Samstag, 12. November 2011

Gefährden Staatsschulden die Demokratien?

In Demokratien sei das Volk der Souverän, sagen die Verfassungen. Im Moment erleben wir, dass dies nur mit Einschränkungen der Fall ist. Es ist nur ein Ideal, eine Schönwetterregel. Sobald ein Land wirtschaftlich in Schwierigkeiten gerät, ändert sich die Situation. Zuerst verliert die Regierung ihre Macht, dann aber auch das Wahlvolk. Nach Freiheit und Selbstbestimmungsrecht droht auch die Würde aller Staatsbürger verloren zu gehen. Zumindest wird sie angekratzt.

Griechenland ist nur der krasseste Fall. Die Regierung bekommt von Brüssel, Berlin und Paris gesagt, welche Gesetze das Parlament schnellstmöglich beschließen soll. Dem Volk missfallen diese Gesetze. Es geht auf die Straße und rebelliert. Als ein nervös gewordener Ministerpräsident meinte, er müsse das Volk um seine Meinung fragen, wurde ihm das zum Verhängnis. Er wurde vor die versammelten Vertreter anderer Länder zitiert, erhielt eine Kopfwäsche und ruderte zurück. Aber das half ihm nicht mehr. Ihm wurde sogar noch gesagt, wer als sein Nachfolger gewünscht wird. Das griechische Volk als Ganzes wird in den nordeuropäischen Medien als faul und korrupt diffamiert. Ein Jürgen Trittin forderte es auf, doch bitte vernünftig zu sein. Rentenkürzungen seien doch weniger schlimm als Rentenausfälle, dozierte er.

Italien war ein stolzes Land und hatte einen stolzen Ministerpräsidenten. Der wusste genau, wie man das Fernsehen kontrollieren und seine Wähler lenken kann sowie die Gerichte zur Vernunft und seine Abgeordneten auf Vordermann bringen kann. Seine eigene Frau hatte er zwar verärgert, aber andere Frauen beeindruckt. In Brüssel musste er das Blaue vom Himmel versprechen. Geglaubt hat es ihm nur niemand. Er wurde dafür in einer öffentlichen Pressekonferenz verhöhnt. Das muss ihn persönlich sehr verletzt haben, gestürzt wurde er aber dadurch noch nicht. Dass er am Ende ist, musste er inzwischen zugestehen, da auch die Märkte ein eindeutiges Urteil über ihn gefällt haben.

Die Spanier, Portugiesen und Iren machen im Moment weniger von sich reden. Dafür versprachen Regierung und Opposition, dass sie sich künftig wohl verhalten werden. Gemeint ist damit, dass sie einschneidende Reformen durchsetzen und drastische Sparmaßnahmen ergreifen werden, also z.B. Beamtengehälter und Pensionen reduzieren, die Mehrwertsteuer und das Rentenalter erhöhen, Subventionen streichen und Staatseigentum verkaufen. 

Wie im 18. Jahrhundert wird die Führung ganz Europas von ein oder zwei Regional­mächten ausgeübt. Nicht Napoléon und Maria Theresia machen heute Weltge­schichte, sondern die Pfarrerstochter Merkel und der Einwanderersohn Sarkozy. Sie wurden zum Traumpaar und stellten fest, dass sie Entscheidungen für Länder treffen müssen, in denen sie nicht gewählt worden sind. Dafür wurde Horst Reichenbach, der Chef-Entwicklungshelfer der EU für Griechenland, gefragt, wie er sich als Gauleiter fühle. Auch die diplomatische Höflichkeit im Umgangston blieb auf der Strecke, als dem britischen Premier gesagt wurde, er solle endlich den Mund halten. Selbst Sarkozy muss um seine Wiederwahl fürchten, sollte sein Land sein AAA-Rating verlieren.

Die Ursache für diese Situation ist die horrende Verschuldung einiger Staaten. Bereits dreimal hatte ich in diesem Blog über das Schuldenmachen gesprochen. Beim ersten Mal meinte ich es noch positiv. Es ist das, was die Dritte Welt weniger gut kann als die Privathaushalte, Unternehmer und Nationen der westlichen Welt. Das zweite Mal war es im Zusammenhang mit der so genannten Eurokrise. Es ist dies bekanntlich keine Krise des Euro, sondern eine Krise mehrerer Staaten, die den Euro als Zahlungs­mittel verwenden. Würden diese Länder die Eurozone verlassen, würde der Kurs des Euro in unerwünschte Höhen schießen. Das dritte Mal war, als ich mich darüber wunderte, warum die Heilslehre eines Herrn Keynes so viele Leute betört.

In Diktaturen wird schlechtes Regieren meist vom eigenen Volke bestraft. Tunesien, Ägypten und Libyen haben dies gerade vorexerziert. In Demokratien scheint sich das Volk dieser Verantwortung nicht mehr bewusst zu sein. Wieso kann eine Regierung ein Land in einem Maße verschulden, so dass nicht mehr daran zu denken ist, dass die Schulden jemals beglichen werden können? In Griechenland beträgt die Verschuldung etwa das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes, des Bruttoinlandprodukts (BIP). In Italien sind es 120%. Das Rettungsprogramm der EU vom 26. Oktober 2011, über das alle Welt sich aufregt, kann Griechenland günstig­stenfalls in 10-20 Jahren dahin bringen, wo Italien heute ist.

Das Traurige ist, dass weder das griechische noch das italienische, portugiesische, spanische oder irische Volk aufschrien, als der Wagen in den Dreck gefahren wurde. Noch gab es nationale Rechnungshöfe oder übernationale staatliche Gremien, die den Finger auf die Wunde legten. Wo es eine Kassandra gab, wurde sie ignoriert. Einzig und allein war es der Markt, in Verbindung mit den verhassten Rating-Agenturen, welcher die Dinge ins Rollen brachte.

Ein Land, das verschuldet ist, und nicht eigenes Geld drucken kann, begibt sich in Abhängigkeit der internationalen Finanzmärkte. Dort gibt es Leute, die dafür bezahlt werden, dass sie anderer Leute Geld da anlegen, wo es eine gute Rendite gibt. Was als gute Rendite angesehen wird, darüber kann man geteilter Meinung sein. Manche Anleger sind mit einer geringen Rendite zufrieden, stattdessen möchten sie Sicher­heit. Diese Leute hatten bisher eine Präferenz für staatliche Anleihen. Manche Banken wurden sogar gesetzlich gezwungen, einen großen Teil ihres Geldes in Staatspapiere zu investieren. 

Weil einige Staaten schlecht wirtschafteten, ist plötzlich die Sicherheit einzelner staatlicher Schuldverschreibungen in Zweifel geraten. Die Kurse bereits ausgegebener Papiere verschlechtern sich. Für neue Schulden müssen höhere Zinsen gezahlt werden. Die Länder, die besser wirtschaften, erleben eine Gegenreaktion. Die Kurse ihrer Anleihen steigen und die Zinsen fallen.

Für Staaten, die sich verschulden, sind demokratische Wahlen nur noch von untergeordneter Bedeutung. Es wird darin nur noch entschieden, wer in Zukunft mit den Geldgebern verhandeln soll. Auch auf Meinungsumfragen im eigenen Land kann verzichtet werden. Selbst alles, was die Medien sagen und Zeitungen schreiben, ist für einen Politiker nicht mehr relevant. Entscheidend ist allein, wie die Börse in Tokio die jeweilige Woche eröffnet. Strahlt sie Optimismus aus, können sich die Staaten­lenker zurücklehnen. Verfällt sie in Panik, kann man die Koffer für den nächsten Krisengipfel packen. Der Souverän, auf den die Regierungen schauen, sitzt scheinbar am andern Ende der Welt. Die Quintessenz: Nur die Märkte zwingen Politiker noch zum guten Regieren, nicht mehr die kritische Presse oder gar das eigene Volk.

Lassen einmal die Märkte ein Land im Stich, können nur andere, besser gestellte Länder helfen. Dafür aber benötigen nicht nur die handelnden Politiker das Vertrauen ihrer ausländischen Kollegen, auch die Bevölkerung muss sich Vertrauen verdienen. Sie tut dies kaum durch Streiks und Revolten. Dabei lassen sich Politiker ersetzen, etwa durch so genannte Technokraten, das Volk jedoch nicht. 

Manche Politiker und Journalisten verkünden allen Ernstes, dass man die Freiheit des Marktes einschränken müsse, damit gewisse Länder nicht in Schwierigkeiten geraten. Das heißt, man solle die Symptome kurieren, anstatt die Krankheit zu heilen. Man will Wind und kaltes Wetter abschaffen, anstatt sich warm anzuziehen. Am kuriosesten sind Vorschläge, die verlangen, dass man statt der privaten lieber staatliche Rating-Agenturen einführen solle. Schön wäre es, wenn jemand, dem kein Fieberthermometer zur Verfügung steht, kein Fieber mehr bekäme.

Zwei sehr ernste Fragen stellen sich: Wie kommt man aus dem Schlamassel wieder heraus und wie kann man in Zukunft verhindern, dass dies wieder passiert? Natürlich besitze ich nicht die perfekten Antworten. Selbst so genannte Wirtschaftsweise tun sich sehr schwer damit. Hier ein paar Ideen zur ersten Frage:

  • Die Schulden für Griechenland müssen ganz erlassen werden statt sie nur zu reduzieren. Das Kind liegt im Brunnen und kommt nur so heraus. Die internationalen Geldgeber werden es verkraften (müssen) und um eine Lehre reicher sein.
  • Das Aufnehmen neuer Schulden sollte erschwert und nicht erleichtert werden. Das heißt, Lombardzinsen sollten erhöht und nicht gesenkt werden. Schulden per Gesetz oder gar per Verfassung zu verbieten, schreckt demokratische Regierungen nachgewiesenermaßen nicht ab. Das gilt selbst in Baden-Württemberg.
  • Dem jeweiligen Wahlvolk sollte man sagen, weshalb es in Mitleidenschaft gezogen wird und nicht nur die politische Klasse und die Banken. Jemand sollte den Mut haben zu sagen, was wann schief lief. Einzugestehen, dass niemand es weiß, ist nicht nur feige, sondern in erzieherischer Hinsicht blamabel.

Zwecks Vorbeugung gegen einen Rückfall in ähnliche Situationen kämen folgende Verhaltensregeln und Aktionen infrage:

  • Strikte Haushaltsdisziplin anzuwenden ist für Staaten mindestens so wichtig wie für Hausfrauen. Das Wahlvolk muss sie dazu zwingen, will es seine Macht und seine Würde bewahren.
  • Sollten Keynessche Experimente gemacht werden, muss eine zeitliche Begrenzung fest eingebaut werden. Auf Sicht zu fahren, reicht im dichten Nebel nicht aus.
  • Ehe man einem Wirtschaftsexperten vertraut, sollte man seine früheren Ratschläge und Vorhersagen analysieren. Die Kompetenz in der eigenen Partei oder gar im eigenen Lande mag nicht ausreichend sein. Aber auch die Weltbank und der Internationale Währungsfond (IWF) haben nicht immer Recht.
  • Politische Strategen sollten darüber nachdenken, wie man den Begriff des Gemeinwohls von seiner kurzfristigen Konsumorientierung befreit und das langfristige Wohlergehen einer Gesellschaft mit berücksichtigt.
  • Man sollte ein Forschungsprojekt starten und einen Preis ausloben für gutes Regieren. Am Forschungsprojekt sollten keine aktuellen Regierungsberater teilnehmen dürfen. Den Preis sollten nur nicht mehr aktive Politiker erhalten können. Er sollte das Renommee eines Nobelpreises haben.

Sicherlich haben Sie als Leserin oder Leser andere Ideen, bestimmt sogar bessere. Es würde mich freuen, davon zu hören.

Donnerstag, 10. November 2011

Zu meinen Aktivitäten als Amateur-Historiker

Meine Beiträge in diesem Blog erscheinen etwas unregelmäßig. Das liegt einerseits daran, dass der Fluss der Ideen bei meinen Mitautoren und mir nicht gleichmäßig fließt. Mal überschlägt er sich wie ein Sturzbach, mal mäandert er durchs Tal. Ich verreise auch schon mal oder habe einfach keine Lust. Andererseits beschäftige ich mich zwischendurch mit Themen, die keinen direkten Niederschlag in diesem Blog finden. 

Eines meiner Hobbies, neben Lesen, Schreiben und Reisen, ist die Heimat- und Familiengeschichte. Sie beschäftigt mich schon seit über 40 Jahren. So richtig aktiv wurde ich aber erst nach meiner Pensionierung. Wer meine Homepage besucht, kann diesen Schwerpunkt meiner Aktivitäten nicht übersehen. Meine 30 ersten Veröffentlichungen auf diesem Gebiet habe ich im Jahre 2008 als Sammelband im Eigenverlag neu aufgelegt. Das Buch heißt.

Geschichten aus der Eifelheimat - Eine Sammlung heimatkundlicher Beiträge über Niederweis und die Südeifel. Sindelfingen 2008

Das Buch war in allen Bitburger und einigen Trierer Buchhandlungen erhältlich und ist inzwischen vergriffen. Stattdessen kann man an denselben Stellen eine von Matthias Schneider und mir im Jahre 2010 herausgegebene Broschüre finden. Es ist dies:

Eine Chronik von Dorf und Schloss Niederweis. Niederweis 2010

Seit 2008 gibt es etwa ein Dutzend weitere Veröffentlichungen, die entweder bereits erschienen sind oder deren Veröffentlichung bevorsteht. Etwa die Hälfte davon, bei denen das Thema auch überregional von Interesse war, erschien in diesem Blog. Einige andere Texte kann man auf meiner Homepage im Abschnitt Stories lesen. Sofern sie passwort-geschützt sind, erteile ich gerne auf Nachfrage die Zugriffsrechte, bevorzugt allerdings an Freunde und Bekannte.

Die Themen, die ich als Amateur-Historiker behandle, fliegen mir zu, ähnlich wie viele andere Themen in diesem Blog. Mal stoße ich in einem Archiv oder in einem Speicherschrank meines Elternhauses auf ein interessantes Dokument, mal bekomme ich einen Tipp von einem Freund oder Bekannten. Da ich inzwischen weiß, welche Quellen mir helfen können, das Bild zu ergänzen, beginne ich anschließend meist eine zusätzliche Recherche. Oft reicht das Internet, manchmal schreibe ich an mögliche Informanten, sei es in Deutschland, Österreich, Frankreich, Luxemburg oder den USA. Manchmal kann ich auch selbst Nachforschungen vor Ort anstellen, oder jemanden überreden, dies für mich zu tun.

Ein Erfolgserlebnis empfinde ich immer dann, wenn ich Dinge an die Öffentlichkeit bringen kann, die meine Zeitgenossen nicht (mehr) kennen, die aber etwas aussagen darüber, 

wie das, was wir sehen und erleben, geworden ist.

Dieser Nachsatz ist übrigens der Untertitel der oben erwähnten Dorfchronik. Auch die meisten Berichte über die eigene Familie sind meist eingebettet in das politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschehen der jeweiligen Zeit. Manchmal erhalte ich auch Post von Lesern, oft Jahre später. Sie haben vielleicht etwas entdeckt, was ich nicht wusste, oder berichten darüber, welchen persönlichen Bezug sie zu einem der Themen haben.

Im Moment arbeite ich an dem Plan, den obigen Sammelband durch einen zweiten Band zu ergänzen. Es ist ein schöner Gedanke zu wissen, dass man mich in den Buchläden meiner Heimatregion finden kann. Dass man mich im Internet findet, ist nicht vergleichbar. Es ist ein anderer Personenkreis, der dadurch erreicht wird. Auch haben Buchgeschenke eine lange Tradition und einen eigenen Stellenwert, besonders bei meinen immer älter werdenden Alterskolleginnen und -kollegen. Man soll sie auf keinen Fall vergessen.

Montag, 7. November 2011

Karl Ganzhorn und die Biophysik

In den letzten Tagen hatte ich mal wieder Gelegenheit zum fachlichen Gedanken­austausch mit Karl Ganzhorn. Es ging dabei um das Thema Kommunikation in der Biophysik. Ich möchte hier einige Kernideen wiedergeben.

Ganzhorn geht von der Tatsache aus, dass Wasser (mehr noch als Blut) eine zentrale Rolle bei allen Lebewesen spielt. Es ist das Medium, das beim Stoffwechsel (Metabolismus) eine bedeutende Funktion ausübt. Es transportiert lebenswichtige Stoffe in die Zellen und in den Organismus und ist an der Entsorgung beteiligt.

Physikalisch besteht Wasser aus einer flüssigen Anordnung von H2O-Molekülen. Im ruhigen Zustand lehnen sich dabei O-Atome immer irgendwie an H-Atomen an. Es bilden sich so genannte Wasserstoffbrücken (H-Brücken). Die dabei wirkende Bindungsenergie ist etwa ein Zwanzigstel der intra-molekularen Energie. Im Falle von Turbulenzen, d.h. bei Bewegung des Wassers, wird ein Teil dieser H-Brücken zerbrochen. Das Wasser hat aber die Tendenz, diese Brücken schnellstmöglich wieder herzustellen. Wie schnell, und wie weit dies geschieht, hängt von der Temperatur des Wassers ab, sowie von den andern chemischen Elementen, die es gerade mit sich führt. Man kann das Ganze auch als Zwischenformen zwischen einer reinen Flüssigkeit und einem Kristall ansehen. Wasser kristallisiert bekanntlich bei null Grad zu Eis.

Das erstaunlichste aus Ganzhorns Sicht ist, dass es für diesen Prozess der (quasi-kristallinen) Neubindung ein Optimum gibt. Es liegt bei 37,5° Celsius. Das entspricht ziemlich genau der Körpertemperatur der meisten Lebewesen.

Durch den Vorgang der Neubindung auf einem niedrigeren Energie-Niveau werden Strahlungen im Mikrowellenbereich ausgelöst. Diese können von Zellen oder Organismen zur Kommunikation genutzt werden. Diese Strahlung hat die Tendenz, sich bezüglich Wellenlänge und Strahlungsmuster an zufällig vorhandenen Gegenständen, im Sinne von Antennen, selbst abzupassen (engl. self tuning). Ähnlich wie Röntgenstrahlen werden diese Strahlen bei ihrer Ausbreitung teilweise reflektiert, teilweise absorbiert.

Das Hauptproblem sei: Diese Strahlungen sind sehr stark verrauscht, d.h. von Hintergrundstrahlungen überlagert. Derzeitige Messgeräte reichen nicht aus, um das Rauschen zu unterdrücken. Einige Lebewesen (und Individuen) könnten dies offensichtlich. Es ist denkbar, dass Fischschwärme auch diese Art der Kommunikation verwenden.

Nach Ganzhorns Meinung ist diese Fragestellung von fundamentaler Bedeutung für die Kommunikation zwischen Lebewesen. Ihre wissenschaftliche Bearbeitung scheitert unter anderem daran, dass man 6-7 verschiedene Teilgebiete der Physik bemühen muss, um den Vorgang zu erklären. Solche Physiker gäbe es nur (noch) selten. Da das Ganze seinen Ursprung im submolekularen Bereich hat, handele es sich eindeutig um ein Problem der Biophysik und nicht um Biochemie.

Vielleicht fühlen sich Leserinnen oder Leser von diesen Ideen angesprochen. Ich bin gerne bereit, evtl. Kommentare an Karl Ganzhorn weiterzuleiten

Samstag, 5. November 2011

Erinnerungen an drei Arbeitskollegen – unter vielen

Im Folgenden möchte ich die Erinnerung an drei Kollegen wach rufen, mit denen ich jahrzehntelang eng im selben Unternehmen zusammengearbeitet habe. Sie unterschieden sich sehr in ihren Werdegängen, in ihren Veranlagungen und in ihren Charakteren. Alle drei stellen Musterbeispiele dar von Quereinsteigern in das damals neue Fachgebiet der Informatik. Trotz ihrer Verschiedenheit haben sie sich in der Zusammenarbeit mit ihren Teams gegenseitig ergänzt. Obwohl alle drei seit Jahren verstorben sind, denke ich heute immer noch gerne an sie. Durch sie wurde mein Berufsleben bereichert.

Volker Degering (1926-1988)

Degering stammte aus Magdeburg und hatte zwischen 1952 und 1958 in Berlin Mathematik, Physik und Philosophie studiert. Da er im Zweiten Weltkrieg als Flakhelfer im Einsatz war, konnte er erst mit Verspätung sein Studium beginnen. Er hatte bereits das Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen absolviert, ehe er 1959 zur IBM Deutschland ging. Ich hatte ihn als Programmierer für das IBM 650 Rechenzentrum in Düsseldorf eingestellt. Da seine Frau mit Sohn anfangs noch in Berlin wohnen blieb, unternahm er fast jedes Wochenende eine stundenlange Autobahnfahrt von Düsseldorf nach Berlin und zurück mit einem Leichtmotorad. In wetterfester Motoradmontur gekleidet, mitunter von Dreck bespritzt, kam er manchmal auch erst montags gegen Mittag ins Büro

 
Volker Degering im 650-RZ Düsseldorf 1961


Im Jahre 1964 wechselte er von Düsseldorf nach Böblingen. In der Software-Entwicklung des Labors Böblingen wirkte er bis zu seiner Frühpensionierung im Jahre 1986. Er starb bereits 1988 an einem Herzleiden. Während seiner Böblinger Zeit wohnten er und seine Familie (mit fünf Kindern) in Herrenberg. Er hat auf dem dortigen Waldfriedhof seine Ruhestätte gefunden.

Degering war von seiner Berufstätigkeit wie von einer Leidenschaft besessen. Hatte er eine neue Aufgabe, gönnte er sich keine Ruhe, bis dass sie gelöst war. Er gehörte zu der Sorte von Mitarbeitern, die sein Manager auffordern musste, mal Feierabend oder gar Urlaub zu machen. Seine Programme waren relativ gut strukturiert und testbar. Ihm widerstrebte es jedoch, jedweden Text, sei es in Deutsch oder Englisch, zu verfassen. Darunter litt an erster Stelle die Programm-Dokumentation. Die beste Lösung dieses Problems bestand für mich darin, einen jungen Mitarbeiter zu suchen und diesen zu motivieren, seine Ausbildung zu beschleunigen, indem er Volker Degering über die Schultern schaut und dessen Programme dokumentiert. Das funktionierte zwar oft, aber nicht immer.

Drei Aspekte vervollständigen das Charakterbild. Degering war zeitlebens ein starker Raucher. Man sah ihn nur mit einer Zigarette oder einem Zigarillo in der Hand. Deshalb genoss er stets den Vorzug eines Einzelzimmers. Sein Konsum an Kaffee betrug vermutlich mehrere Liter pro Tag. Nicht selten enthielten seine Programm­listen oder sein Anzug deutlich erkennbare Kaffeeflecken. Am markantesten war seine Besessenheit von sportlichen Limousinen. Er war ein treuer Kunde der Marke BMW. Es wird überliefert, dass er seiner Pflicht, am Wochenende ein Kleinkind zu betreuen, auf besonders originelle Weise gerecht wurde. Er legte es auf den Hinter­sitz seines Autos zum Schlafen, während dessen er drei bis vier Stunden lang die Autobahn tourte. Wie mir Degerings Witwe vor kurzem mitteilte, hat sich die Leiden­schaft für schnelle Autos auf einige seiner fünf Kinder vererbt.

Laszlo B. (1935-2004)

Laszlo war in Ungarn geboren, erhielt seine Gymnasialbildung in einem katholischen Internat, und war bereits mitten in seinem Maschinenbaustudium, als es 1956 zum Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft kam. Er floh nach Deutschland und konnte 1960 sein Studium in Deutschland zum Abschluss bringen. Im Jahr darauf nahm er die Stellung bei der IBM in Böblingen an. 

Ähnlich wie bei Degering hatte Programmieren bei ihm fast den Charakter einer Leidenschaft. Im Gegensatz zu Degering ging er jedoch alle seine Projekte sehr rational an. Er überlegte sich genau, wie er vorgehen wollte, erklärte dies seinem Chef und legte los. Auf seine Umfangsschätzungen (KLOC) und Zeitschätzungen (Personenmonate) konnte man sich verlassen. War er früher als geplant fertig, bot er an, noch einige Optimierungen vorzunehmen. Dabei musste man allerdings aufpassen, dass er nicht zu weit ging.

Zu den ersten Projekten, zu denen Laszlo beitrug, gehörte der RPG-Übersetzer für das Model 20 der System/360-Familie. Es war dies ein Mehrphasen-Compiler, von dem es drei Versionen gab. Die früheste Version basierte auf Lochkarten als Speichermedium und wurde Ende 1965 ausgeliefert, die beiden andern benutzten Magnetbänder bzw. Magnetplatten als Systemresidenz. Die Kartenversion hatte 4 KB Hauptspeicher zur Verfügung, die beiden andern jeweils 8 KB. Alle erzeugten sehr effizienten Objektcode.

Laszlos spätere Projekte betrafen fast immer den innersten Kern des Betriebs­systems. Vermutlich hat er für das DOS/VS-System der IBM den Supervisor drei oder vier Mal neugeschrieben. Das betraf mal die Erhöhung des Grades des Multiprogramming (Anzahl zugelassener paralleler Prozesse), mal die Hauptspeicherverwaltung (virtuelle Adressierung), mal neue Speichermedien für die System-Residenz (Karten. Magnetbänder, verschiedene Festplatten-Typen und -Architekturen). Selten arbeitete er an Projekten außerhalb des Systemkerns. Ein Beispiel war eine Implementierung eines Interpreters der Sprache RPG im Mikrocode. Das war allerdings nur ein Prototyp, der nicht an Kunden ausgeliefert wurde. Er zeigte, dass zwar eine Leistungssteigerung um den Faktor 2-3 und eine gute Form der Interaktion möglich waren, machte aber auch klar, dass es eine Sackgasse war. Bei jeder neuen Rechner-Generation hätte der Interpreter von Grund auf neu geschrieben werden müssen.

Laszlo war ein sehr zurückhaltender, kaum Ansprüche stellender Mitarbeiter. Meist strahlte er sein Gegenüber mit einem freundlichen Lächeln an und hatte mit niemandem Streit. Er rauchte wenig, trank kaum Kaffee und beteiligte sich an Diskussionen nur dann, wenn er wesentliche inhaltliche Beiträge machen konnte. Im Jahre 1995 nahm er ein Frühpensionsangebot der Firma IBM an. Als freier Mitarbeiter führte er danach noch mehrere Jahre lang Programmieraufträge für die Firma IBM durch. Er wohnte mit seiner Familie in W. und wurde unter Teilnahme vieler ehemaliger Kollegen auf dem dortigen Friedhof beigesetzt (der Name und die persönlichen Daten wurden geändert).

Immanuel Witt (1915-1994)

Witts Eltern stammten aus dem Schwabenland. Er selbst wurde in China geboren, als seine Eltern dort als protestantische Missionare tätig waren. Er hatte Musik studiert und eine Ausbildung als Organist genossen. In der historischen St. Martins­kirche in Sindelfingen – aber nicht nur dort – war er als einer der Organisten an Sonn- und Feiertagen im jahrelangen, regelmäßigen Einsatz. Seine Ehefrau entstammte einer Stuttgarter Musikerfamilie.

Witt hatte sich entschlossen, die Programmierung quasi als Zusatzbeschäftigung an Wochentagen zu betreiben, um das Einkommen der Familie zu verbessern. Die Folge war, dass beide Tätigkeiten ihn emotional und intellektuell in Bann schlugen. Im Gegensatz zu einigen andern Kollegen, war für ihn die mit Rechnern verbundene Technik nicht Selbstzweck. Er sah sie als Mittel an, um Menschen dabei zu helfen, ihre Aufgaben und Probleme zu lösen. In vorderster Front dabei mitwirken zu können, gab ihm eine große Befriedigung. Obwohl wir diesen Begriff damals noch nicht kannten, war seine Grundeinstellung die eines Software-Ergonomen. Das drückte sich darin aus, dass seine Sorge als Entwickler in starkem Maße auf die Nutzer gerichtet war. ‚Können wir das unsern Nutzern zumuten? Was können sie in dieser Situation tun?‘ Das waren typische Fragen, die er stellte.


  
Immanuel Witt in Nizza 1963

Ein Projekt, bei dem diese Denkweise extrem auf die Probe gestellt wurde, war die Software-Unterstützung für eine Maschine, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Sie hieß Mehrfunktionskarteneinheit und war das primäre Ein- und Ausgabegerät des Modells 20 der System/360-Familie. Die Maschine hatte die Typenbezeichnung IBM 2560 und die deutsche Abkürzung MFKE. Bei uns hieß sie nur Miefke. Die Maschine konnte Lochkarten lesen, stanzen und bedrucken. Da sie auch zum Sortieren und Mischen von Lochkarten verwendet werden konnte, besaß sie zwei Zuführungen und fünf Ablagefächer. Intern gab es acht Stationen, über die Lochkarten gesteuert wurden, wobei sie sich aber nicht überholen durften. War die normale Operation schon komplex, so potenzierte sich dies in Fehlersituationen. Dabei durften keine Lochkarten verloren gehen und ein Wiederanlauf für jede Situation mit klarer Anweisung möglich sein. Die erfolgreiche Lösung dieser ver­trackten Aufgabe rechtzeitig zu Weihnachten 1965 war Immanuel Witts Meisterstück.

An seine späteren Projekte erinnere ich mich weniger intensiv. Hervorheben möchte ich allerdings einen Beitrag von ihm zur deutschen Umgangssprache. Ende der 1960er Jahre vertrat er die Firma IBM im Deutschen Normenausschuss (DIN), und zwar in dem Gremium, das die deutsche Version einiger Begriffe aus der Daten­verarbeitung festlegte. Auf Witts Vorschlag wurde das allgegenwärtige englische Wort ‚file‘ mit ‚Datei‘ übersetzt. Es war dies seine Neuschöpfung, angelehnt an das Wort ‚Kartei‘. 

Immanuel Witt pflegte Fotografieren als Hobby, dem er sowohl auf Geschäfts- wie auf Privatreisen frönte. Das hier verwendete Foto stammt allerdings aus meinem (leider etwas verschmutzten) Dia-Bestand. Es zeigt Immanual Witt 1963 auf der Promenade des Anglais in Nizza, zusammen mit der Ehefrau des Autors. Er hatte mich und meine Familie mehrmals während meines dortigen Auslandaufenthalts besucht. Immanuel Witt und seine Frau lebten nach der Pensionierung in Hailfingen bei Rottenburg. Sie sind beide dort beerdigt.

Die vielen Andern

Mit den drei erwähnten Kollegen möchte ich stellvertretend an einige Hundert Kolleginnen und Kollegen erinnern, denen ich während meiner Berufsjahre bei einem international tätigen Unternehmen begegnet bin. Besonders die Software-Entwickler, mit denen ich am meisten zu tun hatte, waren eine sehr bunt gemischte Gemein­schaft. Es gab unter ihnen Ägypter, Amerikaner, Australier, Briten, Holländer, Franzosen, Griechen, Italiener, Japaner, Neuseeländer, Österreicher, Polen, Portugiesen, Schweden und Schweizer. Hier sind nur diejenigen Nationalitäten erwähnt, an deren Vertreter ich mich noch heute erinnere. 



Böblinger Software-Entwickler 1972

Selbst die Kolleginnen und Kollegen, die einen deutschen Pass besaßen, verrieten immer gerne ihre landsmannschaftliche Herkunft. Sie sahen sich in erster Linie als Bayern, Badener, Berliner, Hamburger, Franken, Hessen, Rheinländer, Sachsen oder Schwaben. Es war eigentlich nur das private Leben, das von ihnen eine gewisse Anpassung an die regionale Mentalität verlangte, an Spätzle, Trollinger und Kehrwochen. Obwohl das Unternehmen im Schwabenland ansässig war, stellten die Schwaben unter uns nur eine verschwindend kleine Minderheit dar. Lediglich in sprachlicher Hinsicht fielen sie etwas mehr auf als die andern, da sie von ihrem markanten Dialekt fast ungebremst Gebrauch machten. Der Koch der Betriebsküche hatte jedoch täglich das Problem, es Allen recht zu machen. Dass die Getränke-Automaten im Betrieb neben Cola und Sprudel auch Bier vorrätig hielten, wunderte vor allem die ausländischen Besucher.

Dienstag, 1. November 2011

Produkthaftung für Software – ewige Schwachstelle oder ungenutzte Chance?

Immer wieder stieß ich in meiner langen Berufskarriere auf ein Thema, dem man am liebsten aus dem Wege ging. Es war die Frage der Produkthaftung von Software. Bei dieser Frage kommt ein fundamentaler Unterschied zwischen Software und allen andern Wirtschaftsgütern zum Ausdruck. An diese Problematik erinnert wurde ich kürzlich durch einen Beitrag von Poul-Henning Kamp, der im September in der ACM-Zeitschrift Queue erschien. Genau derselbe Beitrag kommt auch im November-Heft der Communications der ACM. Kamp vertritt darin die Meinung, dass es höchste Zeit ist, eine gesetzliche Regelung anzustreben. Dass dies die Industrie zwinge umzu­denken, ja von vorne anzufangen, sei kein Schaden sondern ein Nutzen. Die Industrie IST das Problem, meint Kamp – man beachte die Großschreibung (engl.: The Software Industry IS the Problem).

Auch GI-Präsident Stefan Jähnichen hat sich in einer Online-Kolumne mit dem Thema der Haftung auseinandergesetzt. Dabei fallen mir zwei Dinge besonders auf:
  • Selbst der GI-Präsident sieht inzwischen im Chaos Computer Club (CCC) eine kompetente Instanz für alle Fragen im Spannungsfeld von Informatik und Gesellschaft. Sein moralisches Prestige ist dabei um Klassen höher als etwa das der Deutschen Bank. 
  • Als loyaler Vertreter der Informatik-Branche vermeidet Jähnichen das Wort ‚Produkthaftung‘ wie der Teufel das Weihwasser. Stattdessen spricht er von ‚Software Liability‘, da man ja bei englischen Vokabeln den Vorteil hat, dass einem deutschen Leser die damit einhergehenden Konnotationen nicht gleich einfallen. Das klingt sogar so ähnlich wie das seit Jahren abgedroschene Wort ‚Reliability‘ (auf Deutsch ‚Zuverlässigkeit‘), ist aber etwas ganz anderes.
Der CCC ‚fordert vermehrte Anstrengungen‘, von wem, das lässt er offen. Jähnichen reagiert darauf mit den üblichen recht harmlosen Appellen ans fachliche Gewissen und der Forderung nach besserer Schulung. Außerdem verlangt er, dass 

bei der Entwicklung neuer Software von Anfang an Zuverlässigkeit und Sicherheit höchste Priorität haben. 

So wie viele akademische Vorschläge greifen auch Jähnichens Ideen etwas zu kurz. Aus der zeitlichen Distanz von Jahrzehnten und frei von jeder geschäftlichen Verant­wortung will ich versuchen das Problem der Haftung so darzustellen, wie ich es sehe, und zwar aus einer etwas breiteren Perspektive. Da ich kein Lehrbuch schreiben will, muss ich mich auf einige wesentliche Aspekte beschränken.

Technische Seite des Problems

Die Entwicklungsphase ist zwar wichtig, ist aber nicht allein entscheidend. Natürlich muss man Software so konstruieren, dass die Anzahl und der Schwierigkeitsgrad von Fehlern möglichst reduziert werden. Formale Beweistechniken und eigenes Testen können dann helfen, wenn eine richtig definierte Aufgabe falsch gelöst wurde. Das betrifft vielleicht weniger als die Hälfte aller Fehler. Es deckt nicht die Fälle ab, dass die Aufgabe ineffizient gelöst wurde. Vor allem aber bleiben diese Methoden völlig außen vor, wenn die zu lösende Aufgabe falsch oder nicht haargenau definiert wurde. Typisch ist, dass von 20 möglichen oder nötigen Fallunterscheidungen zwei vergessen wurden. Nicht immer ist alles in der Natur eindeutig als Schwarz oder Weiß einzustufen. Es können Tausende von Grautönen und Millionen Farben dazwischen liegen, die separat behandelt werden müssen. Menschen sind zwar männlich oder weiblich. Den Familienstand festzulegen wird bereits erheblich schwieriger: Ledig, verheiratet, geschieden, verwitwet, in einer eingetragenen Partnerschaft lebend, usw. Alle neueren und pragmatischen Ansätze im Repertoire des Software Engineerings nehmen auch diesen Teil der Realität zur Kenntnis. Inspektionen und unabhängiges Testen sind entscheidend.

Nochmals mit andern Worten: Es reicht nicht aus, sicherzustellen, dass Software (nur) das tut, was man als Entwickler erwartet. Sie muss meistens erheblich mehr können. Viele Programme, die zuerst für einen bekannten Kreis von Kollegen geschrieben wurden, werden heute von Millionen Menschen auf der ganzen Welt täglich genutzt. Klassisches Beispiel ist das Internet.

Sehr wesentlich für die Lösung jeder Haftungsfrage ist die Zwischenphase zwischen Entwicklung und Nutzung. Jeder Programmierer, der Zugriff zu Code hat, also ihn unter die Tastatur bekommt, kann ihn modifizieren. Er kann z.B. bei jedem Aufruf des Betriebssystems eine Falltüre einbauen, die es ihm erlaubt, die Funktion des Programms zu verändern. Die penibelste und sachgerechteste Entwicklung nützt nichts, wenn das Programm anschließend auf dunklen Kanälen zum Nutzer gelangt. Besonders gefährlich ist es, wenn es zwischendurch dem Spieltrieb junger, unter­beschäftigter Genies ausgesetzt wird. 

Da die meisten Betriebssysteme allgemeine Vorkehrungen treffen, um diese Eingriffe zu verhindern, geht der übliche Weg heute über die nicht ordentlich behandelten Fehlersituationen, z.B. Pufferüberläufe. Bekanntlich stellt die Fehlerbehandlung gängiger Programme etwa 80% seines Codes dar und ist sehr oft unsauber strukturiert. Schließlich kann jemand die dem Nutzer zur Verfügung stehende Maschine verändern, sei es per Mikrocode oder per Hardware, mit dem Ziel, bestimmte Programme zu analysieren und zu modifizieren. Besonders leicht ist es, Programme zu verändern, wenn der Quellcode verfügbar ist. Dass dies auch möglich ist, wenn man vom Objektcode ausgehen muss, hat vor einigen Wochen der Chaos Computer Club am Beispiel des Staatstrojaners nachgewiesen. 

Geschäftliche Seite des Problems

Wie der von Kamp zitierte Ken Thompson demonstrierte, stoßen die technischen Möglichkeiten, vertrauenswürdige Programme zu erzeugen, generell an Grenzen. Selbst wenn man Software eher wie Hardware behandeln würde, also nur als Mikrocode oder ROM-Speicher verteilen würde, wäre das Problem nicht 100% gelöst. Es würde allerdings in sehr vielen Fällen ausreichen.

Deshalb scheint mir ein umfassender Ansatz zur Lösung primär im geschäftlichen Bereich zu liegen. Es geht darum, Vertrauensketten zwischen Lieferanten und Nutzern, also zwischen Menschen und Organisationen zu schaffen. Um diese aufzubauen, ist es wichtig, dass der Lieferant als Erstes offenlegt, welche Risiken er eingegangen ist. Er muss sagen, mit wem er zusammengearbeitet hat, und welchen Weg das Produkt genau genommen hat. Auch muss er angeben, wie er den Lieferweg laufend sichert, und zwar vor, während und nach der Entwicklung. Dass dies die Tendenz zu geschlossenen Systemen, also Systemen aus einer Hand, verstärkt, ist offensichtlich. Auch in diesem Punkte ging die Firma Apple beim iPhone und iPad bereits einen Schritt in die richtige Richtung. Sie überprüft selbst alle Anwendungen, die auf den Systemen installiert werden. Ihr Erfolg könnte die ganze Industrie bewegen, ebenfalls diesen Lösungsansatz ernst zu nehmen. Vielleicht erklärt dies auch etwas die Wut, die Steve Jobs empfand, wenn er auf den Android-Ansatz der Firma Google zu sprechen kam.

Rechtliche Seite des Problems

In Deutschland ist die Produkthaftung durch das Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) eindeutig geregelt. Es betont klar die Verantwortung des Herstellers.

Wird durch den Fehler eines Produkts jemand getötet, sein Körper oder seine Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so ist der Hersteller des Produkts verpflichtet, dem Geschädigten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen (§1, Absatz 1).

Ein Produkt hat einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere (a) seiner Darbietung, (b) des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, (c) des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde, berechtigterweise erwartet werden kann (§3, Absatz1).

Die Ersatzpflicht des Herstellers ist ausgeschlossen, wenn …der Fehler nach dem Stand der Wissenschaft und Technik in dem Zeitpunkt, in dem der Hersteller das Produkt in den Verkehr brachte, nicht erkannt werden konnte (§1, Absatz 2, Nr.5).

Die Produkthaftung gilt unabhängig vom Verschulden. Bekanntlich vermeidet die Software-Industrie daher, ihre Produkte als Produkte zu vermarkten. Sie werden vielmehr als Teil eines Dienstleistungsvertrags nur zur Nutzung überlassen. Alle Lizenzverträge, Eulas genannt, basieren rein auf der vertraglichen Haftung. In Deutschland kommt § 823 BGB zur Anwendung. Da haftet nur, 

wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt …

Das Risiko für den Lieferanten ist in diesem Falle um Größenordnungen geringer. Das beginnt damit, dass der Nutzer dem Lieferanten zuerst einmal schuldhaftes Verhalten nachweisen muss. Seit Anbeginn hat die Industrie ihre Haltung damit begründet, dass Software grundsätzlich nicht fehlerfrei entwickelt werden kann. Dies überfordere (immer noch) den Stand von Wissenschaft und Technik.

Wie kommen wir weiter?

Viele Kollegen werden sagen, warum soll man etwas ändern, wo doch der Markt täglich bestätigt, dass die augenblickliche Lösung befriedigend ist. Außerdem kann es sein, dass das Problem von alleine weggeht, d.h. dass es sich auswächst – wie man dies bei Kinderkrankheiten erleben kann. Gemeint ist, dass eingebettete Software bald zum bestimmenden Standard wird. Es gibt nämlich kaum noch ein technisches Produkt, das nicht unter der Haube von Software gesteuert ist. Das ist bei Haushaltsgeräten ebenso der Fall wie bei Gartengeräten und Spielzeugen, von Fahrzeugen und medizinischen Geräten ganz zu schweigen. Kein Lieferant denkt daran, hier getrennte Lizenzen (also Eulas) für den Software-Anteil des Gerätes zu drucken und dem Produkt beizulegen.

Für die heute mit Lizenzen überlassenen eigenständigen Software-Produkte sehe ich drei Wege, um Fortschritte zu erzielen. Das sind dieselben Wege, die bei andern heiklen Fragen immer wieder gegangen werden.
  • Weg 1: Jemand, der den Mut dazu hat, prescht vor. Er bietet Software als Produkt an. Dann müsste sich herausstellen, ob der Markt dies honoriert.
  • Weg 2: Die Branche als Ganzes geht eine Selbstverpflichtung ein. Dann übernehmen alle gleichzeitig dasselbe Risiko. Eine Übereinkunft zu treffen, ist allerdings zeitraubend.
  • Weg 3. Man wartet auf den Gesetzgeber. Das ist zwar die brutalste, und meist auch die teuerste Lösung. Ob und wann diese Möglichkeit überhaupt besteht, will ich nicht weiter diskutieren.
Unsere Branche sollte sich entscheiden, ob sie weiterhin einen großen Bogen um das Thema Produkthaftung machen will, oder ob man darin vielmehr eine Chance sieht, die man ergreifen möchte. Der Frage stellen müssen sich die wirtschaftlichen Akteure selbst. Das ist zweifellos besser, als wenn ihnen eine Antwort von außen aufgedrängt wird. Wegen der globalen Ausrichtung der Branche kann diese Frage nicht nur in Deutschland allein angegangen werden, sondern muss den Weltmarkt berücksichtigen. Analogien oder Situationen, wo ähnliche Alternativen bestanden, gab es Zuhauf. Erinnern möchte ich an Sicherheitsfragen im Automobilbau, an die Reduzierung von Umweltbelastungen, die Kontrolle von Lebensmitteln, und ganz zuletzt an die Frage, wie man erreichen kann, dass der Anteil von Frauen in der Unternehmensführung gesteigert werden kann. Die zusätzlichen Fragen, die sich die Software-Industrie stellen sollte, lauten: Zu welcher andern Situation bestehen Ähnlichkeiten und was lässt sich aus diesen andern Erfahrungen lernen?