Dienstag, 26. Februar 2013

Gaucks Europa-Rede ̶ und was nun?

Am 22.2.2013 hielt Bundespräsident Joachim Gauck eine Rede zum Thema Europa. Die Rede verdient es, dass auch nach acht Tagen noch über sie nachgedacht wird. Dass unsere aktiven Politiker primär ans Tagesgeschäft denken, ist notwendig und vollkommen richtig. Dafür sind sie gewählt. Die Position des Bundespräsidenten wurde deshalb von den Müttern und Väter unserer Verfassung geschaffen, damit auch jemand von Amtswegen über den Tag hinaus denkt. Nach einem relativ jungen und  ̶   wie sich herausstellte  ̶  etwas unreifen Amtsinhaber haben wir jetzt wieder eine Persönlichkeit von Format. Erinnerungen an Theodor Heuss, Gustav Heinemann und Roman Herzog werden wach.

Stärken der Rede

Mehr Europa! Das sagt auch die Kanzlerin. Das sagte auch Joschka Fischer. Gauck war aufgefallen, dass Bürger mit diesen zwei Worten nichts anfangen können. Ja, es löst eher Angst als Zuversicht aus. Gauck will zum Denken anregen. Er stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Er fragt sich (und damit uns), was im Augenblick eigentlich passiert. Wer etwas Erfahrung im Leben hat, weiß, dass so Freundschaften und Ehen entzweizugehen pflegen. Mit der Weisheit und Radikalität des Alters nennt Gauck die Dinge beim Namen.

Wir tun Dinge, die wir eigentlich nicht für möglich gehalten haben. Wir beschimpfen uns gegenseitig als Faulenzer, Betrüger oder Nazis. Wir tun dies nicht hinter verschlossenen Türen, sondern vor der Weltöffentlichkeit. Der Höflichkeit halber unterschlägt Gauck, dass der englische Premier Cameron und sein Europa-Abgeordneter Nigel Farage bereits die Scheidung verlangen. Wir alle fassen uns an den Kopf und fragen, was in die beiden gefahren ist. Nur Daniel Cohn-Bendit, ein früherer Straßen-Revoluzzer, traut sich Paroli zu bieten. Ausgerechnet er scheint Europas letzter Verteidiger zu sein. Statt zu kritisieren macht Gauck den Engländern Komplimente. Wir Deutschen würden ihre Nüchternheit und ihren Mut schätzen. Wir möchten von ihnen als gestandene Demokraten lernen. Er lässt einige Dinge aus, die Engländer selbst für wichtig halten, z.B. ihre Finanzschläue und ihre Seestreitkräfte.

Gauck legt auch den Finger auf die schmerzlichste Wunde, nämlich dass wir uns nur noch ärgern, wenn wir an Europa denken. Deutschlands Politiker tun, was sie für richtig und sinnvoll halten. Sie stellen Milliarden bereit. Das wird von anderen nicht verstanden, geschweige denn honoriert. Im normalen Leben wäre die Reaktion, dass man solche Leute fortan ignoriert.  

Wir brauchen eine europäische Öffentlichkeit, – meint Gauck  ̶  und zwar nicht nur bei nächtlichen Eurokrisen-Sitzungen und Fußball-Abenden. Die Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen, ruft er auf, eine Agora zu schaffen. Wem griechische Vokabeln nicht geläufig sind, erklärt er an einem Beispiel, was er meint. Wir bräuchten Arte-Sendungen nicht nur mit Paris, sondern auch mit London, Madrid, Rom und Warschau. Leider ist das die einzige konkrete Zielsetzung, die Gauck einfällt. Zum Schluss steigert sich Gauck geradezu in rhetorische Fanfaren. ‚Mehr Europa fordert: mehr Mut bei allen! Europa braucht jetzt nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker, nicht Getriebene, sondern Gestalter.‘ Die Frage ist, wo diese sich bisher versteckt hielten. Oder kann es sein, dass es diese gar nicht (mehr) gibt?

Schwächen der Rede

In pastoraler Weise appelliert Gauck an die europäische Wertegemeinschaft und nimmt Bezug auf einen mysteriösen Wertekanon. Gaucks Versuch, diesen Kanon in der Historie zu lokalisieren, geht natürlich daneben. Es gibt ihn nämlich nicht. Keine der prägenden Gestalten kontinental-europäischer Geschichte hat sich 'für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität' stark gemacht. Das gilt für Ludwig XIV. genauso wie für die Napoléons, für Friedrich den Großen wie für Bismarck und Hitler, aber auch für Franco, Mussolini, Tito und Stalin. Selbst der Urvater Europas, Karl der Große, passt nicht in das gesuchte Schema. Die Revolution von 1848 oder die Weimarer Republik wurden erst nachträglich als für die Demokratie-Geschichte wichtig gewürdigt. Zeitgenossen waren noch sehr geteilter Meinung. Warum sagt Gauck nicht, dass wir die Demokratie zweimal importiert haben, oder dass wir sie dem Kalten Krieg verdanken? Zu sagen, dass wir sie den Angelsachsen und vor allem den Amerikanern verdanken, ist ihm vielleicht zu gefährlich.

Gauck meinte, dass ‚die innereuropäische Solidarität sogar noch wachsen [muss], um längerfristig die großen Ungleichheiten auf dem Kontinenten zu verringern und Lebensverhältnisse zu schaffen, die Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive bieten.‘  Das hätte er sich sparen sollen. Das wollen die Bürger nämlich nicht, da es unrealistisch ist, Bulgarien auf das Niveau von Luxemburg zu bringen. Wie ich in einem früheren Blog-Beitrag erklärte, liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) beider Länder um den Faktor 17-18 auseinander.

Es ist auch nicht gut, Drohungen auszusprechen in der Form, dass wir alle Englisch lernen müssen, oder Französisch oder gar Ungarisch. Realistischer ist es, darauf hinzuweisen, dass wer Geschäfte mit Ausländern machen möchte, besser eine Sprache lernt, die dieser versteht. Das gilt auch, wenn man gerne deutsche Touristen in seinem Hause oder Hotel haben will. Auch die Wortspielerei ’wir wollen kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland‘ wurde von anderen Kommentatoren als wenig hilfreich kritisiert.

Nur wenn beide, Politiker und Bürger, sich eindeutig zum Subsidiaritätsprinzip bekennen, hat Europa eine Chance. Leider ist es nicht leicht zu implementieren. Es heißt, dass den Ländern und Regionen absolut nichts von ihrer Souveränität weggenommen wird. Bayern bleiben Bayern, Katalanen bleiben Katalanen. Nur wenn Brüssel mehr für Bayern und Katalanen tun kann, als Berlin und Madrid, soll Brüssel die Verantwortung übertragen bekommen. Dann wird Berlin und Madrid übergangen. Vor allem sollten Berlin und Madrid den Bayern und Katalanen nicht vorschreiben, was sie in dieser Hinsicht tun dürfen.

Europa verbessert unsere Chancen mit den USA und China und andern Ländern gute Verträge auszuhandeln. Gauck sollte den Politikern sagen, dass die Einigung Europas nicht gegen die USA oder gegen China gerichtet sein muss. Man soll Partnerschaften anstreben, da wo es geht. Ein Elefant wie China ist eher bereit einem andern Elefanten eine Partnerschaft anzubieten als einer Maus, z.B. Luxemburg oder Malta. Es ist auch nicht unbedingt nötig, dass Dirk Niebel eigene Entwicklungspolitik betreibt, und Guido Westerwelle alle Konsulate retten muss, zumal Lady Ashton bereits über 7000 Beamte in aller Welt verfügt. Gauck sollte nicht nur die Bürger zum Umdenken anhalten, auch bei Politikern scheint dies manchmal nötig zu sein.

Gewünschte Wirkungen

Es ist immer sinnvoller nach vorne zu blicken als zurück. Ein Mann wie Gauck sollte nicht in der Geschichte nach Antworten suchen, die es dort nicht gibt. Er sollte nicht nach einem Europa-Narrativ suchen, das bestenfalls ein phantasievolles Märchen sein kann, mit dubiosen Wurzeln und fraglicher Wirkung. Europas Kultur ist weder einmalig noch überlegen. Ägypten, China, Indien und Persien haben ältere Kulturen.

Er sollte sagen, wohin nach seiner Meinung die Entwicklung geht. Er muss den Mut haben, uns zu sagen, was uns bevorsteht, auch dass die Zukunft nicht alternativlos ist. Aber was sind die Alternativen? Wir sollten sie bewusst auswählen. Wir können und müssen die Zukunft gestalten.

Zu wünschen wäre, dass die Gestaltung der Zukunft Europas von einer Volksbewegung (einer oder mehreren NGOs) begleitet wird. Das Anliegen ist zu wichtig, um es Politikern zu überlassen. Wir sollten versuchen von mehrsprachigen Ländern zu lernen. Da gibt es Erfolge wie im Falle der Schweiz. Es gibt auch Fehlschläge wie im Falle Belgiens. Wir sollten aufmerksam verfolgen, wie große Einwanderungsstaaten (England, Kanada) mit ihren Problemen fertig werden. Die USA sind gerade in Schwierigkeiten, da sie sich wirtschaftlich und militärisch überhoben haben, aber gesellschaftlich zerfallen.

Statt Bürokraten zu überfordern, die in der Subventionierung der Landwirtschaft, der Standardisierung von Produkten oder der Vergabe von Forschungsmitteln ihr Bestes tun, sollte man nach einfachen Erfolgen suchen. Für mich ist Schwäbisch Hall ein solches Beispiel. Sieben Journalisten aus Sevilla besuchten die schwäbische Kleinstadt. Eine Woche darauf gingen bei der örtlichen Arbeitsagentur 13.000 Bewerbungen aus Spanien und Portugal ein. Es waren Ingenieure, Bauarbeiter und Krankenschwestern dabei, die vorher monatelang ohne Arbeit gewesen waren.

Wie viele Tausend Polinnen arbeiten in deutschen Haushalten? Sie nehmen Berufstätigen die Pflege ihrer Angehörigen ab. Ihre Flexibilität und Mobilität ist den deutschen Politikern nicht ganz geheuer. Deshalb werden sie ignoriert und in die Illegalität abgeschoben. Manchmal wächst Europa schneller zusammen als erlaubt.

Auf meinem Fachgebiet bringt eine Organisation mit dem Namen Infomatics Europe die Dekane europäischer Informatik-Fakultäten zusammen. Letztes Jahr sprachen sie über die Vergleichbarkeit der Promotionsleistungen. Vielleicht wurde auch über nicht-besetzte Lehrstühle gesprochen. Mir fällt nach Albert von Lauingen (ϯ1280) kein deutscher Professor an der Sorbonne ein. In den USA kenne ich mehrere.

Ob sie es glauben oder nicht: Es ist möglich, spürbare Vorteile eines vereinten Europas aufzuzeigen, ohne dass dafür sehr viel Geld ‚in die Hand genommen‘ werden muss. Das hat anscheinend noch niemand dem Bundespräsidenten gesagt. Ich bin sicher, er würde sich freuen.

Nachtrag: Übrigens hatte ich meine Ideen bezüglich realistischer Ziele für Europa in einem Beitrag im letzten August bereits aufgeschrienen.

Donnerstag, 21. Februar 2013

Freuden des Bloggens und des Blog-Lesens

Nicht versäumen möchte ich es, den 40000. Besucher dieses Blogs zu begrüßen. Morgen oder übermorgen ist es soweit. Das Bild einer Kleinstadt, das ein Kollege benutzte, um diese Menge von Menschen zu charakterisieren, ist nur zum Teil richtig. Eine Kleinstadt mit deutsch-sprechenden Menschen aus über 50 Ländern der Erde, gibt es (noch) nicht sehr häufig in der Realität, sondern nur virtuell. Ich möchte das Ereignis verbinden mit einigen Gedanken zum Bloggen generell und dem Hinweis auf zwei besonders interessante Blogs.

Bloggen ist wie Briefe schreiben. Man denkt an ganz bestimmte Leute, hoffend, dass sie auch dieses Mal den Beitrag lesen. Man braucht den gedachten Empfänger nicht zu nennen. Mal sind es meine Freunde, mal meine Verwandten – und da besonders meine Enkel  ̶ , mal meine Kollegen, mit denen ich in Abwesenheit diskutiere. Ich muss mir dabei jedoch Positionen und Formulierungen überlegen, mit denen ich nicht allzu sehr anecke. Sie dürfen scharf und extrem sein, aber nicht angreifbar. Ich will auch niemanden beleidigen. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht. Ich hoffe es.

Die Themen wähle ich meist selbst, beachtend was gerade im Schwange ist. Am Anfang hatte ich mir eine Liste von Themen überlegt, die ich abarbeiten wollte. Die Liste gibt es immer noch. Sie ist kaum kürzer geworden. So viele Themen kamen auf, an die ich vorher nicht gedacht hatte. Sehr viel hängt davon ab, was ich lese oder höre. Das Fernsehen spielt Themen hoch, aber auch die Magazine und Zeitungen. Typisch ist, dass ich kaum ein Buch lese, – und ich lese ziemlich viele   ̶  ohne mir eigene Gedanken zu dem Gelesenen zu machen. Innerhalb von Tagen fasse ich meine Gedanken zusammen und übergebe sie dem Netz. Ich sage bewusst Tage, da ich mir angewöhnt habe, einen Text zu überschlafen, ehe ich ihn loslasse. Wie ich anlässlich des letzten Halbjahresrückblicks schrieb, werden die Vorteile des Dialogs zwar erkannt, aber noch in sehr bescheidenem Umfang genutzt. 

Als Blogger wendet man seine Arbeitsenergie und sein gedankliches Interesse sehr stark auf das, was man selbst produziert. Trotzdem lese ich gerne, was andere Blogger schreiben. Man erhält Anregungen, sei es zum Inhalt, sei es zum Stil. Zuletzt habe ich über Blogger, die ich verfolge, vor über zwei Jahren berichtet. Ich bezeichnete mich damals noch selbst als Blog-Banause. Dass ich nicht öfter über andere Blogs berichtete, dafür möchte ich mich entschuldigen.

Auf zwei Blogger, die mir persönlich und fachlich nahe stehen, möchte ich heute eingehen. Mit beiden verbinde ich interessante Erlebnisse, die haften blieben. Auf diese einzugehen, würde hier zu weit führen. Beide Kollegen haben sich als Blogger sehr hervorgetan. Sie schreiben regelmäßig und sind lesenswert. Ihre Texte sind allerdings in Englisch. Bei keinem kenne ich die Leserzahlen.

Von der Art der Themen kommt mir mein früherer Kollege Irving Wladawski-Berger am nächsten. Er ist im Ruhestand und lebt in der Gegend von New York. Wir kennen uns seit etwa 50 Jahren. Er war immer kontaktfreudig und vielseitig interessiert. Er ist in Cuba geboren, aber in Chicago aufgewachsen. Er ist promovierter Physiker, machte aber seine Laufbahn als Software-Experte. Er schrieb seit sieben Jahren einen Blog. Der jetzige besteht seit etwa zwei Jahren und hat etwa 50 Beiträge. Seine Themen umfassen politische, gesellschaftliche und fachliche Fragen.

Diese Woche befasst er sich mit drei Trends, die immer wieder in Studien über die Zukunft erscheinen: 
  • Notwendigkeit des lebenslangen Lernens zwecks Anpassung an die sich rasch entwickelnden Technologien und sich schnell verändernden Arbeitsmärkte; 
  • Auswirkungen der Globalisierung, die auch in Schwellenländern und Entwicklungsländern zur Anhebung  des Lebensstandards führen, und die 
  • Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung und die Sozialprogramme, die durch die Überalterung der Bevölkerung auf der ganzen Welt gestellt werden.
Eine Woche davor betrachtete er die Komplexität und Robustheit von biologischen und technischen Systemen. Als Titel benutzte er das Nietzsche-Zitat ‚Was mich nicht umbringt, macht mich stärker‘ aus der Götzendämmerung. In früheren Beiträgen reflektierte er auch über die Flucht der Eltern vor Castro und die Jahre in Chicago.

Ein anderer Kollege ist Bertrand Meyer, derzeit Professor an der ETH Zürich. Er ist noch beruflich aktiv. Obwohl aus Paris stammend, ist er Kosmopolit. Er ist fachlich sehr engagiert. Er besitzt eine Firma in Santa Barbara in Kalifornien, die sich um die von ihm entwickelte Programmiersprache Eiffel kümmert und die Software pflegt und vertreibt, die um Eiffel herum entstanden ist. Wir kennen uns mindestens seit 20 Jahren. Meyer hat mehrere Blogs. In diesem greift er fast ausschließlich fachliche Fragen auf, speziell aus den Bereichen Programmiersprachen und Software Engineering. Der Blog hat ebenfalls etwa 50 Einträge.



Das Thema seines aktuellen Beitrags ist die Rolle der verschiedenen Formen von Fachveröffentlichungen. Statt vieler Worte, benutze ich seine Skizze, die allein betrachtet, schon das meiste erklärt. Er beteiligt sich sehr aktiv an der auch von ACM aufgeworfenen Frage, warum Informatiker kaum in Fachjournalen veröffentlichen. In einem Beitrag vor einiger Zeit schrieb er über den Begutachtungsprozess von Fachzeitschriften. Er hält das, was da abläuft, nicht immer für sachgerecht und fair.

Wer einen Bezug zur Informatik hat, sei es fachlich oder wissenschaftspolitisch, kann von Meyers Blog profitieren. Wladawsky-Bergers Blog geht weit über die Informatik hinaus.

Montag, 18. Februar 2013

‚Big Business‘ oder ‚Big Government‘ ̶ wer hilft wem?

Fast gehört es zum guten Ton, dass Großunternehmen verteufelt werden. Mit Plakaten und Schimpftiraden kämpfen Demonstranten und Wahlredner gegen die Multis. Der englische Begriff des ‚big business‘ muss dann als Schlagstock dienen. Gern wird dabei suggeriert, dass Industrie und Regierende unter einer Decke stecken würden, um gemeinsam den Bürger übers Ohr zu hauen.

Diese Woche sah ich bei Arte den Film The Brussels Business. Er versuchte klar zu machen, wie sehr europäische Regierungen – und nicht nur die Brüsseler Kommission – von der Wirtschaft manipuliert werden. Er weckte Zweifel daran, ob die Regierenden sich überhaupt von ihrem Volk, dem so genannten Souverän, leiten lassen. Stattdessen wird suggeriert, dass auch in Europa das Prinzip herrsche ‚Ein Euro, eine Stimme‘. Dass es in den USA so ist, wird als erwiesen vorausgesetzt. In dem Film wird der European Round Table (ERT) ausführlich vorgestellt. Es ist ein auf Betreiben von Philips zustanden gekommener Arbeitskreis, in dem Spitzenvertreter großer europäischer Unternehmen sich treffen, um anstehende politische Entscheidungen zu diskutieren und ggf. Interventionen einzuleiten. Nicht nur der Name erinnert an König Arthur und seine Tafelrunde. Wurden bisher primär Dissertationen prominenter Politiker nach Plagiaten untersucht, will man jetzt die Beschlüsse der Brüsseler Institutionen analysieren, um festzustellen, wie sie Texte dieses Gremiums wiederspiegeln. Diese Art von Diskussionen bewegen mich dazu, etwas über die Beziehungen von Wirtschaft und Politik zu reflektieren.

Große oder kleine Unternehmen

Die Größe eines Unternehmens lässt sich an ihrem jährlichen Umsatz oder ihrer Mitarbeiterzahl feststellen. Die Grenze zwischen mittleren Unternehmen einerseits und Großbetrieben andererseits sehe ich etwa bei 10 Mrd. Euro und 10.000 Mitarbeitern. In offiziellen Definitionen von Klein- und Mittelunternehmen (KMUs) wird die Grenze um einen Faktor 10 oder 20 niedriger gezogen, je nach Zweck der Darstellung. Für eine allgemeine, in der Tendenz positive Bewertung von Großunternehmen verweise ich auf einen für den Schulgebrauch bestimmten Text des Bankenverbandes:

So sehr der Mittelstand das deutsche Wirtschaftsmodell prägt – ohne Großunternehmen kommt eine moderne Volkswirtschaft nicht aus. Sie sind imstande, beträchtliche Beträge in Forschung und Entwicklung zu investieren, die Vorteile der Massenproduktion auszuschöpfen und damit nicht nur in Nischen, sondern auch auf den großen Märkten mit den Anbietern anderer Länder erfolgreich zu konkurrieren. 

Im engeren Sinne versteht man unter ‚big business‘ die wenigen Großunternehmen (und evtl. damit verwandte Wirtschaftsverbände), die über beträchtlichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Einfluss verfügen. In Deutschland würde man Allianz, BASF, Daimler, SAP und Siemens dazurechnen. In den USA sind es wesentlich mehr Unternehmen. Aus der Informatik-Branche würden Apple, Google, Intel, Microsoft und IBM mitgezählt. (Nur als Randbemerkung: Sieben der erwähnten zehn Unternehmen gehören zu den beliebtesten Arbeitgebern deutscher Informatik-Studenten). 



Dass die Zahlen nach oben hin sehr schwanken, zeigt die Zusammenfassung der Daten von fünf Unternehmen, die in diesem Blog vorgestellt wurden. Denkt man an die Beträge, die zurzeit von Staaten als Schulden vor sich her geschoben werden, sind das recht bescheidene Summen. 

Meine berufliche Erfahrung bezieht sich – das muss ich eingestehen  ̶  primär auf ein international tätiges Großunternehmen. Ich kann die obige Aussage insofern bestätigen, als wir mit Problemen und Erwartungen von Kunden in allen Erdteilen konfrontiert wurden. Wir mussten Lösungen suchen, die überall installierbar waren, sowohl in Chicago, wie in Nagasaki oder in der argentinischen Pampa. Bei unsern Lösungen konnten Ideen von Kollegen aus Kalifornien, Frankreich oder Schweden einfließen. Der Hauptnachteil war, dass wir Zeit benötigten für die Abstimmung. Auch konnten wir Sonderwünsche von Kunden in Emden oder in Dinkelsbühl nur schlecht erfüllen.

Der Skaleneffekt, der sich durch die Massenproduktion ergibt, verliert zunehmend an Bedeutung. Einerseits tritt die Fertigung mechanischer Geräte in den Hintergrund, andererseits gestattet die Informatik die individualisierte Massenfertigung (engl. Mass Customization). Stattdessen ziehen Weltunternehmen in anderer Form Nutzen aus der Globalisierung. Sie können Umsatzschwankungen ausgleichen, wenn der Markt regionalen Schwankungen unterliegt. So profitiert die deutsche Automobilindustrie gerade von einem Boom in Asien, während Franzosen und Italiener sehr unter der europäischen Krise leiden, da sie die Ausweitung nicht betrieben haben. 

Neben der Ausdehnung des Geschäfts erlaubt die Internationalisierung einen Zugriff auf einen größeren Markt an Arbeitskräften. Sind es im Falle Chinas hauptsächlich billige Fertigungskapazitäten, die attraktiv sind, liefern andere Länder vor allem Entwicklungskapazität. Alle großen Unternehmen der Informatik-Branche nutzen dies aus. Die Labors von IBM, Microsoft, SAP und anderen (ursprünglich) westlichen Unternehmen in Indien, China, Russland, Israel und Brasilien sind nicht mehr wegzudenken. Vor allem das Aufkommen an Erfindungen und Patenten aus diesen Ländern übertrifft teilweise bereits die Heimatländer.

In fast allen Branchen fand als Teil eines Reifeprozesses eine Konsolidierung statt. Es gibt kaum eine Branche, in der es heute noch so viele Unternehmen gibt, wie in ihrer Frühphase. Das gilt für den Landmaschinen- und den Automobilbau wie für die Chemie und die Pharmazie. Jetzt verdrängt gerade Amazon den Buchhandel, Apple die Telefonläden und Starbucks die Kaffee-Häuser. Einige internationale Konzerne provozierten Widerstand, wenn sie die Belange der von ihnen beschäftigten Menschen missachteten, oder sich über lokale Gewohnheiten hinwegsetzten. Aktuelle Beispiele sind die Arbeitsbedingungen in Apples Produktionsstätten in China oder die Anwerbung von Ausländern für Amazons Weihnachtsgeschäft in Deutschland.

Es wird kritisiert, dass große Unternehmen bevorzugt behandelt werden, wenn sie in Not geraten. Das Prädikat ‘too big to fail‘ gibt es nicht nur bei Investment-Banken. Gemeint ist, dass der Staat sich verschuldet, um Firmen zu retten. Das begann in Deutschland mit der Baufirma Holzmann, und setzt sich fort bei der Commerzbank und der Hypo Real Estate. Es wird diskutiert, dass man dafür sorgen muss, dass kein Unternehmen zu groß wird, um ohne Erschütterung für die Branche oder den Standort in Konkurs gehen zu können. Dann sind die Fragen zu beantworten, was diese Größe ist und was eine optimale Mischung zwischen großen und kleinen Unternehmen ist.

Dem demokratischen Ideal einer Vielfalt der Meinungen scheinen besser Kleinunternehmen zu entsprechen. Deutschland hat im Vergleich zu den USA nur relativ wenige Großunternehmen. Dafür sind wir mit Recht stolz auf unsern Mittelstand. Nach Angaben des Bundesverbandes der Industrie (BDI) sind von den etwa 3,4 Mio. Unternehmen insgesamt 99,6 Prozent den KMUs zuzurechnen. Sie sorgen für ungefähr 60 Prozent der Arbeitsplätze und etwa 40 Prozent aller Umsätze. Auch deutsche KMUs haben sich sehr stark international orientiert. Sie engagieren sich im Export, sowie in Kooperationen und Direktinvestitionen. In den USA und vor allem in Japan beschränken sich Kleinunternehmen sehr auf die Funktion eines Zulieferers für Großfirmen. Auch jedes Großunternehmen hat als KMU begonnen. In den USA schaffen Neugründungen den Weg zur Weltspitze oft innerhalb nur einer Dekade. Die SAP brauchte gut 20 Jahre.

Starker oder schwacher Staat

Oft wird als Gegenmittel vorgeschlagen, den Regierenden endlich mehr Macht zu geben, damit sie in der Lage sind, den ‚bösen‘ Unternehmen Paroli zu bieten. Dieser Vorschlag führt wieder in eine politische Diskussion, an der sich Liberale und Sozialisten seit Langem festkrallen. In Deutschland entspricht dies den Positionen der FDP bzw. SPD. In der CDU/CSU geht die Trennungslinie mitten durch die Partei.

Wenn das Schlagwort vom ,big government‘ verwendet wird, drückt man wiederum einen Extremfall aus. Es ist ein typischer Begriff aus dem Vokabular der Liberalen. Gemeint ist damit das Gegenteil eines Laissez-Faire-Staates. Das ist nicht dasselbe wie eine bürgernahe Verwaltung, wird aber oft gleichgesetzt. Jedenfalls ist es eine ineffiziente, sich selbst nur dienende Exekutive ohne effektive Kontrolle durch die Legislative. Es ist ein bürokratisches Monster, überladen mit unnötigen Aufgaben. Ein typischer Fall ist, dass Dinge zentralisiert sind, die in einem föderalen System auch von Ländern oder Kommunen erledigt werden könnten. Aufgeblähte Verwaltungen gibt es allerdings nicht nur in sozialistischen Ländern.

Die Haltung eines Liberalen, der für einen schwachen Staat plädierte, drückte Ronald Reagan aus, indem er sagte: Der schlimmste Satz im politischen Leben lautet ‘Ich komme von der Regierung und möchte helfen‘. Jedem, der sein eigener Herr bleiben möchte, muss dies verdächtig vorkommen. Entweder befindet man sich in einer Notlage (vielleicht ohne es zu wissen) oder der Staat hat Hintergedanken. Er will Dinge erfahren, die ihn nichts angehen. Amerikaner und Angelsachsen haben in dieser Hinsicht eine andere Tradition als die Kontinental-Europäer. Sie haben Ländern entweder als Auswanderer den Rücken gekehrt oder gegen sie Krieg geführt, die noch bis vor kurzem fest im Griff von Monarchen oder Diktaturen waren. Zur Erinnerung: Deutschland, Frankreich und Italien bis 1945, Spanien und Griechenland bis 1974/75, und ganz Osteuropa bis 1990. Man vermutet bei ihnen immer noch Nachholbedarf in Sachen demokratischer Reife.

Obwohl nach Reagan und Thatcher der Liberalismus auch in Kontinental-Europa Hochkonjunktur hatte, ist er inzwischen in Misskredit geraten. Immer mehr Leute fordern mehr Kontrolle durch den Staat oder  ̶  einfacher ausgedrückt  ̶  mehr Staat. Jeder kleine Skandal führt zu einem neuen Aufschrei. Diese Woche war es das Pferdefleisch in Lasagne, vor dem uns der Staat schützen soll. Auch die lange Kette von Privatisierungen, die mit  VW und Telekom begonnen hatte, scheint am Ende zu sein. Der Fall der Bahn scheint ad acta gelegt zu sein.

Einfluss der Unternehmen auf den Staat

Neben der Bedrohung für lokale KMUs wird vor allem der Einfluss auf den Staat kritisiert, der von Großunternehmen ausgeht. Auch das erfordert eine differenzierende Betrachtung. Die Interessen eines Weltunternehmens richten sich darauf, die Möglichkeiten, die ein Land bietet zu seinem Nutzen auszunützen. Es ist daher bestrebt, sich wie ein guter Bürger zu verhalten. Je größer ein Unternehmen und je kleiner ein Land ist, umso eher können aus der Tätigkeit des Unternehmens Probleme für das Land entstehen. Das Schimpfwort der Bananen-Republiken für einige mittelamerikanische Staaten reflektiert dieses Verhältnis. Statt einem Nahrungsmittel-Konzern wie United Fruit kann auch ein Öl- oder Bergbaukonzern eine Abhängigkeit schaffen. Sie ist meist nicht nur finanzieller Art, also im Staatshaushalt sichtbar, sondern umfasst sehr leicht auch andere Bereiche. Das beginnt mit der Infrastruktur (Straßenbau, Telekommunikation), kann aber auch personelle Beziehungen einschließen.

Ganz aktuell sind die Steuergeschenke, mit denen überall auf der Welt Staaten versuchen, Entscheidungen der Unternehmen zu beeinflussen. Das Schlagwort vom Steuerdumping macht die Runde. Was bei Privatpersonen meistens als Delikt verfolgt wird, gehört bei internationalen Unternehmen zum Alltagsgeschäft. Sie versuchen Unterschiede in Vorteile umzuwandeln, zu optimieren. Fertigungsstätten für Europa wandern nach Irland oder in die Slowakei, nicht weil dort die Löhne am niedrigsten sind bzw. waren, sondern die Steuern. Immer mehr Unternehmen verlegen ihren Firmensitz nach Monaco, Lichtenstein oder Luxemburg, um Gewinne da zu versteuern, wo sie am meisten Geld sparen. Einige Finanzminister der G20-Staaten, die unter diesen Abwanderungen leiden, überlegen sich, wie sie Hürden aufbauen können.

Manche Staaten  ̶  und nicht nur kleine oder schwache  ̶   kooperieren offen mit internationalen Unternehmen, ohne sich diesen zu unterwerfen. Das gilt auch für Staatenverbünde wie die Europäische Union. Politik und Verwaltung machen sich deren Kompetenz in Fachfragen der verschiedensten Art zu Nutze. Großunternehmen sind nicht nur eher in der Lage als KMUs, Aufgaben dieser Art wahrzunehmen, die über den primären Unternehmenszweck hinausgehen. Sie sind auch oft bereitwilliger. Politiker müssen sich fragen, wieweit es sinnvoll ist, dass der Staat all die Kompetenzen noch einmal aufbaut, die in der Wirtschaft vorhanden sind. Wer dies glaubt, für den gibt es nur den Weg in Richtung ‚big government‘. Wenn man die Wahl hat, sollte man das Kleinere von zwei Übeln wählen. ‚Big business‘ sollte in meinen Augen durchaus eine Chance behalten und seine Rolle wahrnehmen. 

Dienstag, 12. Februar 2013

Ein Papst tritt zurück ‒ die vorläufigen Nachrufe

Mitten in die Übertragung des Mainzer Rosenmontagszugs platzte gestern die Nachricht, dass Papst Benedikt XVI. am 28. Februar um 20 Uhr zurücktreten würde. Die Nachricht wurde stündlich wiederholt. Die Netzmedien hatten sie natürlich auch. Bald erschienen auch Stellungnahmen von Politikern und andern Personen, die sich dazu berufen fühlten. Einige Kommentatoren verhielten sich ‚politisch korrekt‘ nach der alten römischen Maxime ‚de mortuis nil nisi bene‘. Auf Deutsch heißt das, dass man von Toten nur redet, wenn man etwas Gutes zu sagen hat. Josef Ratzinger ist noch nicht tot. Er wird nur von seinem Amt zurücktreten. 

Für einen offiziellen Nachruf ist es daher eigentlich noch zu früh. Bei den Kommentaren kann man unterscheiden zwischen solchen, die primär das Ereignis betrafen und solchen, die sich vor allem auf die Person Ratzingers bezogen. Ohne die Quellen sauber zu benennen, gehe ich auf einige der gestern gelesenen Äußerungen ein. Ich biete Ihnen meine Interpretation an. Zu der ersten Gruppe gehören die Fragen, darf ein Papst eigentlich zurücktreten, was könnten die nicht-genannten Gründe sein, welchen Effekt hat der Rücktritt und wie geht es weiter? 

Nach meiner Meinung will Ratzinger mit seinem Rücktritt sagen, dass die Institution, die er vertritt, wichtiger ist als ein einzelnes Mitglied. Es ist dieselbe Logik wie bei Annette Schavan. Wenn derjenige, der eine Führungsverantwortung hat, nicht in der Lage ist, diese wahrzunehmen, leidet die Institution. Josef Ratzinger sah sich nicht als herausgehobene Verkörperung der Kirche, sondern als ein Arbeiter im Weinberg Gottes (ital. lavoratore nella vigna). Sein Vorgänger, der Pole Woyzeck, sah dies anders. Er wollte zeigen, dass Siechtum etwas Natürliches ist, das man tolerieren muss. Selbst ein Papst darf altersschwach werden. Natürlich weiß Ratzinger, dass nicht alle Aufgaben seiner Amtszeit erledigt sind, ja, dass er nie in der Lage sein wird, alle zu erledigen. Damit die Institution Kirche weiterkommt, muss jemand anders diese Aufgaben lösen. Er sieht sich nicht als unabkömmlich an, sondern als ersetzbar. Er hat sich auch wegen des Rücktritts keine großen Vorwürfe zu machen. Er ist der festen Meinung, dass er nicht der letzte Papst war. Die Kirche wird auch nach seinen Tod bestehen und eine Aufgabe zu erfüllen haben.

Dabei sind wir beim zweiten Themenkreis. War Benedikt XVI. ein großer Papst? Wie wird ihn die Geschichte beurteilen? Kein Journalist vermied es, diese Frage zu stellen, obwohl sie wissen mussten, dass vernünftige Leute ihnen darauf keine Antwort geben würden. Einige taten es dennoch. Andere kommentierten ungefragt. Ein ‒ besonders unhöflicher deutscher Politiker ‒ sagte bereits innerhalb der ersten Stunde, dass die acht Jahre dieses Pontifikats eine ‚verlorene Zeit‘ waren. Andere drückten sich höflicher aus. Ratzinger sei ein großer Denker, ein philosophisch geschulter Gelehrter gewesen. An dieser Aussage ist das am interessantesten, was weggelassen wurde. Er war kein guter Hirte, kein Versöhner, kein Reformer, kein Politgenie, usw. Er sei viel zu sehr Wissenschaftler gewesen. Auch im September 2011 bei seiner Rede vor dem deutschen Bundestag versuchte er es mit Hilfe wissenschaftlicher Betrachtungen bei den Abgeordneten Gehör zu finden.

Ohne auch nur annähernd die Gedankenwelt Ratzingers erklären zu wollen, habe ich den Eindruck, dass er ein vehementer Verfechter der Aufklärung ist. Die Vernunft sei die Fähigkeit, die den Menschen auszeichnet. Die Kirche als Institution beziehe ihre Kraft und ihre Macht aus dieser Idee. Diese Richtung bekam sie durch die  Absorption der griechischen Philosophie. Scholastik hieß diese Phase der Kirchengeschichte. Thomas von Aquin und der Schwabe Albert von Lauingen (auch der Große oder der Deutsche genannt) waren ihre Lehrer. Vernunft ist etwas, das an Göttliches erinnert. Wie Papst Benedikt 2006 bei seiner Regensburger Rede – die ihm viel Ärger einbrachte ‒ zu erklären versuchte, suchte er diese Idee im Islam vergebens. Durch die Person Jesu erhielten Liebe oder Mitgefühl (lat. caritas) denselben Stellenwert. Er sieht in der Kirche eine Art von Gegenmacht gegen Wirtschaft, Unterhaltung und Politik. Wie sehr die drei miteinander verquickt  sein können, wurde ihm in Italien von höchsten politischen Verantwortungsträgern vorgeführt. Sein Vorgänger Johannes Paul II hatte sich vorher quasi als Einmann-Bollwerk gegen Bolschewismus und Materialismus profiliert.

Es ist sehr aufschlussreich, wenn Leute ‒ gefragt oder ungefragt ‒ sagen, was sie von dem Nachfolger auf dem Stuhl Petri erwarten. Zwei Antworten wiederholten sich gestern. Er muss die Kurie reformieren und sich der Moderne gegenüber öffnen. Bei beidem kommen mir eigene Gedanken. Wenn die Kurie nicht mitbekommen hatte, was ein Bischof der Piusbrüder zum Holocaust sagte, dann klappt es dort nicht mit der Information und Kommunikation. Ich bin sicher, dass der Kurie ‒ und damit dem Papst ‒ auch sehr viel von dem entgeht, was dieser Tage über Josef Ratzinger geschrieben wird. Ich befürchte nämlich, dass man auf Berater hörte, die davon abrieten, sowohl ein Twitter- als auch ein Facebook-Konto einzurichten.

Nicht modern oder fortschrittlich zu sein, ist heute ein Totschlag-Argument erster Klasse. Oft ist keine konkrete Idee dahinter, geschweige denn ein philosophisches Lehrgebäude. Mal wird das Ehegatten-Splitting für Homo-Ehen gefordert, mal soll die Kirche Kondome und Pille danach zulassen, sich aber gefälligst aus der Familienpolitik heraushalten. Vieles von dem, was unter dem Deckmantel der Modernität gefordert wird, geht vielen Menschen zu weit oder zu schnell ‒ nicht nur denen aus Markl am Inn.

Montag, 11. Februar 2013

Noch einmal: Plagiatsaffären

Am 28.2.2011, also nach dem Guttenberg-Skandal, schrieb ich unter anderem: 

‚Durch den in Berlin in dieser Weise behandelten Fall ergibt sich für alle Lehrer die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass auch populäre Politiker Fehler machen.‘

Dieses Mal wirkt dieser Rat etwas schal. Er gilt zwar noch, aber der Fall von Annette Schavan liegt etwas anders. Ich fasse zusammen, wie ich die Situation sehe. Eine junge Frau aus einer rheinisch-katholischen Familie lässt sich um 1980 herum ein halb-religiöses Thema geben, mit dem sie an der ehemaligen pädagogischen Hochschule in Düsseldorf in Philosophie promovieren will. Die Professoren scheinen der Promovierenden sehr viel Freiheit gelassen zu haben. Sie bearbeitet das anspruchsvolle Thema zu deren vollsten Zufriedenheit.

Rund dreißig Jahre später gibt es Software, die es erlaubt, den ganzen Text der Arbeit Wort für Wort, Satz für Satz mit ähnlichen Arbeiten und Veröffentlichungen zu vergleichen. Da Rechnerzeit sowohl privat wie an Hochschulen massig zur Verfügung steht, machen sich einige Leute einen Spaß daraus, alle möglichen Dissertationen zu überprüfen. Dissertationen sind deshalb interessant, weil der Verfasser schriftlich erklären muss, dass er außer den zitierten Quellen keine andern Quellen benutzt hat. Außerdem muss man kenntlich machen, was man wörtlich zitiert. Ein Zitat ist immer ein Satz oder zumindest ein Satzteil.

Während Ingenieure und Naturwissenschaftler relativ wenig zitieren, ist dies bei Geisteswissenschaftlern ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit. Bei Ingenieuren und Naturwissenschaftlern sind Veröffentlichungen anderer Spezialisten oft Anlass oder Sprungbrett für die eigentliche Arbeit. Die Arbeit selbst aber beschäftigt sich mit neuen Erkenntnissen über die Natur oder mit technischen Lösungen, die es bisher nicht gab. Ein Geisteswissenschaftler dagegen kämpft nur mit Ideen anderer Leute. Sie sind sein Forschungsobjekt. Dass 200-300 Literaturstellen angegeben werden, ist nicht selten. Um an sie heranzukommen, war früher ein Heidenaufwand nötig. Manche Doktoranden richteten sich daher einen Arbeitsplatz in einer Bibliothek ein. Ganz anders ist die Situation bei Naturwissenschaftlern. Ein Studienkollege von mir, der in physikalischer Geodäsie promovierte, startete von 3-4 Veröffentlichungen und leitete darauf basierend etwa 50 Seiten Formeln ab. Er gab darin die grundsätzlichen Berechnungsverfahren an, nach denen alle Satelliten im Weltraum heute gesteuert werden, und zwar unter Berücksichtigung der Relativitätstheorie.

Zurück zu Annette Schavan. Wäre sie Religionslehrerin und nicht Politikerin geworden, würde sich heute niemand für ihre damalige Arbeit interessieren. Da aber die Leute gesehen haben, was man ohne großen Aufwand in Fällen wie Guttenberg anrichten kann, sind jede Menge Freizeitforscher unterwegs. Es ist dieselbe Motivation, die Halbstarke dazu treibt, sich einen Virus zu überlegen und zu basteln, der das Weiße Haus oder das Pentagon alt aussehen lässt. Im Altertum gab es diese Leute auch. Sie zündeten besonders gerne Tempel an, um damit berühmt zu werden. Der Artemis-Tempel von Ephesus war eines der sieben Weltwunder. Am 21. Juli 356 vor Chr. brannte er völlig ab. Der Brandstifter Herostratos ist bis heute bekannt. Er hatte viele Nachahmer in der Antike, und hat sie sogar heute noch, nur sitzen sie am Computer.

Ein Rätsel in der Affäre Schavan ist die Universität Düsseldorf. Seit über einem halben Jahr beschäftigen sich 10-20 Leute mit dem Fall. Man hätte sagen können, durch die Verfehlungen hat niemand Schaden erlitten, sie sind gering im Vergleich zum Wert der Arbeit, eigentlich hätte der Doktorvater oder die Prüfungskommission aufpassen müssen oder alles geschah in einer ganz anderen Zeit. Niemand scheint genug Mut besessen zu haben, um eine Güterabwägung anzustellen. Stattdessen schiebt man alle Schuld auf eine frühere Studentin. Würde man ihr gegenüber nachsichtig sein, könnte jemand den Vorwurf erheben, auch die heutigen Maßstäbe sind nicht in Ordnung. Das könnte dem heutigen Ruf evtl. schaden. Wenn ein Gericht Frau Schavan Recht gibt – was noch längst nicht sicher ist ‒ würde man sich ‚volens nolens‘ beugen müssen. Eine Universität mit mehr Tradition als Düsseldorf könnte anders reagieren.

Heinrich Heine, der Namensgeber der Düsseldorfer Universität, wird sich im Grabe umdrehen. Er war einer unserer liberalsten Denker und größten Dichter. Von ihm stammt unter anderem der wehmütige Text des Lorelei-Liedes. Ich besitze seine gesammelten Werke und habe sie ganz und mit großem Vergnügen gelesen. Darin steht auch der berühmte Satz: ‚Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.‘ Der Satz wird meist im politischen Sinne interpretiert. Heine schrieb ihn 1839 in Paris, als seine Mutter schwer krank in Hamburg lag. Es sind die ersten Zeilen des Gedichts ‚Nachtgedanken‘.

Ich finde es gut, dass Frau Schavan Schaden von ihrem Amte als Bundesforschungsministerin fern halten will. Sie zitierte dieser Tage ihren politischen Ziehvater, den Baden-Württemberger Erwin Teufel. Sie machte sich seine Maxime zu Eigen: ‚Zuerst das Land, dann die Partei, dann die Person‘. Ich finde diese Haltung mustergültig. Jetzt muss ein Gericht feststellen, ob man ihr ‚Absicht‘ nachweisen kann und was möglicherweise nur Schluderei war. Ich wünsche Frau Schavan, dass die Gerichte ihre Sicht der Dinge bestätigen. Sie hat einen schwierigen Gang vor sich.

Die Diskussion um Annette Schavan ist noch längst nicht zu Ende. In der Politik ist sie für Jahre vom Fenster. Die CDU und Angela Merkel werden nur kurze Zeit trauern und die Kollegin danach ignorieren. Sie können nicht anders. Das Tagesgeschäft geht weiter, insbesondere da ein Wahlkampf bevorsteht. Vor Annette Schavan liegt ein anderer, ein persönlicher Kampf. Die Wissenschaft wird an dem weiteren Fall eine Weile zu knabbern haben. Die Medien werden sie weiter im Auge behalten.

Obwohl ‒ oder gerade weil ‒ es heute Rosenmontag ist, möchte ich meinen Enkelkindern zum Fall Schavan noch Folgendes sagen: Man sollte sich nie durch Fehlverhalten eine Blöße geben. Selbst nach 30 Jahren kann das einen einholen. Auch wenn man sich selbst keines Fehlers bewusst ist, kann man in Schwierigkeiten geraten. Es können unberechtigte Vorwürfe gemacht werden. Dann ist es gut, dass man (finanziell) in der Lage ist, sich zu verteidigen. Dafür gibt es nämlich Rechtsanwälte und Gerichte. Es gibt dazu auch einen etwas bitteren, nicht sehr ermutigenden Spruch: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Dennoch bleibt Annette Schavan keine andere Wahl als für ihren guten Ruf und ihre Ehre zu kämpfen.

Freitag, 8. Februar 2013

Staatsschulden ohne Ende

Der Wirtschaftswissenschaftler Kai Konrad war mir unbekannt, als er dieser Tage für einen Vortrag in meinem Wohnort angekündigt wurde. Er ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen in München. Ich wollte zu dem Vortrag, aber leider war die Veranstaltung ausgebucht. Da das Thema mich reizte, suchte ich nach seinem Buch Schulden ohne Sühne?, das er mit dem Ko-Autor Holger Zschäpitz verfasst hatte. Ich las die aktualisierte Ausgabe von 2012. Ohne den Vortrag zu hören, entgingen mir möglicherweise ergänzende Aussagen, die nicht im Buch enthalten sind, sowie die Reaktion der Zuhörer. Außerdem entging mir eine anschließende Podiumsdiskussion mit zwei Bundestagsabgeordneten (CDU, FDP) und dem Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden der lokalen Volksbank. Da der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz in dem Buch, das ich kürzlich besprach, die Eurokrise nicht behandelt hatte, war dies eine sehr gute Ergänzung. Ich fasse im Folgenden die für mich interessanten Aussagen zusammen.

Staatliche Schulden und Staatsbankrotte

Im historischen Rückblick weisen die Autoren darauf hin, dass schon seit dem Altertum Staaten immer wieder in Geldschwierigkeiten gerieten. Seit 1800 habe es 250 Fälle gegeben, in denen Staaten die Zahlung ihrer Schulden einstellten. Die bekanntesten Fälle sind Russland (1912), China (1949) und Cuba (1960).  Allein seit 1980 habe es 90 Staatsbankrotte in 73 Ländern gegeben. Meist handelte es sich dabei um süd- oder mittelamerikanische Staaten. Staatspleiten sind eine Plage der Menschheit genau wie Kriege, nur etwas harmloser. Die derzeitige Eurokrise zeige, dass Staatsbankrotte auch in Europa möglich seien. Außer Griechenland hätten auch Irland, Portugal, Italien und Spanien das Vertrauen der Märkte, also der privaten Anleger, verloren. Im Gegensatz zu privaten Schulden können staatliche Schulden auch in Friedenszeiten nicht eingeklagt werden. Will man keine Kanonenboote schicken, wie dies 1903 England, Frankreich und Deutschland im Falle Venezuelas taten, muss man verhandeln.

Wer über Staatsschulden spricht, muss außer expliziten Schulden auch die impliziten Staatsschulden hinzurechnen. Das sind die vom Staat gemachten Zusagen für Pensionen und Sozialleistungen. Es ist kein Zufall, dass sie – im europäischen Vergleich ‒ am höchsten in Griechenland und Irland sind.

Wirkungen des Euro

Bis 2009 schien der Euro eine Erfolgsgeschichte zu werden. Laut Angaben des IWF waren 27% aller Notenbankbestände der Welt in Euro. In absoluten Zahlen belief sich dies auf 1451 Bill. € gegenüber 3716 Bill. US$, sowie kleineren Mengen in Pfund, Yen und Schweizer Franken. Inzwischen belaste der Euro das europäische Zusammenwachsen enorm. Er habe die strukturellen Unterschiede zwischen den Nord- und Südländern nicht ausgeglichen, sondern verstärkt. Der Euro wirkte für die Südländer wie ein Konjunkturprogramm. Sie erhielten Kredite unter der Annahme, dass sie sich analog zu den Nordländern entwickeln würden. In Irland und Spanien wirkte es sich besonders auf den Immobilienmarkt aus. Das Einkommen pro Kopf stieg am meisten in Irland und Griechenland. Deutschland fiel auf einen der letzten Plätze zurück. Nach der Einsicht kam die Überreaktion des Marktes. Den Ländern wurde schlagartig klar, dass Schulden in Euro wie Schulden in einer Fremdwährung wirken. Um wieder wettbewerbsfähig zu werden, wären Lohn- und Preissenkungen bis 30% nötig. Der Harvard-Ökonom Martin Feldstein empfahl Griechenland, Urlaub vom Euro zu nehmen.

Dass etwas schief läuft in Europa, hätten die Regierenden am liebsten unter den Tisch gewischt. Zum Glück gibt es eine Instanz, die man oft ausschalten möchte und auch ausschalten kann. Lässt man sie am Spiel der Kräfte teilnehmen, reagiert sie meist anders, als die Regierenden dies haben möchten. Diese Instanz nennen wir ‚den Markt‘. Er ist anonym und nicht durch Wahlen legitimiert. Es sind private Geldbesitzer, die für ihre Ersparnisse eine Rendite suchen (engl. rent seekers). Dabei an Millionen von einzelnen Entscheidern zu denken, ist nur im Ansatz richtig. In Wirklichkeit haben sie ihre Kraft gebündelt und in die Hand der großen Versicherungen gelegt. Firmen wie Pimco, Blackrock und Allianz sind ihre Repräsentanten.

Fehlanreize für Banken

Schon im Vorwort der Taschenbuchausgabe sprechen die Autoren von der zurzeit bestehenden ‚unheiligen Allianz zwischen Politik und Banken‘. Durch zwei Entwicklungen werden Banken auf Staaten als Geschäftspartner gelenkt. Einerseits ist das Angebot für Geschäfte enorm. Der Markt für Staatsanleihen ist seit 1990 von 18 auf 50 Bill. € gestiegen. Andererseits werden die Banken durch gesetzliche Regelungen getrieben, um nicht zu sagen, gezwungen. Statt Geld mit der Industrie-Finanzierung zu verdienen, bevorzugen Banken Staatsanleihen, weil sie nicht mit Eigenkapital hinterlegt werden müssen (Basel II). Das führe zu eindeutigem Fehlverhalten. Es werden immer weniger Kredite für den Mittelstand zur Verfügung gestellt, und die Steuerzahler finanzieren immer mehr die Banken.

Banken können damit rechnen, dass der Staat ihnen hilft, sofern ihr Institut als system-relevant angesehen wird. Daraus folgt, dass all die Banken schlecht dran sind, die nicht dafür gesorgt haben, dass sie system-relevant sind. Was genau als system-relevant gilt, ist jedoch ein Streitpunkt. (Im Moment streiten sich Wolfgang Schäuble und Mario Draghi in diesem Punkt bezüglich der Banken Zyperns)

Eine tolle Erfindung der Banken heißt Kreditausfall-Versicherung (engl: credit default swap, abgekürzt CDS). Im Ländervergleich sind die CDS-Prämien derzeit am höchsten für die Ukraine, vor Argentinien, Pakistan und Lettland. Nach Übernahme der Bürgschaften für Griechenland zogen die CDS-Prämien für Deutschland kräftig an. Deutschland sank seit 2010 von Rang 3 auf Rang 10, wenn man die Länder mit niedrigen Prämien an die Spitze stellt. Die Besitzer von Kreditausfall-Versicherungen bevorzugen in der Regel den Konkurs über die Sanierung eines notleidenden Kunden ‒ ein weiterer Fehlanreiz.

Staatsschulden – nur ein Webfehler der Demokratie?

Es gibt Leute, die ernsthaft behaupten, dass jeder Staat Schulden machen muss. Ein Staat, der es nicht tut, täte entweder zu wenig für die Zukunft oder er würde die jetzige Generation für etwas belasten, was erst späteren Generationen zu Gute kommt. Das führt zu der Frage, was eine Investition ist. Ausgaben für das öffentliche Verkehrsnetz gehören dazu, in der Regel auch Ausgaben für Forschung und Bildung.

Oft wird jedoch Geld verprasst (vorwiegend von Autokraten) oder als Wahlgeschenk vor Wahlen ausgegeben, etwa in der Form von Steuersenkungen. Regierungen, die es nicht tun, vergeben sich vermutlich Chancen, wiedergewählt zu werden. Die Frage ist, ob Wähler immer dieselben Fehler machen oder ob sie gegen Täuschungen immun sind. Kein Politiker traut sich, diese Frage explizit zu beantworten. Nur aus seinem Handeln kann man darauf schließen, was er denkt. Dass Anhänger der Lehre von John Maynard Keynes leichter ans Ausgeben als ans Einsammeln denken, habe ich früher schon erwähnt.

Deutsche Erfahrungen im föderalen System

Die Probleme, die Europa mit einzelnen Staaten hat, erinnern an die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Auch hier gibt es Unterschiede in der finanziellen Leistungsfähigkeit der Länder. So erstritten das Saarland und Bremen von 1994 bis 2004 so genannte Bundesergänzungszuweisungen (von 6,6 bzw. 8,5 Mrd. €). Diese waren zwar mit Auflagen verbunden, die Lage hat sich jedoch seither nicht verändert. Bremen gilt als Dauersanierungsfall. Der Stadtstaat habe 46.000 € Schulden pro Kopf der Bevölkerung. Das sei mehr als Griechenland. Berlin wollte ein ähnliches Urteil erstreiten, was jedoch nicht gelang. Es erhält trotzdem laufende Zuweisungen des Bundes. Unabhängig davon gibt es den so genannten Länderfinanzausgleich. (Mit Bayern und Hessen gingen zwei der drei Nettozahler gerade wieder vor das Verfassungsgericht). Generell sollte man meinen: Ein System, in dem die einen Schulden machen und andere die Folgen tragen, kann nicht (lange) funktionieren. Die föderale Bundesrepublik beweist das Gegenteil.

Auswege aus der Euro-Krise

Leider sind die Lösungen, die den Autoren einfallen, nicht sehr originell. Sie sehen nur zwei Alternativen, nämlich 'no bail out' oder verstärkte Kontrolle durch die Brüsseler Zentrale. Viele der agierenden Politiker, vor allem die aus kleinen Ländern, scheinen in diese Richtung zu argumentieren; auch die deutsche Bundeskanzlerin. Dass nicht nur die Briten nicht bereit sind mitzuziehen, sondern auch das eigene Volk, müsste die Kanzlerin eigentlich wissen. Lieber lässt man einzelne Banken oder einzelne Länder schmoren, als alles im Brüsseler Einheitsbrei zu verrühren. Die Isländer, die kein EU-Mitglied sind, haben gezeigt, wo die Grenzen liegen. Sie stimmten dagegen, dass das Volk den Banken hilft. (Würde man deutsche Wähler fragen, wie viele Milliarden sie für Commerzbank und Hypo Real Estate aufbringen möchten, wäre sicherlich ein ähnliches Ergebnis zu erwarten).

Im Moment haben daher die Vorschläge Hochkonjunktur, die das Bankensystem schrittweise zu reformieren beabsichtigen. Dazu gehören die Finanztransaktionssteuer, die Erhöhung des Eigenkapitals (Basel III) und die Trennung des Investitions- vom Privatkundengeschäft (Trennbanken). In dem Prozess spielt die EZB eine immer stärkere und sich laufend ändernde Rolle. Zurzeit wandern schlechte Papiere in großem Umfang vom Privatbesitz zur EZB, also zum Steuerzahler. Dass Schulden gern vergemeinschaftet (oder sozialisiert) werden, ist ein alter Hut. 

Die Autoren diskutieren ausführlich die möglichen Folgen der derzeitigen Politik. Wenn die Länder der Euro-Zone sich gegenseitig helfen, werden sich für alle die  Zinsen angleichen. Das Risiko geht von einzelnen Ländern auf die ganze Euro-Zone über. Die Gläubiger verlieren dann das Interesse, einzelne Staaten zu kontrollieren. Wir laufen außerdem Gefahr, in das Samariter-Dilemma zu geraten. Der Helfer muss aufhören zu helfen, wenn er dadurch selbst verarmt. Um eine realistische Diskussion zu führen, muss man die Ausgangssituation genauer ansehen. Ein Maßstab, der mindestens für Vergleiche nützliche Dienste leistet, ist das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) pro Einwohner. Folgende Zahlen (in Tausend Euro) gelten in Europa:  Luxemburg 81, Dänemark 40, Deutschland 30, Bulgarien 4,5. Innerhalb Deutschland liegen die Extreme in Hamburg (48,2) und Mecklenburg-Vorpommern (21,3). Eine Transferunion kann nicht das Ziel haben Bulgarien auf das gleiche Niveau zu bringen wie Luxemburg. Noch sollte man Anreize geben, die alle Bulgaren zu Beamten mit Pensionsansprüchen machen.

Sind Staatsschulden unser Schicksal?

Da Staaten 'ewig' bestehen, könnten sie im Prinzip alte Schulden immer wieder durch neue Schulden tilgen. Diese Idee eines Schneeballsystems (auch Ponzi-System genannt) steht hinter dem Titel des Buches (Schulden ohne Sühne). Alle Staaten tun dies auch in mehr oder weniger großem Umfang. Wer in langfristigen Staatsanleihen investiert, muss unter anderem den demographischen Wandel berücksichtigen. In vielen europäischen Ländern nimmt der Anteil der aktiven Jahrgänge in der Bevölkerung ab. Viel schwieriger ist es, über langfristige Trends zu spekulieren, d.h. über 10 Jahre hinaus. Die EU veröffentlicht so genannte Nachhaltigkeitsberichte. Darin wird für das Jahr 2050 eine Verschuldung von 400% des BIP angenommen. Man muss sich fragen, was so eine Zahl bedeutet. Wer gibt da noch Kredite?

Zum Schluss loten die Autoren aus, welche Strategien ein Staat oder eine Staatengruppe verfolgen können, um Schulden zu tilgen. Das Spektrum ist recht breit. Es umfasst Sondersteuern, Zwangsanleihen, Privatisierung von Staatsbesitz, freiwillige oder zwangsweise Verlängerung der Schulden sowie das langsame Herauswachsen über einen längeren Zeitraum mit niedrigen Zinsen. Die Möglichkeiten eines Staates sind nicht zu unterschätzen. Es bedarf weder einer Diktatur noch einer Naturkatastrophe, um einen Staat in die Lage zu versetzen, auf das Privateigentum seiner Bürger zurückzugreifen. Besonders gefährdet sind Immobilien, da man sie nicht außer Landes schaffen kann. Ein Staat kann – sofern für nötig erachtet ‒ auch die Grundrechte seiner Bürger außer Kraft setzen.

Eine besonders lukrative Methode ist eine gezielt herbeigeführte Inflation. Die Wirkung einer Inflation für die Verbraucher wird durch die Globalisierung abgeschwächt. Solange Importe aus Billiglohnländern möglich sind, bremst dies den Preisanstieg. Eine Inflation ist umso attraktiver je mehr Schulden von Ausländern gehalten werden, und je länger ihre durchschnittliche Laufzeit ist. Die deutschen Staatsschulden haben eine durchschnittliche Laufzeit von sechs Jahren, die englischen etwa 14 Jahre. Eine Inflation muss überraschen, sonst wir sie eingepreist, d.h. von den Marktpreisen vorab berücksichtigt. Die USA sind in einer besonderen Lage. Sie könnten ihre Schulden schlagartig loswerden, indem sie Geld drucken. Sie könnten eine Schiffsladung voll nach China schicken.

Eine Insolvenzordnung für Staaten ist bisher gescheitert. Stattdessen gibt es den Pariser Club für Länder und den Londoner Club für Privatgläubiger. Das sind lockere Zusammenschlüsse, die es einer Gruppe von Gläubigern gestatten, sich gegenseitig abzustimmen.

Nachbemerkungen

Letzte Woche las ich, dass Harold James, ein Wirtschaftshistoriker aus Princeton, bei einem Vortrag in Frankfurt uns Deutschen ins Gedächtnis rief, dass der Euro nicht der Preis für die Wiedervereinigung war. Er entstand vielmehr aus der Angst heraus, in finanzpolitischen Fragen auf Gedeih und Verderb an den US$ gekettet zu sein. Dieses Gefühl herrschte sowohl in Paris wie in London. Der Bericht der Delors-Kommission, der zur Einführung des Euro führte, wurde im August 1989 veröffentlicht, drei Monate vor dem Mauerfall.

In Konrads Wikipedia-Eintrag steht am Schluss, dass er einen Aufruf an die Bundesregierung unterzeichnet habe, über eine geordnete Insolvenz Griechenlands nachzudenken. Nachdenken – so heißt es bekanntlich – kann nie schaden. Ich vermute jedoch, dass er in Wirklichkeit Experimentieren meint. Vielleicht spricht hier der Wissenschaftler, der meint, dass es gut sei herauszubekommen, was dann passiert. Ich halte mich eher an die aktiven Politiker, die bereit sind, auf die Gewinnung zusätzlichen Wissens zu verzichten. Das Experiment (am lebenden Objekt) könnte nämlich zu Nebenwirkungen führen, die uns teuer zu stehen kommen. Die Lehman-Pleite hat hier die Denkmuster gründlich verändert. Niemand traut sich mehr, am 'No-bail-out'-Prinzip festzuhalten. Wer system-relevant ist, dem muss geholfen werden.

An der Empfehlung der Autoren zeigt sich auch der Unterschied zwischen Praktikern und Akademikern. Praktiker in Politik und Wirtschaft haben meistens weder die Zeit, um sich die Dinge in Ruhe zu überlegen, noch haben sie die Möglichkeit zu experimentieren. Sie müssen trotzdem handeln, und zwar zeitnah. Hat man dabei Erfolg, so hat man halt Fortune. Wir leben in spannenden Zeiten, meinen die Autoren. Ich kann mich dem durchaus anschließen.

Donnerstag, 7. Februar 2013

Nochmals: Überforderung der Forschung (mit Nachträgen)

In einem Beitrag im Februar 2011 hatte ich zum ersten Mal in diesem Blog etwas zur Rolle der Forschung geschrieben. Ich wollte damals die Kritik nicht übertreiben. Leider gibt es immer wieder Anlässe, die dazu führen, dass ich das Thema erneut aufgreifen muss. Dieses Mal sind Veröffentlichungen zweier deutscher Kollegen daran schuld.

Universitäre Forschung

In einem Interview in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 3.2.2013 schlägt Oliver Günther von der Universität Potsdam eine Neugliederung unserer Hochschulen vor. Oliver Günther ist neben seiner Tätigkeit als Präsident der Universität Potsdam zurzeit auch Präsident der Gesellschaft für Informatik. In dem Interview wird anerkannt, dass nicht alle Universitäten gleich ausgestattet werden können und dass die Durchlässigkeit zwischen Fachhochschulen und Universitäten verbesserungswürdig ist. Ich möchte diesen Teil des Interviews sehr begrüßen und die Forderungen voll unterstreichen. 

Dann kommt der übliche Aufruf, den Universitäten doch bitte mehr Geld für die Forschung zu geben. Bei den so genannten Spitzenuniversitäten geht es - laut Oliver Günther - darum, dass sie international mitspielen. Wörtlich heißt es: „Bei ihnen steht die Forschung klar im Vordergrund, die Wissenschaftler lehren natürlich auch, aber eher noch weniger als heute.“ Zur Erinnerung: Zu Spitzenuniversitäten wurden von Forschungsministerin Schavan im Sommer 2012 elf Universitäten erhoben, darunter einige mit einem voll ausgebauten Fachbereich Informatik (TU München, RWTH Aachen, Uni Bremen, TU Dresden, Humboldt Berlin). Nicht mehr dazu gehören Karlsruhe, Göttingen und Freiburg. Die sonstigen, auch noch forschungsorientierten Universitäten sollten international sichtbar sein. „Die Forschung steht gegenüber der Lehre noch ein Stück weit im Vordergrund.“ Schließlich sollten wir noch nicht-forschende Universitäten und Fachhochschulen haben. Fachhochschulen, die auch forschen, gibt es bereits einige.

Immer, wenn ich das Wort Forschung höre, muss ich an das Dilemma denken, in dem die Informatik sich befindet. Sie steht teils in der Tradition der Mathematik, teils in der Tradition der Betriebswirtschaft. In diesen Fächern wird Forschung primär an Hochschulen betrieben. Das ist in Ingenieurfächern wie Maschinenbau und Elektrotechnik nicht der Fall. Der ingenieurmäßige Aspekt der Forschung wird in vielen Diskussionen, die Informatiker führen, glatt ignoriert. Bei Ingenieuren stehen die erzielten Ergebnisse im Vordergrund, nicht die Methode, wie sie gewonnen wurden. Es zählen Erfindungen und Innovationen, die sich aus den Erfindungen ergeben. In Ingenieurfächern stellt die von Hochschulen betriebene Forschung nur den zweitbesten Weg dar. Einerseits sind Hochschullehrer nicht motiviert, Erfindungen zu machen. Sind diese nämlich wertvoll, ist es zweckmäßig, sich die Nutzungsrechte zu sichern, sei es für sich selbst oder für jemand anderes. Andererseits bestünde ein Transferproblem, würden Hochschulen tatsächlich Erfindungen machen. 

Oliver Günther ist Wirtschaftsinformatiker, also mehr Betriebswirt als Ingenieur. Mathematiker und Betriebswirte kennen diese Problematik nicht, da ihre Erkenntnisse nicht als Erfindungen angesehen werden können. Industrielabors wie die von Bosch, Daimler und Linde produzieren Erfindungen. Was machen Mathematiker und Betriebswirte mit ihren Forschungsergebnissen? Sie veröffentlichen sie in Fachzeitschriften. Informatiker tun nicht mal das. Sie organisieren immer mehr Fachtagungen und tragen dort vor. Die Relevanz dieser Ergebnisse für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist bescheiden. Kollege Mertens aus Erlangen sieht nichtsdestoweniger eine Gefahr in ihrer Veröffentlichung. Das bringt mich zu meinem zweiten Thema.

Mini-Tagungen

Einige Wissenschaftler haben die Technik des Dünnbrett-Bohrens zur Perfektion entwickelt. Viele Leute sehen darin eine Form von Selbstbedienungsläden. Sehr schön hat mein Kollege Reinhard Wilhelm von der Universität Saarbrücken im Informatik-Spektrum (15,6 (2012). S.468) dieses Phänomen beschrieben. Darin geht es um den International Swabian Rim Workshop on Extremely Goal-oriented Insight-based System Engineering (EGISE). Möglicherweise gibt es einige Kollegen, die von dieser Tagungsreihe noch nicht gehört haben. Das ist nicht weiter schlimm. Es mangelt ja nicht an Tagungen.

Ich selbst wirkte an zwei Veranstaltungen einer ganz ähnlichen Tagungsreihe mit. Die erste Tagung war in den USA, die zweite in Deutschland. Das Programmkomitee bestand seit etwa 10 Jahren aus einem Kern von 10-15 Mitwirkenden, verteilt über die ganze Welt. Ab und zu versuchte man, neue Mitglieder zu werben. So kam man auf mich. Bei beiden Tagungen wurden je 60-80 Papiere eingereicht, von denen etwa die Hälfte angenommen wurde. Das ergab ein Tagungsprogramm für zwei Tage mit zwei parallelen Strängen. Unsicher wurde ich beim zweiten Mal. Es wurden wieder etwa 80 Papiere eingereicht, von denen 80% von denselben Autoren stammten wie im Jahr davor. Ein Papier, das ich begutachten sollte, kam mir bekannt vor. Ich hatte über die ‚Ergebnisse‘ desselben Projekts in einem anderen Tagungsband gelesen. Als ich dies einem anderen Mitglied des Programmkomitees erzählte, meinte dieser, dass man genau nachzählen müsste. Wenn die Hälfte der Sätze neu wären, müsste man das Papier akzeptieren. Leider waren es nur weniger als ein Drittel. Als wir das Papier aus diesem Grunde ablehnten, schrieb der Autor eine wütende E-Mail. Er wolle in Zukunft mit dieser Tagungsreihe nichts mehr zu tun haben. Ich kam zum selben Entschluss.

Nachtrag am 9.2.2013

Verschiedene Diskussionen, die ich mit Kolleginnen und Kollegen führte, veranlassen mich meinen Standpunkt in Bezug auf die öffentliche Forschungsförderung zu präzisieren.

Es wird immer wieder behauptet, dass durch Forschung die Wirtschaft unseres Landes gefördert wird. Das gilt nicht generell und nicht in allen Fächern. Es gilt vermutlich für Medizin, Pharmazie, Chemie, Landwirtschaft, den Maschinenbau und die Elektrotechnik. Ob es für die (Molekular-) Biologie gilt, ist fraglich. Es gilt beispielsweise nicht für (Atom-) Physik, Informatik (außer Wirtschaftsinformatik) und den Flugzeugbau. Wir haben nämlich auf diesen Gebieten kaum (noch) eine einschlägige Industrie in unserem Lande, die als Empfängerin von transferbaren Forschungsergebnissen in Frage kommt. 

Natürlich denkt heute kein Forscher mehr, dass seine Ergebnisse nur für sein Land relevant sind. Dieser Standpunkt ist – Gottseidank ‒ längst überwunden. Es geht um die umgekehrte Frage: Wofür soll ein Staat seine durchaus beschränkten Mittel einsetzen? Man möchte zumindest Forschung gerne als Investition ansehen, d.h. man hofft, dass die eingesetzten Mittel sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder als vermehrte Einnahmen verbuchen lassen. In jedem öffentlichen Haushalt überwiegen ohnehin die nicht-investiven Ausgaben.

Ich bin außerdem der Meinung, dass wirtschaftsrelevante Forschung in den Fächern der ersten Gruppe eher in der Industrie (oder an Krankenhäusern) als an Hochschulen betrieben werden kann. Die Gründe hatte ich zum Teil in diesem und früheren Blog-Beiträgen angedeutet. Es liegt einerseits an dem Motivationskonflikt (Freiheit vs. Schutz der Ergebnisse) und der Transfer-Problematik. In vielen Fächern setzt Spitzenforschung außerdem Investitionen in Personal und Geräten voraus, die sich eine Hochschule selbst bei größtmöglicher Förderung nie leisten kann.

Neben der wirtschaftsrelevanten Forschung gibt es in allen Fächern ein weites Feld, auf dem Fortschritte der Wissenschaften möglich und wünschenswert sind. Nur wehre ich mich dagegen, diese Aktivitäten mit ihrer Relevanz für die Wirtschaft zu begründen. Natürlich können auch Steuermittel dafür eingesetzt werden. Ich bin lediglich dafür, dass man die Zwecke dieser Forschung ehrlich benennt und nicht mit falschen Argumenten arbeitet.

In vielen Fächern können Hochschulen durch qualifizierte Forschungsergebnisse ihr Ansehen leichter verbessern als durch gute Lehre. Das ist Fakt und man kann es bedauern. Der Zugewinn an Renommee sammelt sich zunächst bei einzelnen Mitgliedern eines Fachbereichs oder einer Fakultät an. Erst wenn mehrere Mitglieder einer Fakultät eine Reputation als Forscher erworben haben, färbt dies auf die gesamte Fakultät oder gar die gesamte Hochschule ab. Es ist dabei von Bedeutung, dass nicht nur ein einzelnes, enges Thema bearbeitet wird. Das wäre nicht einer akademischen Institution angemessen. Für einen Industriebetrieb dagegen könnte es für den Erfolg entscheidend sein, sich zu spezialisieren. 

Dass akademischer Ruhm primär personengebunden ist, wird deutlich, wenn immer jemand die Universität wechselt. Dabei zeigt sich auch, wie die Interessen gelagert sind. Da Hochschulen Ländersache sind, versuchen diese ‚gute Leute‘ anzuwerben oder zu halten. Was die Grundausstattung von Lehrstühlen (also die Lehrfunktion) betrifft, wird dies auch formell so gehandhabt. Nur bei der Ausstattung der akademischen Forschung engagiert sich der Bund. Manchmal geschieht dies offen, etwa im Falle der DFG, manchmal verdeckt. Dass der Bund durch vorgetäuschte Forschungsförderung den Ländern beim Aufbau einer Lehrkapazität hilft, ist ein typischer Ausfluss des föderalen Wirrwarrs (so geschehen 1972-1975 in der Informatik). Die Verantwortung für Forschung ist verwässert, was die Tätigkeit selbst zusätzlich in Misskredit bringt.

Nur in den Fällen, in denen man Fachleute aus den Ausland anwerben will, oder wenn man das Abwandern ins Ausland verhindern möchte, sollte der Bund sich zuständig fühlen, einen Lehrstuhl mit zusätzlichen Forschungsmitteln zu versehen. Ansonsten ist es Sache der Bundesländer dafür zu sorgen, dass die Arbeitsbedingungen an ihren Hochschulen so sind, dass diese Laufbahn von ‚guten Leuten‘ als erstrebenswert angesehen wird. Wenn sich Universitäten von Fachhochschulen dadurch abgrenzen wollen, dass nur sie das Promotionsrecht haben, ist das eine Sache. Wenn sie außerdem zusätzliche Geldmittel benötigen, um Mitarbeitern während der Zeit der Promotion finanzielle Unterstützung zu geben, ist das eine andere Sache. Den damit zusammenhängenden Fragenkomplex will ich hier nicht vertiefen.

Manche Leute gehen zur Hochschule, nicht weil es sie drängt als Lehrer tätig zu sein, sondern weil sie forschen möchten. Etwas Unbekanntes zu entdecken, hat einen großen Reiz und kann sich als sehr nützlich für die Menschheit erweisen. Beispiele sind Marie Curie und Konrad Röntgen. Etwas Neues zu erfinden ist jedoch zumindest gleichwertig. Das bewiesen sowohl Gottlieb Daimler als auch Konrad Zuse. Nur gingen sie deshalb nicht an eine Hochschule.


Am 12.2,2013 schrieb Manfred Broy aus München:

Ich habe den obigen Beitrag mit Interesse gelesen. Vieles was Sie schreiben, sehe ich auch so. Einige Punkte vielleicht doch etwas anders. Was das Thema Informatikforschung betrifft, so ist das wirklich eine komplizierte Kiste. Ich habe dazu eine sehr dedizierte Meinung, aber es würde etwas mehr Zeit erfordern, dies sorgfältig aufzuschreiben. Vielleicht nur einige Sätze dazu. 

Ich habe den Eindruck, dass hier vieles sehr unausbalanciert ist. Das hat zum einen damit zu tun, dass Informatik und auch Informatikforschung in einem Umfang wirtschaftlich relevant ist und zurzeit  selbst manches im Maschinenbau übertrifft. Man muss nur die Erfolge der großen Firmen, wie Apple und Google ansehen. Apple kenne ich weniger aus der Nähe, Google schon. Der Erfolg von Google ist ganz eng mit erstklassiger Informatikforschung gekoppelt. Eines stimmt natürlich, was Sie sagen. Wenn hier aus Sicht der Wirtschaft Geld zu holen ist  ̶  und das ist bei Google der Fall,  ̶  dann wird mit solch hohem Aufwand geforscht, dass eine Universität ohnehin nicht mithalten kann. Dies führt aber in eine unbalancierte Art der Forschung, da nur Dinge erforscht werden, die kurzfristig  ̶  oder wenigstens mittelfristig  ̶   wirtschaftliche Erfolge bringen.

Ihre Beobachtung stimmt, in der Informatik gibt es diese Phänomene, die Sie ansprechen. Zum einen die Art von Forschung, die nur dem Wissenschaftsbetrieb dient, indem kleine Interessengruppen sich gegenseitig die Bälle zuschmeißen. Daneben steht eine international durchaus hochrangige Forschung, die aber auch zum Teil ähnlich wie die Mathematik sich mit Problemen auseinandersetzt, bei denen man darüber streiten kann, ob diese tatsächlich von großer Relevanz sind.

Ferner haben wir eine Problematik, die vergleichbar ist mit der des Maschinenbaus. Es existiert eine große Anzahl von Firmen und Industriebetrieben, die fundamental Informatik benötigen, aber aus vielerlei Hinsicht dies nicht ganz im Griff haben und die eine solide Forschung und Innovationen benötigen. Hier denke ich, brauchen wir viel besser ausgerichtete Modelle der Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen und der Industrie.

Dass dies bisher unzureichend funktioniert, ist nicht nur einer Seite anzulassen, das liegt an beiden Seiten. Nennen Sie mir doch bitte im Top-Management der deutschen Industrie drei Namen von Leuten, die wirklich verstehen, was Informatik ist und wie man Informatikinnovationen aufsetzen muss.

Zufällig haben wir gerade am Freitag ein Seminar durchgeführt und werden das in einem Oberseminar fortführen, bei dem wir uns mit einem wissenschaftstheoretischen Zugang zu Informatik auseinandersetzen und auch mit den verschiedenen wissenschaftlichen Methoden, die die Informatik einsetzt bis hin zu der Frage, wie die Qualität von Forschung zu bewerten ist, ein vielschichtiges Thema, sicher gut geeignet für einen Blog.

Noch am 12.2.2013 antwortete ich:

Zu Ihrer Frage, wer Informatik-Forschung überhaupt beurteilen kann, fallen mir viele Namen ein. Fast alle kommen in den beiden Blog-Beiträgen vom Sommer 2011 vor, in denen ich Innovatoren vorstellte. Einige sind in meiner Altersgruppe wie Denert, Ganzhorn, Merbeth und Plattner. Bei den jüngeren würde ich K. Klöckner und D. Wittkopp (IBM) nennen, aber auch  Buchheit, U. Dietz, C. Ebert, und Greschner. Nicht in den Listen war Dirk Taubner, ein Brauer-Schüler. 


Am 13.2.2013 schrieb Manfred Broy:

danke für die Nennung der Namen. Einen Teil der Genannten kenne ich gut, manche nicht ganz so gut. Es ist eine interessante Frage, wer von ihnen tatsächlich in Deutschland Einfluss darauf hat, welche Art von Forschung zur Informatik in der Industrie gemacht wird und wie der Transfer der Forschung in beiden Richtungen zwischen Wissenschaft und Praxis funktioniert.

Am 14.2.2013 antwortete ich:

Im Falle der beiden IBMer (Klöckner, Wittkopp) bin ich mir ziemlich sicher, dass sie erheblichen Einfluss haben. Auch alle anderen, die ich nannte, haben mindestens den Rang eines Vorstands. Man kann doch Praktikern keinen Vorwurf dafür machen, dass sie primär (und manchmal auch ausschließlich) Dinge erforschen, die wirtschaftliche Erfolge bringen. Ich will nur sagen, dass Hochschulen sich dafür nicht zu schade sein sollten und dass man Wege finden sollte, wie dies mit akademischen Zielen in Übereistimmung gebracht werden kann. Zu sagen, dass Hochschulen nur unwichtiges Zeug tun dürfen, widerstrebt mir.

Um Ihren Begriff der Balance aufzugreifen, so gebe ich Ihnen Recht, dass in allen Fächern, in denen es eine Industrie gibt, die Waage sehr leicht in Richtung Industrie kippt. Bei der deutschen Informatik hat die hochschul-basierte Forschung meines Erachtens derzeit die Oberhand. Früher versuchte der Staat auch der ‚deutschen‘ Industrie auf die Sprünge zu helfen, hat es aber längst aufgegeben. Quasi als Kompensation beglückt er jetzt die akademische Forschung. Auch auf die Gefahr hin, mal wieder einige Kollegen vor den Kopf zu stoßen, möchte ich es so sagen: Da wo die industrielle Basis fehlt, endet die öffentliche Forschung oft nur in einer besonderen Form der geistreichen Unterhaltung. Würde bei einigen Fachsymposien noch Musik gemacht, müssten für sie außer Vergnügungssteuern auch noch Gema-Gebühren in Betracht gezogen werden.

Mir liegt fern, Fehlentwicklungen nur der akademischen Seite anzulasten. Unsere Industrie hat – von 2-3 Ausnahmen abgesehen  ̶  kläglich versagt. Ich will absichtlich keine Namen nennen. Es bleibt die Frage, was zu tun ist. Ihre Vorschläge dazu würden meine Leser (und mich) sehr interessieren.