Samstag, 25. Januar 2020

Quora und die 12 Lebensregeln des Jordan Peterson

Es ist üblich geworden, das Internet vorwiegend als Quelle von Hass und Beleidigungen anzusehen. Mir scheint dies Teil des Rückzuggefechts alter Medien zu sein. Die Verleger, die sich jetzt umgangen fühlen, sehen sich als die gestrigen Vermittler an, als die Gouvernanten, die Kinder vor Unheil bewahrten. Heute ist guter Rat billig. Jeder kann sich zum Briefkasten-Onkel oder zur Briefkasten-Tante aufschwingen. Er/sie können Netzseelsorge oder Suchtberatung betreiben.

Neben Google und Wikipedia ist Quora seit 2009 ein existierender digitaler Auskunftsdienst. Er wurde von Adam D'Angelo (ehemaliger CTO von Facebook), Charlie Cheever und anderen gegründet. Er ist kostenlos zugänglich und erfreut sich großer Beliebtheit. Es gibt Quora auf Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Er besitzt eine eigene Wissensbank, mit Informationen, die von Fachleuten stammen.

Zur Person des zitierten Autors

Jordan Peterson (*1962) ist ein kanadischer Psychologe. Sein 2018 erschienener Bestseller mit dem Titel 12 Rules for Life¸ Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt (engl.: 12 Rules for Life: An Antidote to Chaos), gilt als moderne Lebenshilfe. Er schrieb das Buch, nachdem er im Internet Millionen von Clicks zu von ihm bei Quora beantworteten Fragen erhalten hatte. Obwohl ich Quora regelmäßig lese, war ich noch nicht auf diesen Autor aufmerksam geworden.

Peterson ist in der Provinz Alberta in der Kleinstadt Fairview, rund 500 km nördlich von Edmonton aufgewachsen. Der Lieblingssport der dortigen Jugendlichen sei es gewesen, mit gestohlenen Pickup-Trucks nachts Touren durch die eisige Prairie zu machen. Er heiratete eine Frau aus demselben Ort und zog mit ihr zuerst nach Edmonton, danach nach Toronto. Das Paar hat zwei Kinder, die sie sehr beschäftigen, wobei die Tochter auch gesundheitliche Probleme hat. Beide Eltern sind tiefgläubige Christen.

Zum Inhalt des Buches

Das Buch umfasst eine Auswahl von Informationen, die in Quora enthalten ist. Es umfasste ursprünglich 25 Kapitel, die später auf 12 reduziert wurden. Papier ist halt teuer und schwer. Ich will nicht versuchen, den Inhalt des Buches wiederzugeben. Es ist dafür zu wirr und ohne klare Gliederung. Stattdessen gebe ich nur die Kapitelüberschriften wieder.


Kapitelüberschriften

Gesammelte Gedankensplitter

Um die Beschäftigung mit dem Buch etwas anzureichern, gebe ich im Folgenden einige Gedankensplitter wieder, die ich bemerkenswert fand. Einige mögen sogar kurios erscheinen.
  • Menschen mögen Ordnung. Sie hassen Chaos.
  • Menschen suchen nicht Glück, sondern Sinn. Das Leben kann Leiden beinhalten. Für viele Religionen ist Leiden zentral, nicht nur für Schiiten.
  • Glaube ist ein gemeinsames Bezugssystem.
  • Die Seele hungert nach dem Heroismus des wahren Daseins (im Sinne Martin Heideggers).
  • Schütten wir Serotonin aus, so kann uns das vor dem Untergang retten.
  • Wir wollen stets eine bessere Ordnung errichten. Das tut auch ein siegreicher Hummer tief unten auf dem Meeresgrund..
  • Strebe stets danach besser und gesünder zu werden.
  • Suche Freunde, deren Leben sich verbessert, wenn Deines sich verbessert.
  • Kleinstädter schätzen sich höher ein als Großstädter. In Kleinstädten ist man eher der Beste. Die Welt hat viele Spielfelder.
  • Negative Emotionen wie Schmerz, Scham, Angst und Ekel sind stärker als positive.
  • Der Amok-Mörder der Columbine High-Schule war voller Hass auf Gott und Menschen.
  • Die Bibel setzt Opfern und Arbeiten gleich. Beides ist ein Hinauszögern von Befriedigung.
  • Was man hat, soll man teilen. Man sollte bekannt sein, durch das, was man tut. Nur das hat Bestand.
  • Warum verlangt Gott Opfer von Israel? Warum wird Abels Opfer von Gott angenommen, Kains jedoch nicht? Warum ist Gott nicht glücklich?
  • Denken ist wie zwei Avatare, die für einen reden. Man kann beim Denken auch mit einer anderen Person reden.
  • Wir sehen in der Welt nicht Geräte, sondern Werkzeuge. Wir verwandeln uns selbst in Nachbarn.
  • Alles ist einfach, wenn es sich gut benimmt.
  • Wir bevorzugen die Mitglieder unserer Gruppe, auch wenn sie zusammengewürfelt ist. Wir sind asozial gegen Mitglieder anderer Gruppen (laut Henri Tajfel (1919-1982), dem britischen Sozialpychologen polnischer Herkunft).
  • Die Figur des Superman wurde uninteressant, sobald er zu viel konnte. Begrenztheit ist wichtig. Das Sein erfordert Eingeschränktheit.
  • Das Sein ist ein Prozess. Es ist die Wandlung dessen, was man weiß.
Erleuchtete Worte

Nachdem der Autor von einem Freunde einen Kugelschreiber geschenkt bekam, der an seiner Spitze eine kleine LED-Lampe hatte, schrieb er alle ihm interessant erscheinenden Ideen nochmals auf. Dabei kommen alle 12 Lebensregeln noch einmal vor. So Regel 4: Räume Deinem Werden immer Vorrang ein vor Deinen Sein. Oder Regel 12: Denke an die, die nichts besitzen und versuche dankbar zu sein. Das Buch schließt mit den Sätzen: ‚Ich hoffe, die uralte Weisheit, die ich dargelegt habe, hat Ihnen Kraft verliehen. … ich hoffe, dass Sie wieder ins Lot kommen ... und in Ihrer Gemeinschaft Frieden und Prosperität einkehren lassen. … Ich wünsche Ihnen das Beste und hoffe, dass Sie andern das Beste wünschen‘.

Nachtrag vom 29.1.2020

Es gibt auch eine Liste mit 42 Regeln. Hier ist sie:



Das ist vielleicht doch des Guten zuviel. In der Beschränkung zeigt sich (oft) erst der Meister. Das wusste schon Goethe.

Donnerstag, 23. Januar 2020

C'est la Vie (oder der Philosoph im Krankenbett), von Peter Hiemann, Grasse

Der Zeitpunkt nach Weihnachten, an dem ich auf ärztliche Hilfe im Hospital angewiesen war, war extrem ungünstig. Viele Hospitalärzte streikten. Im Januar 2020 streiken französische Hospitalärzte nicht nur, viele von ihnen kündigen ihren Job. Mit der Begründung, dass sie vom Management daran gehindert werden, ihren medizinischen Aufgaben und Pflichten gerecht werden zu können − aufgrund unbefriedigender  administrativer Arbeiten, für die nicht studiert haben. Diese Streiks sind mehr als Protest, sie sind Hinweise, dass sich Motive und Prozesse für Arbeitsgruppenbildungen − nicht nur für Ärzte − grundlegend ändern, weil die Dominanz kontrolle-orientierter, kommerzieller Arbeitsbewertungen zunehmend  weniger akzeptiert wird.

Die Ärzte sind überzeugt, dass es darauf ankommt medizinische Qualitätsarbeit zu leisten. Generell wird die Qualität von Produkten und Dienstleistungen durch deren tatsächlichen Wert für einen Benutzer bestimmt. Nicht durch einen Verbraucher, für den ausschließlich Quantität und Preis einer Ware zählt.

Die Organisation befriedigender Arbeitsgruppen beruht nicht auf Kontrolle sondern darauf, dass menschengerechte Prinzipien beachtet werden und zur Geltung kommen können:
  • Hineinversetzen in mitmenschliche Situationen (Empathie)
  • Erwerb menschlicher Fähigkeiten
  • Befriedigung vermittels sinnvoller Tätigkeit
  • Bereitschaft zur Kooperation
  • Gesellschaftliche Anerkennung (Respekt).
Ein tatsächlicher Traum

Es ist fast unglaublich aber wahr, eine Nacht im Hospital hatte ich einen Traum: Ich  befand mich in einer Gruppe von Menschen, die über ein Thema aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen heftig stritten. Über das Thema und die Teilnehmer der kontroversen Auseinandersetzung hatte ich beim Erwachen keine Erinnerung. Beim Erwachen aus dem Traum erinnerte ich mich jedoch, dass ich von jemandem aus der Gruppe aufgefordert wurde, ich sollte mich zu der Kontroverse äußern. Ich gab den Streitenden zu verstehen, dass es völlig „normal' ist, unterschiedliche Ansichten zu vertreten: C'est la Vie. Es kommt oft nicht darauf an, Recht zu behalten, sondern die Gelegenheiten zu nutzen, irrtümliche geistige Vorstellungen  zu erkennen. Nach meinen Worten, die nichts zum Thema der Kontroversen beitragen wollten, schien sich die gespannte Atmosphäre etwas zu entspannen.  Vielleicht trugen meine Worte dazu bei, den Streitenden Zeit zu geben, ihre Vorstellungen zu überdenken. Zwei Hände applaudierten.

Anders als üblich behauptet, habe ich im Alter nicht das Gefühl (die Angst), dass mir die Zeit davonrennt, um im Leben nichts zu 'verpassen' und das Leben zu genießen. Im Gegenteil nehme ich mir  alle Zeit, die ich brauche, um Situationen zu reflektieren und Gedanken nachzugehen - eine Quelle beruhigender Gefühle.
  
Die Entwicklung  menschlicher geistiger Vorstellungen hat eine lange Geschichte.
Sie ist sowohl von wissenschaftlichen Erkenntnissen geprägt, als auch vom Erkennen grundlegender menschlicher Irrtümer. 

Parade der Irrtümer

Descartes' Irrtum war die Annahme, dass menschlicher Körper und Geist unterschiedlichen universellen Sphären angehören und doch funktionieren: „cogito ergo sum“ − „Ich denke, also bin ich.“ ist eine „Wahrheit so fest und sicher, dass auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten“

Adam Smith' Irrtum war die Annahme, dass der Markt wie eine “unsichtbare Hand“ für Gerechtigkeit und Wohlstand in einer Gesellschaft 'sorgt'.

Karl Marx' Irrtum war die Annahme, dass kapital-orientierten Produktionsweisen langfristig zwangsläufig in kommunistisch-orientierte Gesellschaftsverhältnisse münden. 

Lenins Irrtum war die Annahme, dass die Lehre von Karl allmächtig sei und und Technik wird langfristig sozialistisch-orientierte Gesellschaftsverhältnisse ermöglichen: "Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt."…."Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“

Mao Zedongs Irrtum war die Annahme; dass nur eine kommunistische Partei in der Lage ist, langfristig sozialistisch-orientierte Gesellschaftsverhältnisse zu schaffen: "Wir sind verpflichtet, das Volk zu organisieren. Was die chinesischen Reaktionäre betrifft, so sind wir verpflichtet, das Volk zu organisieren, damit es sie niederschlägt. Für alles Reaktionäre gilt, dass es nicht fällt, wenn man es nicht niederschlägt. Es ist die gleiche Regel wie beim Bodenkehren - wo der Besen nicht hinkommt, wird der Staub nicht von selbst verschwinden."

Ray Kurzweils Irrtum war die Annahme, dass menschliche Technologie die biologischen Entwicklungsprozesse übersteigt. Erheblich erweiterte menschliche Intelligenz breitet sich über das Universum aus. Muster von Materie und Energie im Universum werden von intelligenten Prozessen und Wissen durchdrungen: „Wenn wir wichtige Meilensteine der biologischen und technischen Entwicklung zusammen betrachten, sehen wir, dass biologische Evolution nahtlos in die Entwicklung durch  Menschenhand übergeht.“

Zeichen der Zeit

Am Beginn des 21. Jahrhunderts deutet der Zustand des Planet Erde daraufhin, dass Homo sapiens sich eingestehen muss, dass er leichtfertig dessen Zustand in eine prekäre Lage gebracht hat. Seine Annahme, dass der Planet unbegrenztes ökonomisches Wachstum und menschlichen Wohlstand verkraften kann, hat sich als Irrtum herausgestellt. Auch die Annahme, dass universelle (allmächtige) Kräfte existieren, die den Planeten in jedem Fall vor schädlichen Einflüssen der Menschen schützen wird, hat sich als Irrtum herausgestellt.

Eine 'nüchterne' Perspektive

Ausgerechnet Larry Fink, der Chef von Blackrock, dem wohl mächtigsten internationalen Vermögensverwalter, verschickte gleich eine ganze Reihe von blauen Briefen. Einige gingen auch nach Deutschland: an Siemens etwa, oder an die Deutsche Bank und den Energieversorger RWE. Darin forderte Fink von den Firmen mehr ökologisches Denken und Handeln ein.

Backrock-Vize Philipp Hildebrand stimmte in den grünen Aufruf mit ein: "Wir müssen festhalten, dass Klimarisiken auch Investitionsrisiken sind". Und diese Risiken könnten sich direkt auf die Bewertungen und die Erträge einer Firma auswirken. Kunden forderten inzwischen Lösungen von den Firmen ein, wie mit diesen Risiken umzugehen und wie die Konzerne sie beispielsweise in neue Produkte integrieren könnten.

Das klingt vom Tonfall ähnlich, wie ihn auch Fink angeschlagen hatte, als er seinen Brief begründete. Er habe ihn nicht als Umweltschützer, sondern als Kapitalist geschrieben, so der Blackrock-Chef. Geschäftssinn trifft Umweltbewusstsein sozusagen.

Dem vermeintlichen Widerspruch, dass ausgerechnet Blackrock als Anteilseigner der größten Öl- und Gaskonzerne weltweit nun grüner werden will, hält Hildebrand entgegen, dass "Öl noch jahrzehntelang Teil der Weltwirtschaft sein wird" und dass die Umstellung auf eine CO2-freie Wirtschaft ebenso lange dauern werde. Die Regierungen der Welt werden noch lange an 'physikalisch-orientierten', an existierenden kapital-orientierten, kapitalistischen Denkweisen festhalten. Langfristig werden sich jedoch 'organisch-orientierte' Denkweisen durchsetzen.

Marx' Kompagnon Friedrich Engels vertrat übrigens das evolutionär-orientierte Prinzip der Dialektik. „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“

Engels orientierte sich an Vorstellungen Friedrich Hegels. Hegel unterschied zwischen mechanischen, physikalischen und organischen Prozessen. In mechanischen und physikalischen Prozessen „fallen Vereinigung und Trennung der Stoffe noch auseinander, in den organischen Prozessen sind beide Seiten untrennbar verbunden. Die einzelnen anorganischen Prozesse sind voneinander unabhängig – im Organismus dagegen folgt ein Prozess auf den anderen. Darüber hinaus ist der Organismus grundsätzlich reflexiv strukturiert, während in den mechanischen und physikalischen Reaktionen eine bloße Wechselwirkung stattfindet. Hegel hält diese reflexive Struktur für das entscheidende Kriterium des Lebens: C'est la Vie.

Nach Ansicht des Soziologen Bruno Latour sollen bei kulturellen Betrachtungen alle Wechselwirkungen zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft berücksichtigt werden: „Versuchen Sie nicht, lediglich die 'Natur' zu definieren, denn dann müssen Sie auch das Wort 'Kultur' definieren; versuchen Sie nicht, lediglich die 'Kultur' zu definieren, denn dann werden Sie sogleich auch das Wort 'Natur' definieren müssen. Was heißt, dass wir es nicht mit Bereichen zu tun haben, sondern mit ein und demselben Konzept − einem Konzept, das in zwei Teile zerfällt. In der westlichen Tradition kann man nie von dem einen Teil sprechen, ohne den anderen zu erwähnen. Es gibt keine andere Definition der Natur als diese Definition der Kultur und keine andere Kultur als diese Definition der Natur.“

Montag, 20. Januar 2020

Libyen − ein Nicht-Staat, um den die Welt sich streitet

Seit Muammar al-Gaddafi im Jahre 2011 auf dramatische Art von der Spitze dieses Landes entfernt wurde, ist das Land nicht mehr regierbar (engl.: failed state). Der seit über 10 Jahren dort tobende Bürgerkrieg ist ein Stellvertreterkrieg. Beteiligt sind: Ägypten, Frankreich, Italien, Katar, Russland, Saudi-Arabien, die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE).

Die von der UN anerkannte Einheitsregierung unter Fayiz as-Sarradsch kontrolliert nicht viel mehr als die Hauptstadt Tripolis. Sie wird bekämpft von General Chalifa Haftar, den vor allem die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, Russland und Saudi-Arabien unterstützen. Er brachte bereits den größten Teil des Landes unter seinen Einfluss. Russland Unterstützung erfolgt indirekt, und zwar durch die so genannte Wagner-Gruppe, eine paramilitärische Einheit. Die Türkei hat sich auf die Seite der Einheitsregierung geschlagen.

Worum geht es?

Das Land ist ein Teil einer Wüste, einem Ausläufer der Sahara. Es hat kaum Einwohner und nur ganz wenige größere Orte. Aber es gibt dort Erdöl und Gas, eines der größten Vorkommen der Welt. Der französische und der italienische Staatskonzern (Total, ENI) sind dort als Erschließende tätig, aber auch der deutsche Wintershall-Konzern. Nach Russland und Norwegen ist Libyen Deutschlands größter Gaslieferant.

Aus Europas Sicht ist Libyen das primäre Durchgangsland für Migranten aus dem Teil Afrikas südlich der Sahara. Außerdem ist es derzeit das Rückzugsgebiet von Terroristen, die sich als Islamischer Staat bezeichnen. Deutschland ist nicht Kampf-Partei in dem herrschenden Konflikt, hat aber ein großes Interesse, dass die Flüchtlingsströme enden.

Berliner Konferenz

An der am letzten Sonntag in Berlin stattgefundenen Konferenz nahmen die Staatschefs von acht beteiligten Ländern teil, so Russlands Wladimir Putin, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, Abd al-Fattah as-Sisi von Ägypten, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte und der britische Premierminister Boris Johnson. Die USA waren durch ihren Außenminister Mike Pompeo vertreten. Die Konferenz fand im Bundeskanzleramt statt und wurde von Angela Merkel und Heiko Maas, dem deutschen Außenminister, geleitet. Die Führer der Konfliktparteien, Sarradsch und Haftar, hielten sich auch in Berlin auf. Sie waren nicht Teilnehmer der Diskussion, wurden jedoch von Angela Merkel informiert.

Ergebnisse und erste Bewertung

Nach Angaben von Angela Merkel hat man sich auf umfassende Schritte für eine politische Lösung geeinigt. "Wir können feststellen, dass alle einig sind, dass wir das Waffenembargo respektieren wollen", sagte sie in Berlin. Zudem sollen die internationalen Anstrengungen zur Überwachung des Embargos verstärkt werden. Gefordert wird eine umfassende Demobilisierung und Entwaffnung der Milizen. Verletzungen eines Waffenstillstandes sollen sanktioniert werden.

"Wir haben einen sehr verbindlichen Prozess vereinbart", sagte Merkel. Dieser solle immer wieder überprüft werden. Es solle ein Prozess sein, bei dem die Menschen in Libyen endlich wieder zu ihrem Recht kämen - das Recht auf ein friedliches Leben. Es solle bald ein erstes Treffen geben, das die Grundlage für einen gefestigten Waffenstillstand schaffen solle. Aktuell gibt es in dem Bürgerkriegsland nur eine Waffenruhe.

Diskutiert wurde auch die Entsendung internationaler Beobachter. Erst wenn es solch einen dauerhaften Waffenstillstand gebe und die libyschen Konfliktparteien dazu bereit seien, "dann könnte man auch eine Überwachung des Waffenstillstands ins Auge fassen". Sie wertete es als "großen Fortschritt", dass beide Konfliktparteien in Libyen fünf Namen genannt hätten, um ein sogenanntes Fünf-plus-Fünf-Militärkomitee einberufen zu können. Diese könne der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Ghassen Salamé, nun für den Folgeprozess einladen.

Der Prozess soll auf eine Rückkehr zum politischen Prozess unter Führung der Vereinten Nationen abzielen. Eine Reform des Sicherheitssektors müsse das Gewaltmonopol des Staates wieder herstellen, heißt es in der Erklärung. Gefordert wird die Respektierung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte. Wer für Angriffe auf Zivilisten und bewohnte Gebiete, Entführungen, außergerichtliche Tötungen und sexuelle Gewalt, Folter und Menschenschmuggel verantwortlich sei, müsse zur Verantwortung gezogen werden.

Annäherung bei europäischen Nachbarn

Ein besonderer Erfolg dieser Konferenz scheint zu sein, dass sich die europäischen Partner bei ihren Positionen im Libyen-Konflikt deutlich angenähert haben. Merkel verwies dabei unter anderem auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den britischen Premierminister Boris Johnson und den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell. Die Europäer hatten bisher teilweise unterschiedliche Parteien in dem Bürgerkrieg unterstützt. Sie habe jetzt das Gefühl, dass die Europäer näher beieinander seien als noch vor zwei Jahren.

UN sieht erste Reformerfolge in Libyen

UN-Generalsekretär António Guterres rief bei der Pressekonferenz alle Teilnehmer auf, nichts zu unternehmen, was den Weg zu einer friedlichen Lösung beinträchtigen könnte. Er wies darauf hin, dass es im wirtschaftlichen Bereich bereits erste Reformerfolge in Libyen gebe, etwa bei der Vereinheitlichung der Zentralbank oder bei der nationalen Ölorganisation. Zugleich unterstrich er, dass sich alle Konferenzteilnehmer einig waren, dass es keine militärische Lösung geben solle. Außerdem dankte er Kanzlerin Merkel für ihren Einsatz für eine friedliche Lösung des Libyen-Konfliktes.

NB: Die außenpolitische Emsigkeit von Kanzlerin Merkel ist geradezu auffallend. Sie arbeitet offensichtlich an dem Bild, das sie von sich hinterlassen will.

Montag, 6. Januar 2020

Bertolt Brecht und die Dreigroschenoper – mal etwas kritisch nachgespürt

Bertolt Brecht und seine Dreigroschenoper sind weltberühmt, Weniger bekannt ist, dass er dabei recht großzügig von andern Autoren kopierte, und das, ohne immer die Quellen zu benennen. Das war kein Zufall, sondern Absicht.

John Gay’s Bettleroper von 1724

Der größte Teil des Stoffes stammt aus einer recht bekannten englischen Quelle des 18. Jahrhunderts. Als The Beggars‘ Opera war das Werk von John Gay (1685-1732) mit der Musik von Johann Christoph Pepusch seit 1728 bereits ein großer Erfolg auf Londoner Bühnen. Es erfuhr in den 1920er Jahren eine Neuentdeckung und Wiederbelebung.

Darin kommen alle wichtigen Personen und Handlungselemente vor, so der Hehler Peachum und seine zwar unbedarfte aber romantisch veranlagte Tochter Polly, die sich zu dem Wegelagerer und Frauenhelden Macheath hingezogen fühlt. Mr. und Mrs. Peachum sind darüber so entsetzt, dass sie planen Macheath zu töten. Polly will ihn warnen und ihm zur Flucht verhelfen. Zwei Huren verraten Macheath an Mr. Peachum, der ihn verhaften lässt. Lucy, die Tochter des Gefängniswärters, besucht ihn. Ebenso wie Polly wird sie von Macheath betört, der die höfische Ausdrucksweise beherrscht und sich auf Schmeicheleien versteht, Auch Polly besucht Macheath und streitet sich mit ihrer Rivalin Lucy. Peachum bringt Polly nach Hause. Lucy stiehlt den Zellenschlüssel und verhilft Macheath zur Flucht. Lucy will Polly vergiften, aber Polly weigert sich, das Gift zu trinken. In der Zwischenzeit wird Macheath wieder eingesperrt. Die beiden Frauen bitten ihre Väter inständig darum, den Verhafteten vor der Todesstrafe zu retten. Am Galgen stehend, will er nun endlich gehängt werden. Ein Bettler tritt auf und fordert die Hinrichtung. Aus Rücksicht vor dem Publikum, das ein Happy End verlangt, wird Macheath freigesprochen.

Als Vorlage diente Brecht eine deutsche Übersetzung dieser Oper. Die Dreigroschenoper ist – trotz des Namens, der an die Vorlage angelehnt ist – keine Oper im engeren Sinn, sondern ein politisch engagiertes Theaterstück mit 22 abgeschlossenen Gesangsnummern, für die keine Opernsänger benötigt werden, sondern singende Schauspieler.

Aufführung in Berlin ab 1928

Die Uraufführung von Brechts Version fand im August 1928 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin statt. Das „Stück mit Musik in einem Vorspiel und acht Bildern“ wurde die erfolgreichste deutsche Theateraufführung bis 1933, einige Musiknummern wie die Moritat von Mackie Messer (engl. 'Mack the Knife') wurden Welthits. Kurt Weill vermischte in seiner Musik zur Dreigroschenoper Elemente aus Jazz und Tango, Blues und Jahrmarkts-Musik, und garnierte sie mit ironischen Seitenhieben auf Oper und Operette. Eine Musiknummer, der Morgenchoral des Peachum, wurde aus der Vorlage übernommen. Eingelegt sind Balladen nach François Villon (u. a. Ballade, in der Macheath jedermann Abbitte leistet, Ruf aus der Gruft oder Die Zuhälter-Ballade) und Rudyard Kipling (Der Kanonensong).

Die Dreigroschenoper wurde erst geschrieben, als Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann 1926 Presseberichte über den anhaltenden Theatererfolg der wiederentdeckten Beggar’s Opera von John Gay gelesen hatte. Zunächst erarbeiteten Brecht und Hauptmann gemeinsam eine erste Textfassung, einen großen Teil des Theaterstücks schrieb Hauptmann dann selbständig, wurde aber später im Zuge der weltweiten Erfolgsgeschichte nie entsprechend genannt oder gewürdigt (das Programmheft der Uraufführung nennt sie noch).

In einem Vertrag mit dem Verlag Felix Bloch Erben legte Brecht die Gewinnbeteiligung fest. Brecht bestand auf 62,5 Prozent. Weill erhielt 25, Elisabeth Hauptmann 12,5 Prozent. Im Juni und Juli 1928 arbeiten Brecht und Elisabeth Hauptmann dann an der französischen Riviera gemeinsam mit Weill und dessen Frau Lotte Lenya an der Endfassung. Brecht hatte für die Oper ursprünglich den Titel Gesindel vorgesehen. Erst Lion Feuchtwanger machte den Vorschlag, das Stück Dreigroschenoper zu nennen.

Lieder von Villon und Kipling

Brecht benutzte für die Dreigroschenoper einige Lieder von François Villon, die in der Übersetzung von K. L. Ammer (Karl Anton Klammer) erschienen waren. François Villon (1431-1463) war ein bekannter französischer Autor des Spätmittelalters, dessen Werke gerade neu ins Deutsche übertragen worden waren. In zahlreichen Balladen verarbeitete er die Erlebnisse seines abenteuerlichen Lebens als Scholar, Vagant und Krimineller. Es war der Kritiker Alfred Kerr, der im Mai 1929 entsprechende Vorwürfe gegen Brecht erhob. Brecht räumte daraufhin seine „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ ein (betroffen waren rund fünf Prozent der Verse).“

Ähnlich leichtsinnig verfuhr Brecht mit dem Kanonenlied, das er bei dem englischen Dichter Rudyard Kipling (1865-1936) gefunden hatte.

Soldaten wohnen auf den Kanonen von Cap bis Couch Behar.
Wenn es mal regnete und es begegnete
ihnen? ne neue Rasse,? ne braune oder blasse,
dann machen sie vielleicht daraus ihr Beefsteak Tartar.

Kiplings Gedicht heißt "Screw Guns". Es kommt zur Aufführung, weil Macheath und der Polizeichef sich daran erinnern, in Indien gedient zu haben – ein geografischer und inhaltlicher Sprung aus dem Milieu der Handlung in Soho.

Verfilmungen des Stoffes

Es glbt inzwischen sieben Verfilmungen des Stoffes.


Im Jahre 1930 hatte die Nero-Film AG Rechte für die Verfilmung vom Verlag Felix Bloch Erben erworben, als Regisseur war Georg Wilhelm Pabst vorgesehen. Finanziers waren die Warner Bros. und die Tobis-Film. Brecht sollte die „Grundlage für das Drehbuch“ liefern. So entstand im September 1930 das Filmexposé „Die Beule – Ein Dreigroschenfilm“. Mitte September 1930 begannen die Dreharbeiten zu zwei Filmfassungen, einer deutschen und einer französischen. Die Filmfirma beteiligte Brecht nicht mehr (der Vertrag war bereits am 23. August 1930 gekündigt worden), woraufhin dieser gemeinsam mit Kurt Weill gegen den Produzenten klagte, um ein Aufführungsverbot zu erreichen. Die Klage wurde in erster Instanz abgewiesen und endete schließlich mit einem Vergleich, wonach der Film fertiggestellt und 1931 in Berlin uraufgeführt werden konnte. Die Vorstellungen Brechts in seinem Exposé waren weitgehend unberücksichtigt geblieben. Im Zuge der Auseinandersetzung hatte die Filmgesellschaft gegen Brecht den Vorwurf erhoben, dem Film eine „ausgesprochen politische Tendenz“ geben zu wollen, was man als „politisch neutrale Firma“ nicht zulassen könne. Die Verfilmung und der Prozess sind Thema des Spielfilms Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm (2018). Es ist ein Film über einen Film, der nie gedreht wurde. Joachim Langs Film ist für einen Monat in der Arte Mediathek verfügbar.

Brecht als Lichtgestalt des Widerstands und der Linken

Bertolt BrechtBertolt Brecht (1898-1956) wuchs in gesicherten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen auf. Sein Vater Berthold Friedrich Brecht (1869–1939) war seit 1893 bei der Augsburger Haindl’schen Papierfabrik tätig. Er wurde 1901 zum Prokuristen und 1917 zum Direktor der kaufmännischen Abteilung ernannt.

Brecht schrieb außer der Dreigroschenoper eine Vielzahl von Bühnenstücken. Viele sind heute noch im Repertoire vieler Theater. Fast alle vermitteln eine sozialpolitische Botschaft. Ab 1930 begannen die Nationalsozialisten, Brechts Aufführungen vehement zu stören. Nach dem Reichstagsbrand verließ Brecht mit seiner Familie und Freunden Berlin und flüchtete ins Ausland. Seine ersten Exilstationen waren Prag, Wien, Zürich, danach Paris. Im April 1933 wurden seine Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt und die Aufführung seiner Werke verboten. Ihm wurde 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er erwarb ein Haus in Dänemark (Svendborg) und verbrachte dort die nächsten fünf Jahre. Im Jahre 1939 verließ er Dänemark, lebte ein Jahr in einem Bauernhaus in Lidingö bei Stockholm und im April 1940 in Helsinki.

Gegen Ende des Krieges hielt er sich in der Schweiz auf. Die Einreise nach Westdeutschland, speziell in die amerikanische Besatzungszone, wurde ihm jedoch untersagt. Als er von Freunden gedrängt wurde, nach Deutschland zurückzukommen und seine Stücke selbst zu inszenieren, entschied er sich 1948 dafür in das 'bessere‘ Deutschland, die DDR, zu gehen. In Ost-Berlin fand er Kontakt zu maßgeblichen Künstlern und Funktionären.

Noch während Brecht sich in der Schweiz aufhielt, hatte Helene Weigel alles Notwendige in die Wege geleitet, um für Brecht ein eigenes Ensemble gründen zu können. Genehmigt wurde schließlich ein Helene-Weigel-Ensemble, was Brecht insoweit entgegenkam, dass er sich auf die künstlerische Seite konzentrieren konnte.

Im Oktober 1951 erhielt Brecht den Nationalpreis der DDR. Brecht habe mit seinen Werken geholfen, „den Kampf für Frieden und Fortschritt und für eine glückliche Zukunft der Menschheit zu führen“, hieß es in der Laudatio. Als es am 17. Juni 1953 in Berlin zu Massenprotesten der DDR-Arbeiter kam, drückte Brecht noch am selben Tag in einem Brief an Walter Ulbricht seine „Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ aus. Des Weiteren schrieb er: ‚Es war offensichtlich, daß das Eingreifen der sowjetischen Truppen sich keineswegs gegen die Demonstrationen der Arbeiter richtete. Es richtete sich augenscheinlich ausschließlich gegen die Versuche, einen neuen Weltbrand zu entfachen. Es liegt jetzt an jedem einzelnen, der Regierung beim Ausmerzen der Fehler zu helfen, welche die Unzufriedenheit hervorgerufen haben und unsere unzweifelhaft großen sozialen Errungenschaften gefährden‘. Obwohl Brecht erste Skrupel bekam – die er allerdings nur im kleinen Kreise äußerte − begannen westdeutsche Bühnen seine Stücke von den Spielplänen abzusetzen. Heute sieht man Brecht seine DDR-Voreingenommenheit etwas nach.


Bert Brechts Vermächtnis 

von Peter Hiemann, Grasse
  
Bert  Brechts Weltanschauung war geprägt durch Karl Marx' ökonomische Studien und anderer Analysen kapitalorientierter gesellschaftlicher Verhältnisse. Brecht wusste aber auch die Vorteile ökonomischer Annehmlichkeiten zu schätzen. Joachim A. Langs Film “Mackie Messer: Brechts Dreigroschenfilm“ von 2018 ist ein Beitrag,  Brechts Gedankenwelt im Rahmen der gesellschaftlichen Wirklichkeit der 1920er Jahre darzustellen.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts muss Homo sapiens feststellen, dass sich seine Wirklichkeit grundlegend ändert. Sein Planet zeigt Homo sapiens die Grenzen des Wachstums. Homo sapiens kommt nicht umhin, gewohnte Denk- und Verhaltensweisen zu überdenken. Homo sapiens muss versuchen, eine Welt zu konstruieren, die allen Menschen das Überleben ermöglicht. Seine Natur wird nicht verhindern können, dass er wohl immer auch 'Moritaten' begeht.

Im Rahmen der gesellschaftlichen Wirklichkeit am Beginn des 21. Jahrhunderts drängt sich ein Vergleich auf.  

     Ein Lied der Moritaten am Beginn             Ein Lied der Moritaten am Beginn
             des 20. Jahrhunderts                              des 21. Jahrhunderts
                   (Brecht)                                                     (unbekannt)
      

     Und der Haifisch, der hat Zähne                Und Gaia, die hat Zähne                  
     Und die trägt er im Gesicht                        Und die trägt sie im Gesicht

     Und Macheath, der hat ein Messer            Und Poli, die hat ein Lächeln
     Doch das Messer sieht man nicht              Damit man ihre Mitschuld nicht erkennt.
     An 'nem schönen blauen Sonntag             In dem schönen, weißen Sand
     Liegt ein toter Mann am Strand                  Liegt ein totes Tier am Strand
     Und ein Mensch geht um die Ecke             Und ein Mensch geht um die Ecke
     Den man Mackie Messer nennt.                 Die man Poli Unschuld nennt.
    
     Und Schmul Meier bleibt verschwunden    Biene Maja bleibt verschwunden
     Wie so mancher reiche Mann                     Wie so manche Kreatur
     Und sein Geld hat Mackie Messer              Und Schuld ist Poli Unschuld
     Dem man nichts beweisen kann.                Der man nichts beweisen kann.
     Jenny Towler ward gefunden                      Jenny Towler ward gefunden
     Mit 'nem Messer in der Brust                       Vergiftet in der Brust.
     Und am Kai geht Mackie Messer                 Und am Feld steht Poli Unschuld
     Der von allem nichts gewusst.                     Die von allem nichts gewusst.
    
    Und das große Feuer in Soho                       Und das große Feuer im Wald:
    Sieben Kinder und ein Greis -                       Menschen mittendrin und
    In der Menge Mackie Messer, den                In der Menge Poli Unschuld, die
    Man nicht fragt, und der nichts weiss            Davon nichts wissen will.
    Und die minderjährige Witwe,                       Und die alleinstehenden Frauen
 
   Deren Namen jeder weiss,                            Deren Namen jeder kennt
    Wachte auf und war geschändet -                 Wachten auf und riefen:    
    Mackie, welches war dein Preis?                   Poli Unschuld, welches war dein Preis?


    Bill Lawgen und Mary Syer                            Bill Lawgen und Mary Syer      
    Wurden letzten Mittwoch Mann und Frau.     Wurden letzten Mittwoch Mann und Frau.
    Hoch sollen sie leben, hoch!                          Hoch sollen sie leben, hoch!
    Wenn die Liebe anhebt                                  Liebe ist mächtig und
    und der Mond noch wächst.                           Kann Berge versetzen.
    ›Wenn du wohin gehst,                                  Sie kann aber nicht
    geh ich auch wohin!‹                                      Wege weisen.
    Als sie drin standen vor dem Standesamt,     Als sie vor dem Priester standen, 
    Wusste er nicht,                                              Wussten sie nicht,
    woher ihr Brautkleid stammt.                          Woher das Brautkleid stammt.                  


    Das ist der Mond über Soho,                          Da scheint der Mond über das Meer        
    Das ist der verdammte                                    Und Poli Unschuld denkt den Text
   ›Fühlst-du-mein-Herz-Schlagen‹-Text,            ›Fühlst-du-mein-Herz-Schlagen‹.
    Anstatt dass sie was täten,                             Anstatt dass sie was denkt,
    was 'nen Sinn hat und 'nen Zweck,                 Was Sinn ergibt und 'nen Zweck hat,
    Machen sie Spaß.                                           Denkt sie vor allem an Spaß.                
                                      
   Grad als ob man ihnen eine                            Grad als ob man ihr eine
   Extrawurst gebraten hätt.                                Extrawurst gebraten hätt.
   Wach auf, du verrotteter Christ!                      Wacht auf ihr Unschuldigen
   Mach dich an dein sündiges Leben!                Gesteht eure Schuld,
   Zeig, was für ein Schurke du bist                    Zeigt euer Entsetzen!
   John war darunter und Jim war dabei,            John war darunter und Jim war dabei,           
   Und George ist Sergeant geworden,               Und George ist Sergeant geworden,
   Doch die Armee, sie fragt keinen, wer er sei   Doch Soldaten fragen nicht, wer sie sind
   Und marschierte hinauf nach dem Norden.     Und marschieren auf Befehl.
   
   Soldaten wohnen Auf den Kanonen                Soldaten wohnen auf Kanonen
   Vom Cap bis Couch Behar.                              Wo auch immer sie sind.
   Wenn es mal regnete                                       Dass Menschen flüchten,
   Und es begegnete                                            betrifft geht sie nichts an.
   Ihnen 'ne neue Rasse,                                      Poli Unschuld wird’s schon schaffen
   'ne braune oder blasse,                                    Mit Flüchtlingen zurechtzukommen
   Dann machen sie vielleicht daraus                   Auch wenn sie im Meer ersaufen        
   ihr Beefsteak Tartar.                                          Und alle zuschauen können.
  John ist gestorben und Jimmy ist tot,                John ist gestorben und Jimmy ist tot,
  Und George ist vermisst und verdorben,           Und George will nichts wissen,
  Aber Blut ist immer noch rot.                             Aber Blut ist immer noch rot.  

Nach anfänglichen wissenschaftlichen Studien entschied sich Bertolt Brecht unter Einfluss des Schriftstellers Lion Feuchtwanger zu einem Künstlerleben. Feuchtwanger äußerte sich sehr positiv über Brecht und wurde zu einem der wichtigsten und dauerhaftesten Förderer des jungen Brecht. Lion Feuchtwanger zählte in der Weimarer Republik zu den einflussreichsten Persönlichkeiten im Literaturbetrieb und gilt auch heute als einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts.

Wie viele Schriftsteller wollte auch Brecht gesellschaftliche Deutungshoheit nicht denjenigen überlassen, die über Machtbefugnisse verfügen. Brecht kritisierte gesellschaftliche Verhältnisse, indem er Geschichten verfasste, die seine Gedankenwelt repräsentierten.

In der Geschichte “Die Dreigroschenoper“ geht es Brecht um Ursachen der Armut und kriminelles Verhalten sowohl durch gesellschaftliche Eliten als auch durch organisierte Proleten. Einleitender Text von Brecht: „Sie werden jetzt eine Oper hören. Weil diese Oper so prunkvoll gedacht war, wie nur Bettler sie erträumen, und weil sie so billig sein sollte, dass Bettler sie bezahlen können, heißt sie “Die Dreigroschenoper‘“.

In der Geschichte “Das Leben des Galilei“ ging es Brecht in der ursprünglichen Fassung  um die Darstellung der Macht der katholischen Kirche gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis.  In einer späteren Version (nach den Atombomben in Japan) ging es ihm auch um die  Verwertbarkeit von Wissen sowie die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen von Wissenschaft und Technik.

In der Geschichte “Der kaukasische Kreidekreis“ erweist sich die Magd, die in Liebe und täglicher Pflichterfüllung das Kind ihrer Herrin lange betreut hat, als die wahrhaft Mütterliche und nicht die Herrin. Brecht am Ende der Geschichte: „dass da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind“.

Brechts Wunsch für die Gestaltung seines Grabsteins mit der von ihm vorgeschlagenen Aufschrift lautete: 

                Ich benötige keinen Grabstein, aber 
                Wenn ihr einen für mich benötigt, 
                Wünschte ich, es stünde darauf: 
                Er hat Vorschläge gemacht. 
                Wir haben sie angenommen. 
                Durch eine solche Inschrift wären
                Wir alle geehrt.

               
Dem wurde nicht entsprochen. Man darf annehmen, dass Brecht sich auch über menschliche Irrtümer Gedanken machte. Vielleicht revidierte Brecht seinen ursprünglichen Wunsch und entschied sich, sein Werk für sich sprechen zu lassen. Sein Grab ziert ein Stein mit seinem Namen.