Preise auf einem Niveau, das etwa doppelt so hoch ist als in Deutschland. Es erfolgt ein Sog, der sowohl Löhne wie Wohnungspreise auf das jeweils höhere Niveau treibt. Von der Politik zu fordern, sich der Situation regulierend anzunehmen, ist schierer Unsinn.

Volkes Meinung

Einen Leserbrief, den die SPIEGEL-Version hervorrief, will ich in Gänze wiedergeben (Pseudonym buffbuff). Ich teile dessen Meinung und genoss den Stil.

Nachdem jetzt gefühlt 80 prozent der schüler abi machen und jeder davon dann studieren gehen kann, passiert das eben auch. die kids gehen ein jahr nach australien und sonstwo chillen und schreiben sich dann irgendwo ein. früher waren es vielleicht 10 bis 20 prozent der schüler, die abi machten und davon gingen dann vielleicht zwei drittel studieren und vielleicht ein drittel auch weiter weg. heute sind die möglichkeiten ganz andere. das führt zu landflucht, weil wenn man einmal das stadtleben angefangen hat, zu geniessen, geht man frühestens mit familie und kindern wieder in landnähe. und jobs für studierte gibt es auf dem land eben auch immer weniger. schulen schließen, also weniger lehrer, krankenhäuser werden dicht gemacht, also weniger ärzte usw. usw.

Dienstag, 22. Oktober 2019

Sinnsuche des Individuums (Essay von Peter Hiemann)

Ich bin immer wieder überrascht zu sehen, wie leicht es Peter Hiemann fällt, Brücken zu schlagen zwischen soziologischer Theorie und individueller Lebenspraxis. Sein heutiges Essay hat die Überschrift ‚Individuelle Einsichten‘. Für die Gestaltung eines sinnvollen Lebens fordert Hiemann drei Einsichten (a) was gefällt warum, (b) was macht persönlich Sinn und (c) was macht gesellschaftlich Sinn. Zu allen drei Aspekten hat Hiemann wohl überlegte und abgewogene Ansichten. Überall erkennt man die frühere Beschäftigung mit ähnlichen Fragen. Es entstand kein abgehobenes und elitäres Bild, dem nur ein ungewöhnlich begabter oder besonders glücklicher Mensch zustimmen kann. Auch einem einfachen Landarbeiter in einem Entwicklungsland steht dieser Weg offen – so sieht dies Hiemann.

Wer Hiemann kennt, der weiß, dass er seine Ideen gerne in eine Gemeinschaft großer Geister stellt. Hier ist es kein geringerer als Alexander von Humboldt, der vor 200 Jahren schon in dieselbe Richtung dachte. Sehr aktuelle Ideen findet Hiemann bei Christof Wahner, der eine Emotionstheorie ganz ohne moralische Bewertungen anbietet.

Klicken Sie hier für ein spannendes Essay.

Sonntag, 20. Oktober 2019

Ephraim Kishon (1924-2005), ein Meister der Satire

Ephraim Kishon wurde unter dem Namen Ferenc (Franz) Hoffmann in Budapest in eine ungarisch-jüdische Familie geboren. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen und israelischen Literatur. Er veröffentlichte in beiden Sprachen, manchmal gleichzeitig, manchmal mit kurzer Verzögerung für die Übersetzung. Sein Genre war die Satire. Ich habe in den letzten Wochen einige hundert dieser Satiren gelesen, ehe ich mir sagte ‚Jetzt reicht‘s!‘. Dennoch glaube ich, dass ich Einiges gelernt habe, dass ich weitergeben sollte.

Leben in Ungarn

Kishons Vater war Bankdirektor. Er hatte eine Schwester namens Ágnes. Schon sehr früh wurde seine schriftstellerische Begabung erkannt. So erlangte er 1940 den 1. Preis des ungarischen Novellenwettbewerbs für Mittelschüler. Da ihm das Studium an einer Hochschule verwehrt war, begann er 1942 eine Ausbildung zum Goldschmied. Gegen Ende des Krieges kamen er und seine Familie in ein Arbeitslager in der Slowakei. Von dort gelang ihm 1945 die Flucht nach Polen. Ein Teil seiner Verwandtschaft kam in Auschwitz ums Leben. Er, seine Eltern und die Schwester Agnes überlebten. Nach dem Krieg geriet er zeitweilig in ein sowjetisches Gefangenenlager. Er konnte jedoch wieder entkommen. Nach Abschluss seiner Ausbildung als Metallbildhauer und Kunsthistoriker floh er in einem Viehwagon über Bratislava nach Wien. Von dort wanderte er über Italien im Mai 1949 mit einem Flüchtlingsschiff nach Israel aus.

Da der Name Hoffmann zu Deutsch klang, hat er sich bereits im kommunistischen Ungarn den Namen Kishont zugelegt (Kishont war eine Grafschaft im Königreich Ungarn). In seinen Büchern beschrieb er, wie er zu seinem aktuellen Namen kam: Ein Beamter im Hafen von Haifa stutzte Kishont bei der Einreise kurzerhand auf Kishon. Der Kishon ist ein Nebenfluss des Jordan. Den Vornamen Ferenc ersetzte der Beamte mit der Bemerkung „gibt es nicht“ durch Ephraim. Dies ist ein alter jüdischer Vorname, der in früheren Zeiten auch in Deutschland verwandt wurde. Ein bekanntes Beispiel ist Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781).

Leben in Israel und internationaler Ruhm

Kishons erste Ehe mit Eva Chawa (geb. Klamer) wurde geschieden, in zweiter Ehe heiratete er 1959 in Israel die aus Polen stammende Sara Lipovitz († 2002). In seinen Büchern bezeichnet er Sara mit Vorliebe als ‚die beste Ehefrau von allen‘. Aus der ersten Ehe stammt der Sohn Raphael (Rafi genannt), aus zweiter Ehe der Sohn Amir und die Tochter Renana. Auch alle drei Kinder kommen in seinen Werken immer wieder vor. Kishon war seit 2003 in dritter Ehe mit der Österreicherin Lisa Witasek verheiratet.

Bereits im Jahre 1952 begann er in hebräischer Sprache in der Zeitung Ma’ariv, der größten Tageszeitung Israels, unter dem Pseudonym Chad Gadja („Lämmchen“) eine tägliche Kolumne zu schreiben. Diese betreute er 30 Jahre lang. 1953 wurde sein Theaterstück Der Schützling im Nationaltheater Habimah aufgeführt; 1959 wählte die New York Times sein Buch Drehn Sie sich um, Frau Lot! (engl.: Look Back Mrs. Lot) zum „Book of the Month“. Damit begann Ephraim Kishons internationale Karriere.

Die Weltauflage seiner Bücher liegt bei 43 Millionen (davon 33 Millionen in deutscher Sprache). Auf Hebräisch sind rund 50 Bücher, im Deutschen etwa 70 Bücher erschienen (viele davon sind Zusammenstellungen bereits erschienener Geschichten). Weltweit gibt es von Kishon etwa 700 Bücher in 37 Sprachen. Viele seiner in Deutsch erschienenen Bücher wurden von seinem österreichischen Freund Friedrich Torberg übersetzt. Im Jahre 1964 gab Kishon mit dem Film Sallah – oder: Tausche Tochter gegen Wohnung) sein Debüt als Filmregisseur. Kishons Filme wurden zweimal für den Oscar nominiert (Schlaf gut, Wachtmeister) und wurden dreimal mit dem Golden Globe bedacht. Bis 1986 folgten acht weitere Produktionen, bei denen Kishon als Regisseur beteiligt war.

Die Zielscheibe von Kishons Satiren waren neben den kleinen Ärgernissen des Alltags vor allem die Bürokratie und die große und kleine Politik, speziell die in Israel. Kishon betätigte sich auch als Kunsthistoriker. Er war ein scharfer Kritiker der modernen Kunst und des dazugehörigen Kunstmarktes. An einigen Künstlern wie etwa Joseph Beuys oder Andy Warhol ließ er kein gutes Haar.

Ende in der Schweiz

Kishon empfand es als Ironie der Geschichte, dass er gerade in Deutschland so beliebt ist. ‚Ich verspüre Genugtuung darüber, dass die Enkel meiner Henker in meinen Lesungen Schlange stehen‘, hat er einmal gesagt. Den jungen Deutschen gegenüber empfand er keinen Hass. Es gebe keine kollektive Schuld, sondern nur kollektive Schande.

Anfang der 1980er Jahre ließ er sich in der Schweiz nieder und lebte abwechselnd in Appenzell-Innerrhoden und in Tel Aviv. Kishon starb am 29. Januar 2005 an einem Herzinfarkt im Appenzeller Land. Noch am Vorabend seines Todes hatte er den Stuttgarter Nachrichten ein viel beachtetes Interview gegeben. Zusammen mit einer Vielzahl würdigender Nachrufe ist es auf einer speziellen Kishon-Homepage zu lesen. Er wurde in Tel Aviv begraben.

Kostprobe von Kishon-Satiren

Kishons Satiren sind alle als eBuch zugänglich. Eine Zusammenfassung erschien 1998 unter dem Titel Alle Satiren. Dieses eBuch hat über 1300 Seiten. Ich hatte mit dem Lesen begonnen. Etwa bei Seite 800 gab ich auf. Ich habe festgestellt, dass es im Internet bereits ausgezeichnete Auswahlen gibt. Die auf der bereits erwähnten Homepage angebotene Auswahl von rund 20 Satiren ist so gut wie jede Zusammenstellung, die ich hätte machen können. Deshalb sei auf sie verwiesen (Sie dürfen klicken!).

Auswahl von Kishon-Satiren

Satire als Kunstform

Die Satire ist eine Kunstform, die seit der Antike existiert. Sie galt als Gegenstück zur Tragödie. Als römische Satiriker gelten Juvenal und Lukull, aber auch Horaz und Catull. Es werden Personen, Ereignisse oder gesellschaftliche Zustände kritisiert, verspottet oder angeprangert. Es wird verzerrt und übertrieben mit dem Ziel uns nachdenklich zu machen oder zum Lachen anzuregen. Die in öffentlichen Medien vorgetragenen Satiren richten sich oft ‚gegen die da oben‘ oder die politische Klasse. Sie können aber auch das Verhalten normaler Bürger oder der Massen zum Gegenstand haben. Satire-Sendungen sind im Fernsehen sehr stark vertreten, zumindest in westlichen Demokratien. Manche Satiriker beschränken sich nicht allein auf Kritik. Einige haben auch Wahlen gewonnen, so Martin Sonneborn bei uns und Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine. Dieses Phänomen ist echt beunruhigend. Es drückt sich damit die Meinung aus, dass Politik kein ernst zunehmendes Geschäft ist. Das ist bestimmt eine Fehlentwicklung.

Abgesang an eine Kunstform

Im September 2001 – also nach dem 9/11-Angriff − sagte Kishon in einen Chat des Nachrichten-Senders N-TV etwas überraschend: Er höre jetzt auf zu schreiben. Er habe bereits über alles geschrieben. ... ‚Schreiben ist eine außerordentlich anstrengende und langweilige Sache. Meine Entscheidung steht absolut fest und ist nicht nur Propaganda. Ich möchte wirklich aufhören, Bücher zu schreiben‘… Das Fernsehen habe den gedruckten Humor „totgetrampelt“. Schon einige Monate vorher hatte er in einem Interview mit der Zeitung „Junge Freiheit“ dazu verlauten lassen: „Ich bin sicher, der geschriebene Humor wird verschwinden. Ich bin der letzte Mohikaner. Der visuelle Humor wird ihn verdrängen. Beim Lesen von geschriebenen Büchern muss man selber mitmachen, vom Fernsehen dagegen wird man höflich bedient. ... Nun wird eine ganze Generation nur mit diesem billigen, ordinären TV-Humor aufwachsen. Das führt dazu, dass ihr der niveauvolle Humor unverständlich sein wird oder gar langweilig‘. Leider scheint Kishon Recht zu bekommen.

Freitag, 11. Oktober 2019

Ökosoziale Planung nach Niklas Luhmann und Bruno Latour (von Peter Hiemann)

Soziologen haben sich vorgenommen, uns die Gesellschaft zu erklären, also das soziale Zusammenleben von Menschen. Teilweise tun sie dies im Stil einer exakten Wissenschaft, indem sie nämlich beobachten und messen. Vielfach arbeiten sie wie Geisteswissenschaftler. Sobald die Dinge etwas komplizierter werden, beschränken sie sich darauf Abstraktionen vorzunehmen oder Modelle zu entwickeln. In beiden Fällen kommt es darauf an, was weggelassen wird. Das wird dann nicht als wesentlich angesehen. Zwei bekannte Soziologen haben sich mit dem Thema Ökosoziale Planung befasst. Luhmann und Latour. Ich möchte sie kurz vorstellen.

Niklas Luhmann (1927-1998)

Der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann kam in diesem Blog bereits des Öfteren vor. Peter Hiemann verwies immer wieder auf sein Werk. Luhmann war der Sohn eines Brauereibesitzers aus Lüneburg und stellte bei der Berufung nach Bielefeld weder einen Antrag für Reisemittel noch für Personalstellen. Alles was er benötigte, seien Papier und Bleistifte. Später kam noch eine Schrankkommode hinzu, der berühmte Zettelkasten. Das von ihm propagierte Gesellschaftsmodell umfasste drei Komponenten oder Perspektiven:  Programm, Interaktion und Funktion. Es wundert mich nicht, dass damit Kollegen aus der Informatik besonders angesprochen wurden, die an eine ähnliche Dreiteilung gewohnt waren, etwa bei OSI und SNA. Hier zerfiel die Welt in Daten, Verknüpfungen und Prozesse. In Luhmanns Gesellschaftsmodell kommen Menschen nicht vor, ebenso wenig Computer und Netzwerke.

Bruno Latour (*1947)

Bruno Latour ist der Sohn eines Winzers aus Beaune in Burgund. Er hatte unter anderem die Albertus-Magnus-Professur in Köln inne. Seit 1982 ist er Professor für Soziologie an der École Nationale Supérieure des Mines. Seine Habilitation erfolgte im Jahre 1987 an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, beides in Paris. Er wird manchmal als der größte Philosoph unserer Zeit bezeichnet. Er abstrahiert die Gesellschaft auf Netzwerke und Akteure. Bei ihm spielen Inhalte keine Rolle. Latour erhielt den Friedrich-Unseld-Preis (2008) und den Münchner Kulturpreis (2010).

Vergleich zweier soziologischer Planungsansätze

In seinem Beitrag Ökosoziale Planung versucht Peter Hiemann aus dem Werk der beiden erwähnten Soziologen sinnvolle Gedanken abzuleiten und zu kombinieren. Hiemann tut sich schwer, weil beide das Werk des andern nicht verstehen oder anerkennen wollen. Nicht da der eine Deutscher der andere aber Franzose ist, kam es nie zu einem Gespräch. Jeder verachtete, ja bekämpfte den fachlichen Ansatz des anderen. Mir scheint, dass die Entwicklung eines aktuellen Bedürfnissen gerecht werdenden politischen Planungssystems weder von Luhmanns noch von Latours Ideen enorm viel profitieren wird. 

Klicken Sie hier, um an Hiemanns Gedanken zu gelangen.

Dienstag, 8. Oktober 2019

Erinnerungen an Hans Diel (1942-2019)

Am Tag Der Deutschen Einheit, dem 3. 10. 2019, verstarb Hans Diel. Sein Tod kam nicht überraschend, seit vor einem halben Jahr ein sehr fortgeschrittenes Stadium von Lungenkrebs diagnostiziert wurde. Mit Hans Diel verlässt mich ein langjähriger Kollege und guter Freund. Ich möchte seiner auf eine sehr persönliche Art gedenken. Nach Manfred Roux gedenke ich hiermit eines zweiten ehemaligen Firmenkollegen, mit dem ich im Ruhestand intensiven Kontakt pflegte. Wir lebten alle drei als Nachbarn im gleichen Stadtteil.

Hans Diel 2013
Jugend und Studium

Hans Diel wurde in Scheidt in der Nähe von Saarbrücken geboren, und zwar am 27.4.1942. Dort besuchte er Grundschule und Gymnasium. Zu seinen Geschwistern und Verwandten, die im Saarland wohnten, pflegte er sein Leben lang Kontakt. Erste Computer-Erfahrungen gewann Hans Diel während seiner Stationierung bei einer Nachrichteneinheit der Bundeswehr in Meppen. Nach seiner Bundeswehrzeit studierte er Maschinenbau an der Fachhochschule Saarbrücken.

IBM-Zeit

Hans Diel wurde 1966 für das PL/I-Compilerprojekt der IBM im Labor Böblingen eingestellt. Im Interview beeindruckte er als FH-Ingenieur deshalb besonders, weil er sich über Alan Turing, die Turing-Maschine und den damit verbundenen Berechenbarkeitsbegriff ausließ. Diel begann in der Compiler-Entwicklung, trug aber später zu diversen anderen Projekten bei.

Mit Kollegen Heinz Sagl aus der PL/I-Zeit

Hans Diel hat sich durch Selbststudium und Kurse stetig weitergebildet und besaß einen guten Überblick über das gesamte Gebiet der System-Software. Er kannte sich bei Programmiersprachen und Programmiermethoden ebenso aus wie bei Datenbanken und Betriebssystemen. Er nahm daher an einer Reihe von Studienprojekten teil, aus denen neue Produkte entstanden. Mehrmals übernahm er auch die Entwurfsarbeit. Mehrere Böblinger Produkte trugen quasi seine technische Handschrift.


Übersicht Böblinger Software-Entwicklung vor 1996

In bester Erinnerung ist für viele Ex-Kollegen das Projekt ScreenView, das er maßgeblich gestaltete. Mit ScreeView konnte die Gerätekonfiguration eines MVS-Systems gleichzeitig auf mehrere Weisen dargestellt werden. Wird eine davon vom Nutzer am Bildschirm durch graphische Manipulation verändert, wirkt sich das auf alle (auch die nicht dargestellten) Sichten aus. ScreenView war als Oberfläche (engl. Frontend) zu HCD implementiert. Der größte Teil der ScreenView-Funktionen war nicht auf dem MVS-System selbst realisiert, sondern auf einem vorgeschalteten PC unter OS/2. Dies stellte damals eine neuartige Software-Struktur dar, bei der die Funktionen über mehrere Systeme verteilt waren.

Geradezu im Gegensatz zu seiner fachlichen Kreativität und Vielseitigkeit stand die Bescheidenheit und Zurückhaltung in seinem Auftreten. Er begegnete allen Kolleginnen und Kollegen stets freundlich und ausgeglichen. Wer sein Freund wurde, das entschied sich erst in einer längeren Zusammenarbeit

Mit Kollegen Gerhard Schimpf aus der DOS/VS-Zeit

Er blieb bis 1996, also 30 Jahre lang, der Softwareentwicklung treu. Während dieser Zeit gelang es ihm – was für einen Entwickler nicht selbstverständlich ist − zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften oder auf Fachtagungen zu veröffentlichen. Sie befassten sich mit den Schwerpunkten Parallel Processing (auch Parallel Logic Programming) und User Interface Management. Er fand Anerkennung für seine Arbeiten durch Ernennung zum Mitglied der IBM Academy of Technology. Seine Veröffentlichungen zu Software-Themen umfassen den Zeitraum von 30 Jahren. Die Liste entstammt seiner Homepage und ist hier vollständig wiedergegeben.

Veröffentlichungen über Software-Themen

Seit 1996 war Hans Diel freiberuflich als Software-Berater und -Entwickler tätig. Dabei entstand auch die Arbeit zu Intelligent Java Business Objects. Hans Diel hatte einige Aufträge im Banken- und Versorgungsbereich.

Quantenphysik – ein Hobby ohne Gleichen

Als großes Hobby betrieb Hans Diel diverse Studien zur Quantenphysik. Anstatt die Ansätze stümperhaft nachzuempfinden zitiere ich eine Beschreibung, die er im Internet selbst gibt:

Meine Arbeit begann mit dem Versuch, ein umfassendes Computermodell der Quantentheorie (QT) zu entwickeln, das die Simulation der wichtigsten QT- (Gedanken-) Experimente ermöglicht. Bald musste ich erkennen, dass die Machbarkeit eines solchen QT-Computermodells nicht (wie erwartet) durch die seltsame und mysteriöse Natur von QT, sondern durch die vielen vagen und mehrdeutigen Formulierungen der Theorie beeinträchtigt wird. Die aufgetretenen Probleme (beschrieben in [1], [2], [14] und [15]) führen zu der Schlussfolgerung, dass die offensichtlichen Mängel von QT (nur?) durch die Bereitstellung eines kausalen QT-Modells (einschließlich Quantenfeldtheorie (QFT)) behoben werden könnten. und dass die Machbarkeit der Konstruktion eines Kausalmodells ein Kriterium für die Vollständigkeit einer physikalischen Theorie im Allgemeinen sein kann.

Die Entwicklung eines Kausalmodells für QT / QFT begann mit einem Vorschlag für eine klare (dh formale) Definition eines „Kausalmodells“ (siehe [16], [17]) und wurde mit der Entwicklung von (1) a fortgesetzt "Funktionales" Modell des QT-Messprozesses (siehe [5] und [6]) und (2) ein Computermodell von QFT (siehe [7]). Die Arbeit wurde von einer Reihe von Veröffentlichungen begleitet (siehe [3], [4], [8], [9], [10], [11], [12], [13], [19] und [20]) ]) und enthielt eine Reihe von Verfeinerungsschritten.

Als (bislang) jüngsten Verfeinerungsschritt stellte ich fest, dass mein Kausalmodell von QT / QFT eine Grundlage im Sinne eines Kausalmodells der Raumzeitdynamik benötigt. Als wiederholte Überraschung stellte ich fest, dass auch ein kausales Modell der Raumzeitdynamik nicht direkt aus der Standardtheorie der Raumzeit abgeleitet werden kann, d. h. aus der allgemeinen Relativitätstheorie. Verfeinerungen und Interpretationen mussten hinzugefügt werden, um ein geeignetes kausales Modell der Raumzeitdynamik zu erhalten (siehe [18], [21], [22]). Im Modell besteht der Raum aus einer Menge von Raumpunkten, wobei jeder Raumpunkt über "Verbindungen" mit einer (kleinen) Anzahl benachbarter Raumpunkte verbunden ist. Die Prozesse der Raumzeitdynamik (z. B. das Hervortreten des Raums und die Ausbreitung von Raumänderungen) führen zu einer Verteilung und Dichte der miteinander verbundenen Raumpunkte, die eine gekrümmte diskrete Raumzeit gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie darstellen. Das kombinierte Modell von Raumzeitdynamik und QT / QFT ermöglicht neue Lösungen für noch kontroverse Themen in QT / QFT und in der Kosmologie. Weitere Arbeiten, einschließlich Computersimulationen, sind erforderlich, um die Hauptbereiche möglicher neuer Lösungen weiter zu verfolgen und zu verfeinern:

(1) Verfeinerung des Modells der Quanten- (Feld-) Theorie in gekrümmter diskreter Raumzeit, insbesondere eine Verfeinerung der "Quantenschleifenprozesse".
(2) Einige Überprüfungen der möglichen Auswirkungen des vorgeschlagenen Modells der Raumzeitdynamik auf die Kosmologie, insbesondere die mögliche Erklärung der "flachen Galaxienrotationskurven" durch "Gravitationslängendilatationen".
(3) Verfeinerung des Versuchs, die Nichtlokalitäten in QT / QFT, insbesondere den Zusammenbruch der Wellenfunktion, durch kollektive Verhaltensprozesse der Elementareinheiten der Raumzeit zu erklären.
Ausgewählte Veröffentlichungen zur Quantenphysik

Die Beschäftigung mit der Quantenphysik muss bei Hans Diel ihren Ursprung in der Studienzeit gehabt haben. Richtig zur Entfaltung kam das Hobby allerdings erst während der Rentnerzeit. Er veröffentlichte nicht nur in internationalen Fachzeitschriften, hin und wieder trug er auch auf Tagungen vor. Manchmal sagte er auch eine zugesagte Teilnahme ab, nicht weil es ihm zu viel Geld sondern zu viel Zeit kostete.

Senioren-Freundeskreis

In der Zeit ab 2005 entwickelte sich eine sehr intensive elektronische Korrespondenz zwischen einem Rentner-Kleeblatt, bestehend aus Hans Diel, Peter Hiemann (in Grasse) und dem Verwalter dieses Blogs (Pseudonym Bertal Dresen).

Von Hans Diel verfasste Beiträge in Bertals Blog

Viele der Dinge, die einen der drei oder alle drei interessierten, fanden ihren Niederschlag in dem von diesem Autor betriebenen Blog. Von den heute rund 600 Beitragen stammt etwa ein Dutzend von Hans Diel. Seine Kompetenz beim Thema Physik war für uns unbestritten.

Die beigefügte Liste ist leider nicht aktiv, d.h. die Beiträge können nicht angeklickt und gelesen werden. Dasselbe ist bei der von Hans Diel zusammengestellten Liste seiner Physik-Veröffentlichungen der Fall,

Persönliche Kontakte

Während der letzten 10-15 Jahre hat sich unser Kontakt sehr vertieft. Wir telefonierten mindestens einmal pro Woche und schrieben uns zusätzlich eMails. Zusammen mögen es etwa 500-700 eMails gewesen sein. Hans Diel schickte mir fast alle seine Veröffentlichungen vorab, damit ich sie kritisch lese. Sehr oft entsponn sich daraus eine Diskussion, die schon mal über mehrere Tage andauerte.

Da ich selbst in meinen Bewegungen etwas gehemmt bin, machte es sich Hans Diel zur Gewohnheit, mich zu besuchen. Als der jüngere von uns beiden bot er auch diverse Hilfsdienste an. Etwa alle 2-3 Wochen erschien er mit einigen Kuchenstücken oder andern Backwaren bei mir zuhause. Wir konnten dann unsere anstehenden Projekte diskutieren, tauschten uns aber auch über Politik und Zeitgeschehen aus. Nicht nur die englische und die amerikanische Politik boten ja reichlich Stoff, aber auch die Entwicklungen in Deutschland und Europa gaben immer wieder Anlass zur Diskussion. Dieser Dialog wird mir in Zukunft fehlen. Die damit verbundene Zuwendung ist nicht zu ersetzen. Sie bereicherte unser beider Leben.

Dramatisches Ende

Die Idylle, als die Hans Diel sein Altern empfand, erfuhr vor einen halben Jahr ein jähes Ende. Es begann damit, dass seine Gattin stürzte, während sie ihn über die Balkontür ins Haus lassen wollte. Frau Diel hat sich von diesem Unfall nie mehr richtig erholt.

Hans Diel klagte über zunehmende Atembeschwerden, was ihn dazu bewegte, diverse Ärzte um Rat zu bitten. Leider war es das Ergebnis, dass ein fortgeschrittenes Stadium von Lungenkrebs als die Ursache der Atembeschwerden erkannt wurde. Zur notwendigen Chemotherapie begab sich Hans Diel in eine Klinik in Bad Urach, wo seine Tochter als Ärztin tätig ist. Leider hatte die Behandlung nicht den erhofften Erfolg, da außer der Lungen- auch eine Herzinsuffizienz eintrat.

Nachtrag vom 16.10. 2019  

Heute Mittag fand Hans Diels Beisetzung statt, und zwar auf dem Burghalden-Friedhof in Sindelfingen. Da ich selbst nicht teilnahm und die geplante Teilnahme meiner Tochter wegen Erkrankung ausfiel, kann ich leider keinen Bericht geben.

Nachtrag vom 22. 10. 2019

Ich sage Ihnen herzlich DANKE für Ihren schönen Beitrag zum Tode von Herrn Diel. Er war für mich ein vorbildlicher,  bescheidener und stets hilfsbereiter Kollege. Und er war so gescheit !!

Ich habe an der Beisetzung seiner Urne teilgenommen, weil ich ihm das "letzte Geleit" geben wollte. Der Pfarrer hat die Feier wunderbar gestaltet und unter das Thema "NULL oder EINS" gestellt. Das heißt, dass Herr Diel stets ganz konsequent gelebt, geliebt und gearbeitet hat, wenn er sich für die "EINS" entschieden hatte. Kollegen habe ich nur wenige gesehen (erkannt);  der Trauerraum war aber voll besucht. Ich werde Herrn Diel vermissen - wie Sie doch auch.

Mit herzlichen Grüßen, Ihre Ursula Edelmann-Seiler
 
Nachtrag vom 23. 10. 2019 
 
Gerne nutzen wir Ihren Blog, um Danke zu sagen. Danke für die vielen Mails, Briefe, Karten und WhatsApp-Nachrichten, die uns in diesen Tagen erreichten, für die vielen tröstenden Worte, Umarmungen und Gespräche, und natürlich auch die Kommentare in Ihrem Blog, die die Wertschätzung für unseren Vater zeigten. 

Ein Dank auch an alle, die sich für den Abschied auf dem Burghaldenfriedhof Zeit nahmen und teilweise beträchtliche Anfahrtswege auf sich nahmen. Ein besonderer Dank gilt Pastoralreferent Dr. Michael Schindler, ein Jugendfreund von
mir, der meinen Vater seit seiner Kindheit kannte, und der für die Trauerfeier extra aus Oberschwaben anreiste. In seine lebhaften Trauerrede verwendete er das Bild des Computers, um den Trauergästen das Leben meines Vaters noch ein Stückchen näher zu bringen: Die Welt des Computers besteht aus lauter Nullen und Einsen. 0 und 1 prägte auch das Wesen meines Vaters - ganz oder gar nicht. Wenn er sich für etwas entschied, tat er es voll und ganz, mit voller Hingabe und Leidenschaft. 

  
Leider war es mir an dem Tag nicht vergönnt, alle  Anwesenden auf dem Friedhof persönlich zu begrüßen, da meine Mutter nicht so lange stehen konnte, und wir nach  dem Abschied am Grab sogleich den Weg ins Parkrestaurant antraten. Lieber Herr Endres, im Namen unserer Famliie bedanke ich mich noch einmal ausdrücklich für die freundschaftliche Begleitung und sende herzliche Grüße, Chrstoph Diel, Langenfeld.