Dienstag, 29. September 2015

Bericht aus dem Maschinenraum

Seit dem Wochenende bin ich stolzer Besitzer eines iPhone 6s. Das Hauptargument für den Kauf neuer Hardware war: Statt 4% (von 16 GB) auf dem iPhone 4 habe ich jetzt 82% (von 64 GB) freien Speicherplatz. Diese Situation hatte ich in meinem Leben im Schnitt alle 5-10 Jahre. Sie kommt sicher auch anderen Leuten bekannt vor.

Von außen ist das Gerät dem alten sehr ähnlich. Es ist etwas flacher. Dafür ist es statt 11 cm allerdings 13 cm lang. Es passt also nicht mehr in meinen Halfter (engl. holster). Im Moment dient ein weiches Brillenetui als Schutzhülle. Die Portierung meines Betriebssystems (IOS 9) und meiner Anwendungen übernahm dankeswerterweise ein jüngeres Familienmitglied. Meine 120 Apps wurden auf meinem Desktop zwischengespeichert (engl. backup) mit allen Daten, d.h. Fotos und Musik. Das System iTunes bot sich als Zwischenspeicher an. Die iCloud, die das normalerweise schneller macht, war gerade nicht verfügbar.

Innerhalb weniger Stunden wurden anschließend alle Apps voll automatisch auf das neue Gerät portiert. Ein Eingreifen war nicht erforderlich. Man konnte zusehen, wie eine App nach der anderen wieder Farbe annahm. Nur zwei Anwendungen wollten nicht mehr laufen. Das Navi-System Navigon, das von der Telekom als kostenloses Angebot zur Verfügung stand, erinnerte daran, dass die zwei Jahre des kostenlosen Betriebs abgelaufen seien. Ich musste eine Zusatzfunktion kaufen, um es wieder zu aktivieren. Ich entschied mich für den Fußgängerzusatz für 4,99 Euro (engl. urban guidance feature). Die App, die ich benutze, um mich an Geburtstage meiner Kontakte zu erinnern (engl. birthday reminder) gab es nicht mehr. Ich musste eine neue kostenlose App finden und installieren. Übrigens hätte ich mir diese Installation sparen können, da die neueste Kalenderversion von Apple diese Information auch liefert.

Eine technische Neuerung sticht hervor. Ich habe jetzt die Wahl, mich entweder per Code oder per Fingerabdruck als Besitzer des Smartphones zu identifizieren. Sowohl Daumen wie Zeigefinger der rechten Hand öffnen jetzt das System für mich. Hier wird also dem zunehmenden Alter Tribut gezollt. Es soll ja Senioren geben, denen es schwer fällt, einen vierstelligen Schlüssel zu behalten.

Wie weit ich die hoch gepriesene 3D-Funktion (engl. 3D touch) der Benutzerschnittstelle verwenden werde, wird sich erst in den nächsten Wochen herausstellen. Auch die erhöhte Leistungsfähigkeit des Rechners wird sich erst im Dauerbetrieb zeigen. Die Auflösung des Bildschirms ist deutlich besser. Auch das kommt älteren Nutzern entgegen. Da ich außerdem über ein iPad verfüge, habe ich jetzt die Wahl, wo ich lange Texte lese oder Fotos ansehe. Ob sich meine Arbeitsverteilung verschieben wird, muss sich herausstellen. Ich werde jedenfalls den SPIEGEL weiterhin auf dem iPad Air lesen. Auch die Fernsehfilme und Fußballübertragungen bleiben auf Tablets. Die Spielkarten bei Solitaire sehen auf dem iPhone 6s echt schöner aus als auf dem iPhone 4. Das ist nur ein Beispiel, allerdings ein nicht ganz unwichtiges.

Über Nachteile kann ich noch wenig sagen. Sie wird es auch geben. Es ist jetzt schon nicht zu übersehen, dass die Batterie mehr beansprucht wird. Alle Testberichte, die ich las, hoben diesen Punkt hervor. Nicht nur die Nutzer von Smartphones hoffen hier sehnlichst auf den technischen Fortschritt. Auch der gerade verunsicherten Automobilindustrie könnten bessere Batterien helfen.

Nachtrag 

Nachdem ich mich in diesem Bericht leicht positiv über ein Produkt der Firma Apple geäußert hatte, bekam ich anschließend gleich ein schlechtes Gewissen. Würde ich Jonathan Franzen, dem US-Erfolgsautor, folgen, würde ich meine Zeit nicht darauf verschwenden, seine Texte auf meinem iPad zu lesen, sondern stattdessen würde ich nur noch eigene Geschichten erzählen. Im SPIEGEL 40/2015 ist Franzens Festrede aus dem Jahre 2012 an der UC in Santa Cruz wiedergeben. Darin heißt es:

Die ikonischen Helden der Gegenwart sind Tech-Unternehmer Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos. Das hat etwas Deprimierendes, oder? Eine Handvoll nachweislich nicht sehr netter weißer Männer darf sagenhaft reich und berühmt werden, während wir anderen 99,99 Prozent weiter nach den Regeln spielen, fair miteinander umzugehen versuchen und unterdessen nicht aufhören können, diese skrupellosen weißen Männer noch reicher zu machen, indem wir ihre Produkte benutzen.

Dass er es (wie dem weiteren Verlauf der Rede zu entnehmen) erlaubt, für eigene schriftstellerische Arbeiten einen iMac zu verwenden, ist schon sehr gnädig. Mein Dell PC kommt für Literaten anscheinend nicht in Frage. Wie gut, dass wir Techniker eigene Gedanken und Präferenzen haben dürfen. Dass Literaten und Künstler sich in Fragen von Wirtschaft und Technik äußern, kann und soll niemand ihnen verbieten. Schlecht wäre es nur, wenn man auf ihren Rat angewiesen wäre, oder sich von ihnen belehren ließe.

Donnerstag, 24. September 2015

Fluchtgrund Bürgerkrieg in Syrien und im Irak

Die Flüchtlingsströme, unter denen Europa in diesem Sommer leidet, stammen zum großen Teil aus Syrien und dem Irak. In einem Blog-Beitrag vor drei Wochen hatte ich die Situation in Syrien wie folgt beschrieben: 

In Syrien ist die Lage total verworren. Der Aufstand gegen Assad fand keinerlei Unterstützung von außen bis zu dem Zeitpunkt, als Assad 2013 gegen die eigene Bevölkerung Giftgas einsetzte. Danach bildet der IS eine dritte Front. Amerikaner, Jordanier, Engländer und Franzosen, die keine Bodentruppen einzusetzen bereit sind, versetzen bereits ein Jahr lang Stecknadelstiche aus der Luft. Der Effekt ist minimal. …. Das Vertrauen, dass sich die Situation alsbald ändert, ist in der Bevölkerung inzwischen verschwunden. Kommt uns der Westen nicht zur Hilfe, bleibt nur noch die Möglichkeit in den Westen zu fliehen.

Um die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) ranken sich Rätsel und Mythen. Das ist teils beabsichtigt, teils dem Mangel an verlässlicher Information geschuldet. Zwei Bücher, die in diesem Jahre erschienen, enthalten gut belegte Detailinformationen zur Lage in Syrien und im Irak. Jürgen Todenhöfer (Jahrgang 1940) ist ein deutscher Politiker und Publizist, der Ende 2014 eine Reise in das Kriegsgebiert unternahm. In seinem Buch Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat‘, das im April 2015 erschien, berichtet er darüber. Dem SPIEGEL-Korrespondenten Christoph Reuter (Jahrgang 1968) wurden Unterlagen zugespielt, die bisher unbekannte Details über die interne Organisation des IS enthielten. In dem ebenfalls im April 2015 erschienenen Buch Die schwarze Macht stellt er seine Sicht des IS dar. Ich las beide Bücher hoffend, dass sie etwas Licht in das chaotische Geschehen bringen.

Kurze Vorgeschichte

Die heutige Situation im Nahen Osten ist Folge des 11. September 2001. Von Osama Bin Ladin gelenkte Selbstmordattentäter griffen die Weltmacht  USA auf ihrem eigenen Territorium an. Beim anschließend von George W. Bush ausgerufenen Krieg gegen den Terror engagierten sich die USA im Irak und in Afghanistan. Erst nach 10 Jahren zogen sich die USA und ihre Verbündeten unter Barack Obama wieder zurück. Es gelang in beiden Fällen nicht, politisch stabile Verhältnisse zu hinterlassen.

Für die hier betrachtete Region sind die folgenden Maßnahmen bzw. Ereignisse  besonders erwähnenswert. Bei der Neugestaltung des Iraks wurden Saddam Husseins Parteigänger in der Baath-Partei und seine Militärs völlig übergangen. Sie wichen daher in den Untergrund aus. Außerdem versuchte Osama bin Ladins Stellvertreter, der Jordanier Abu Mussab az-Zarqawi einen neuen Sammelpunkt für Al Qaida-Kämpfer im zentralen Irak zu schaffen. Durch gezielte finanzielle Unterstützung sunnitischer Milizen gelang es den Amerikanern, Al Qaida aus dem Irak zu vertreiben. 

Bei ihrem Abzug aus dem Irak hinterließen die Amerikaner ein dreigeteiltes Land. Von Bagdad nach Süden war das Land in der Hand von Schiiten. Diese waren von Saddam Hussein und der sunnitischen Mehrheit unterdrückt worden. Mit der Unterstützung aus Teheran im Rücken, übernahmen sie jetzt eine dominierende Funktion. Das mittlere Gebiet, mit dem Zentrum in Falludscha, gehört den Sunniten. Unter der Präsidentschaft von Nuri al-Maliki fühlten sie sich benachteiligt, was den Zugang zu Ämtern und Besitztümern betrifft. Im Norden um die Stadt Erbil besitzen die Kurden einen weitgehend unabhängigen Staat.

Heutige Situation in Syrien

Beim IS denken viele Zeitgenossen zuerst an Syrien. Hier nahm er bekanntlich seinen Ausgang. Baschar al-Assad, der Staatspräsident Syriens, verdankt seine Macht der Stammes- und Religionsgemeinschaft der Alawiten. Obwohl auch er der Baath-Partei angehört, sah er in Saddam Hussein einen politischen Gegner. Auf Betreiben Kuweits, Saudi-Arabiens und der USA kam es um 2010 zu einer Oppositionsbewegung gegen Assad, deren militärischer Arm sich als Freie Syrische Armee (FSA) bezeichnet. Ihr schlossen sich desertierte Soldaten und Offiziere der syrischen Armee an. Auch England und Frankreich, die beiden ehemaligen Kolonialmächte dieser Region, unterstützen die FSA. Gleichzeitig bildete sich die radikal-islamistische Nusra-Front. Sie ist befreundet aber nicht identisch mit Al Qaida, aus der nach einigen Umbenennungen schließlich der IS hervorging. Weitere 4-5 andere Rebellengruppen, die in Syrien für Unruhe sorgen, sollen der Einfachheit halber hier übergangen werden. Wichtig ist es zu bemerken, dass Assad zwei strategisch wichtige Verbündete hat, Russland und Iran. Russland verfügt über eine Flottenbasis bei Latakia an der Mittelmeerküste und beliefert Assads Armee mit Waffen und Munition. Teheran hat Kontakte zur Hisbollah im Libanon.

Wegen der leichten Verfügbarkeit von Waffen, hätten sich alle Rebellengruppen, vor allem die Nusra-Front und der IS, radikalisiert  ̶  so schreibt Christoph Reuter. Gemeint ist, dass friedliche und versöhnliche Elemente in den Hintergrund gedrängt wurden. Wie oben erwähnt. war es Anfang 2010 gelungen, die Aktivitäten von Al Qaida im Gebiet der Stadt Falludscha weitgehend zu unterbinden. Ihr Anführer Abu Bakr al Baghdadi wich nach Syrien aus. Al Qaida formierte sich neu und nahm den Namen IS an. Neben Abu Bakr übernahmen ehemalige Geheimdienstler und Militärs, die früher im Dienst von Saddam Hussein gestanden hatten, das Ruder. Es formte sich eine bisher einmalige Symbiose von Baath-Aktivisten und Islamisten. Sie arbeiteten Anfangs mit Assads Geheimdienst zusammen. Assad sah sie als das kleinere Übel an im Kampf gegen die Rebellion. Im seit 2012 tobenden Kampf um Aleppo schonte man sich gegenseitig. Assads Bomber mieden die Stadteile, in denen sich Kämpfer des IS aufhielten. Der IS schoss nicht auf Assads Truppen. Als Abu Bakr Mitte 2013 den IS als eigenes Staatsgebiet ausrief, wurde die 200.000-Einwohner-Stadt Raqqa, östlich von Aleppo, zur provisorischen Hauptstadt erklärt. Abu Bakr nahm den historischen Titel eines Kalifen an, und beanspruchte damit die geistige Herrschaft über alle Muslime der Welt. Wie weit er im Zusammenspiel mit den Baath-Aktivisten überhaupt politischen Einfluss hat, ist eine offene Frage. Bezeichnend ist, dass Assads Regierung weiterhin alle Gehälter und Pensionen in Raqqa zahlt  ̶  obgleich sie die Hauptstadt eines anderen Staates sein soll.

Die Vorgehensweise des IS unterschied sich fortan von allen andern Rebellengruppen, insbesondere aber von der ursprünglichen Al Qaida. Sie infiltrierte eine zu erobernde Stadt mit einer Spähtruppe (Missionsbüro genannt), die zuerst alle strategischen Punkte besetzte und, basierend auf den sozialen Strukturen der Stadt, einen Organisationsplan verfertigte. Sobald die Stadt eingenommen war, wurde die alte Verwaltung durch neue Funktionsträger ersetzt. In guter Stasi-Manier werden alle Funktionsträger und die Bürger der Stadt intensiv beobachtet. Besonderer Wert wird auf Medienarbeit gelegt. Die religiöse Botschaft dient nur noch als Mittel zum Zweck. Wer diese Strategie entworfen hatte und auch umsetzte, war ein Luftwaffenoberst (Pseudonym Haji Bakr) aus dem früheren irakischen Geheimdienst. Seine Unterlagen gerieten in Januar 2014 in die Öffentlichkeit, als er in einem Feuergefecht mit einer andern Rebellengruppe erschossen wurde.

Der IS bediente sich in Syrien bewusst brutalster Methoden, um die Bevölkerung und ihre Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen. So töteten sie etwa 700 Angehörige eines Stammes (der Al-Schuaytat), als diese sich weigerten, gewisse Auflagen zu erfüllen. Die Weltöffentlichkeit wurde erschüttert durch die brutale Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley im Sommer 2014. Der Engländer John Cantlie blieb am Leben, da er für den IS als Fernsehreporter zu dienen bereit war. Jürgen Todenhöfer, der sich während seines Besuchs nach ihm erkundigte, wurde gebeten im Fernsehen des IS zum Gefangenenaustausch aufzurufen, was er jedoch ablehnte.

Auch das Verhältnis zu Assad änderte sich. Seine Luftwaffe bombardierte jetzt auch die Stellungen des IS, sowie das von ihr besetzte Gebiet. Da Assad nur über ältere Flugzeuge verfügt, finden seine Angriffe tagsüber statt. Nachts greifen amerikanische Flugzeuge dasselbe Gebiet an, und zwar mit schwereren und präziser treffenden Bomben. Der IS ist auch deshalb gefürchtet, weil er immer wieder auf Selbstmord-Attentäter (so genannte Märtyrer-Operationen) zurückgreift. Ein großer Teil der IS-Kämpfer sind Ausländer. Es wird geschätzt, dass ihr Anteil in Syrien bei 70% liegt [hier sind vermutlich die Iraker im IS mitgezählt]. Die Gesamtzahl der Kämpfer in Syrien soll etwa 6.000 bis 8.000 betragen. Ihr Nachschub erfolgt über die ‚Grüne Grenze‘ zur Türkei, die auch Flüchtlingen als Ausweg dient. Die einen freuen sich, wenn sie den brodelnden Kessel verlassen können, die andern, wenn sie einsteigen können.

Heutige Situation im Irak

Die Anti-Maliki-Stimmung im Irak machte es dem IS leicht, wieder in den Irak zurückzukehren. Wie üblich, war der Eroberungszug minutiös geplant. Überall zwischen Raqqa und Mossul waren ‚Missionare‘ als Schläfer platziert, die den potentiellen Gegner irritierten oder lahmlegten. Nur so ist zu verstehen, dass im August 2014 ein wilder Haufen maskierter Jugendlicher eine Millionenstaat überrennen konnte. Die Zahlenangaben schwanken enorm. Auf der Seite der Angreifer sollen es zwischen 200 und 400 Kämpfern gewesen sein. Sie waren allerdings mit moderneren Waffen und Fahrzeugen ausgerüstet als die Verteidiger. Es gab im Grunde keinen Widerstand. Nach vier Tagen befand sich die ganze Stadt und ihre zwei Millionen Einwohner in der Hand des IS. Die Garnison der irakischen Armee soll 20.000 Soldaten stark gewesen sein. Zuverlässiger ist die Angabe, dass es sich um zwei verschiedene Divisionen handelte. Wie stark ihre tatsächliche Kampfkraft noch war, lässt sich weniger gut sagen. Dass in Mossul 1.700 Maliki-Soldaten erschossen worden seien, gilt als unbelegt. Für Propagandazwecke ist die Zahl jrdoch nützlich.

Wie Todenhöfer bei seinem Besuch im Dezember 2014 feststellte, lagen einige zerstörte Panzer herum. Es wird erwähnt, dass rund 200 Panzer und 10-15 Jets bei der Eroberung von Mossul erbeutet wurden. Es fehlen allerdings ausgebildete Fahrer und Piloten, um sie zu nutzen. Die zerstörten Häuser in Mossul resultierten eher von dem anschließenden Bombardements durch irakische und amerikanische Flieger. Das Leben in der Stadt ging weiter wie bisher, zumindest was die sunnitische Bevölkerung betrifft. Die Christen wurden vor die Wahl gestellt, Schutzsteuer zu zahlen oder zu fliehen. Rund 120.000 Christen sollen Mossul in Richtung Erbil verlassen haben. Die Berichte über Massaker, die der IS im Sommer 2014 unter der Religionsgruppe der Jesiden verübte, die das Sindschar-Gebirge bewohnten, scheinen zutreffend zu sein. Alle Zahlenangaben sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, auch die Zahlen über vergewaltigte oder als Sklavinnen verkauften Frauen.

Absurditäten oder nur Kuriositäten?

Jürgen Todenhöfer wurde während seines Aufenthalts in Mossul unter anderem von zwei deutschen Islamisten begleitet. Einer stammte aus Düsseldorf (Abu Quatadah), der andere aus Solingen (Abu Loth). Was er sich anhören musste, wenn er nach der Ideologie des IS bohrte, das war selbst für ihn schwer zu schlucken. Hier einige Kostproben:
  • Der IS erzwingt die Verschleierung von Frauen und das Rauchverbot in der Öffentlichkeit, weil dies im Interesse der Betroffenen ist. Dass Frauen als Sklaven gehalten werden, hat im Islam Tradition.
  • Wer akzeptiert, dass der Staat eigene Gesetze erlässt, ist kein (wahrer) Muslim. Er ist ein Abtrünniger.
  • Alle Christen und Juden, die unter Muslimen leben möchten, müssen eine Schutzsteuer zahlen. Alle Schiiten müssen konvertieren oder werden getötet. Das gilt für alle 200 Millionen von ihnen.
  • Der IS ist nicht auf den Nahen Osten beschränkt. Als Nächstes kommt Nord­afrika dran (Ägypten, Libyen, Tunis), danach Europa.
  • Die heute in Europa lebenden Muslime sollten nicht ruhig schlafen, während ihre Brüder bombardiert werden.    
  • Der IS wird alle Untaten rächen, die Christen an Mohammedanern verübten, seit den Kreuzzügen und der Wiedereroberung Andalusiens bis heute.
Während Todenhöfer sich während der Reise aus verständlichen Gründen sehr zurückhielt, schrieb er von zuhause aus einen offenen Brief an Abu Bakr. Er wies diesen darauf hin, dass die vom IS begangenen Gräueltaten dem Geist des Korans widersprächen, der in seinen 114 Suren Allah 113 Mal wegen seiner Barmherzigkeit preist. Der IS sei ein ‚antiislamischer Staat‘. Die Westler, die sich dem IS anschlössen, würden missbraucht, um den Islam zu zerstören. Todenhöfer scheint unter dem Eindruck zu stehen, dass Abu Bakr der die Macht besitzende und ausübende Führer des IS ist und nicht nur eine Galionsfigur.

Mögliche Auswege und Lösungen

Wie andere Beispiele zeigen, kann ein langer Bürgerkrieg zu einer völligen Destabilisierung eines Staates oder einer Region führen. Es besteht wenig Veranlassung mit einem bevorstehenden ökonomischen Kollaps des IS zu rechnen. Nach Schätzung von Masud Barzani, dem Präsidenten der Region Kurdistan im Irak, nimmt der IS durch Erpressung und Öl-Diebstahl jeden Tag drei Millionen US-Dollar ein.

Solange tägliche Nadelstiche per Drohnen oder Kampfbomber das einzige Gegenmittel sind, besteht eher die Gefahr einer Ausweitung als einer Beendigung des Bürgerkrieges. Die Kollateralschäden unter Zivilisten bestimmen dann das Bild. Wie heißt es doch: Jedes durch Bomben getötete Kind schafft zehn neue Terroristen. Im Irak auf eine Aussöhnung zwischen Schiiten und Sunniten zu hoffen, fällt schwer, schwelt doch der Streit bereits 1400 Jahre lang. Christoph Reuter beendet sein Buch mit dem Satz: Die Menschen (in der arabischen Welt) müssen den Islam durchleben, und sein Heilsversprechen entlarven. Diese Aussage mag wegen ihrer Radikalität übertrieben sein.

Nach dem 30 Jahre andauernden Krieg im 17. Jahrhundert (1618-1648) hat in Europa die Vernunft und Toleranz schließlich einen Durchbruch erzielt. Zwei Kirchen verzichteten auf ihren Alleinvertretungsanspruch. In andern Fällen gingen die beteiligten Regierungen den Weg der Aufteilung des Landes und der Umsiedlung der Bevölkerung. Ob Russlands Verstärkung seiner militärischen Präsenz in Syrien den Ausschlag zu Gunsten Assads ergeben wird, lässt sich zurzeit noch nicht sagen. Dass das verbesserte Verhältnis der USA zu Teheran helfen kann, auch diesen Konflikt zu beenden, ist bestenfalls eine vage Hoffnung. Ich sehe sehr wenig, was Deutschlands und Europas Politiker tun können. Wer sie trotzdem in der Verantwortung sieht, ist ein unverbesserlicher Optimist oder aber er scheint die letzten 100 Jahre verschlafen zu haben.

Historische Reminiszenz

Ganz zum Schluss möchte ich daran erinnern, dass es auch Zeiten der Zusammenarbeit zwischen Christen und Mohammedanern gab, also zwischen Europa und dem Nahen Osten. Als deutscher Kaiser besuchte Wilhelm II. von Hohenzollern 1899 Akko, Jerusalem und Damaskus. Er sah sich damals in einer Linie mit dem Hohenstaufer Friedrich II., der Jerusalem 1228 einen friedlichen Besuch abgestattet hatte. Deutschlands Freundschaft mit der Türkei führte 1916 zu Englands Eingriff im Nahen Osten und schließlich zu der Schlacht von Gallipoli. England und Frankreich zogen dann als Siegermächte des Ersten Weltkriegs die so genannte Sykes-Picot-Linie, die heute noch Syrien und Irak trennt. Der IS hat sie aufgehoben, soweit sein Machtgebiet reicht.

Dienstag, 15. September 2015

Von Heller und Batzen zu Bitcoins – Gedanken übers Geld

Das Thema Geld ist zweifellos sehr interessant. Es beschäftigt viele Menschen. Auch mich als Ingenieur und Informatiker fasziniert es. Die eminent wichtige Frage, die sich vielen aufdrängt, heißt: Wie komme ich an Geld, oder besser, zu Geld. Natürlich will jeder von uns genug davon haben. Schon dahinter steckt wieder eine offene Frage: Was heißt hier genug? Anstatt mich mit diesen und anderen lebenswichtigen Fragen auseinander zu setzen, weiche ich ins Grundsätzliche aus. Ich stelle die Frage: Was ist eigentlich Geld? Meine Antwort ist bewusst vereinfachend. Manche Details, die ein Fachmann nicht weglassen würde, mussten dran glauben.

Funktion des Geldes

In jedem Lehrbuch oder Lexikon der Volkswirtschaft steht: Geld hat drei Funktionen: es ist Zahlungsmittel, Währungseinheit und Werterhaltungsmittel. In einfachen Worten ausgedrückt, die auch Klein-Fritzchen versteht, heißt dies:

(a) Zahlungsmittel: Geld dient dazu, ungleiche Dinge zu tauschen. 'Ich gebe Dir etwas oder tue etwas, wenn Du mir dafür X Euro gibst.' Die Ungleichheit kann sich auch auf den Zeitpunkt beziehen, an dem Angebot und Nachfrage aufeinander treffen. Ganz am Anfang gab man bei uns Gold oder Silber (und Kupfer) her, anderswo schöne Steine oder Muscheln. Es funktionierte, weil meist ein Fürst oder König drohte denjenigen zu bestrafen, der mogelt, d.h. der sein Wort nicht hält, also Vertrauen missbraucht. Geld ist eine Sache des Vertrauens. Vor allem bei Papiergeld ist es sogar Glaubenssache, und zwar Glaube daran, dass die Notenbanken (Fed und EZB) die Dinge unter Kontrolle behalten.

(b) Währungseinheit: Der Nominalwert einer Währung ist die Dimension oder die Einheit in einem bestimmten Währungsraum. Er war der Gegenwert von irgendetwas zu irgendeinem Zeitpunkt, etwa einer früheren Währungseinheit (1 Euro = 1,95583 DM) oder eines bestimmten Handelsguts. Der Wert einer Währung erodiert im Laufe der Zeit. Einige Experten sagen, dass muss so sein, d.h. es muss Bewegung da sein. Sonst würde die Wirtschaft nicht funktionieren. Auch hätten die vielen Finanzjongleure ja nichts zu tun. Es gibt Kursbewegungen im Verhältnis verschiedener Währungen zu einander. Es gibt Deflation und Inflation innerhalb einer Währung. Deflation tritt ein, wenn die verfügbare Geldmenge zu knapp ist bezogen auf das Warenangebot; Inflation, wenn zu viel Geld im Umlauf ist - grob vereinfacht ausgedrückt.

(c) Werterhaltungsmittel: Früher glaubte man, dass Geld, das man im Boden vergräbt oder unter das Kopfkissen legt, seinen Wert behält. Das hat sich jedoch als Illusion erwiesen, zumindest bei Papiergeld. Bei Edelmetallen stimmt es noch weitgehend, auch dann wenn es noch gar nicht zu Geld geprägt worden war. Aber auch hier gibt es Schwankungen.

Medium Geld und Währungen

Geld ist einerseits ein Kontinuum, so wie Wasser und Luft. Es lässt sich aber auch gut konkretisieren und messen. Dazu dienen Währungen Es gibt deren fast so viele, wie es Staaten gibt. Nur in Europa versuchen 19 Staaten mit derselben Währung, dem Euro, klarzukommen. Dass dies nicht ganz einfach ist, beweisen die regelmäßigen Währungskrisen. Das Beispiel Griechenland ist in aller Munde. Auch in diesem Blog kamen Währungsfragen wiederholt vor, so zum Beispiel im Dezember 2011, im August 2012 und zuletzt im Juni 2015. Wenn ich die beiden älteren Blogs lese, bin ich überrascht, wie wenig ich heute anders ausdrücken würde. Zugegeben, das klingt etwas nach Selbstlob. Hier werde ich einige zusätzliche und generelle Fragen zu beleuchten versuchen.

Interessante, teilweise offene Fragen

Die im Folgenden behandelten Fragen tauchen auf, wann immer über Geld und Währungen gesprochen wird. Die Auswahl ist subjektiv, die Erläuterung erst recht. Sie ist bestenfalls die Meinung eines interessierten und leidlich informierten Laien. 

·    Leitzins: Der Leitzins legt fest, zu welchen Kosten Geschäftsbanken zusätzliches Geld von der Notenbank bekommen können. Sie können damit ihrerseits die Realwirtschaft eines Landes unterstützen oder aber eigene Geschäfte betreiben. Letzteres wird den Banken von vielen Leuten übel genommen. Da in den letzten Jahren die Gefahr einer Deflation gesehen wurde, liegt bei den beiden Hauptwährungen der Leitzins schon seit geraumer Zeit auf einem historischen Tiefpunkt (unter 1 %). Ob und wann man zu ‚normalen Zinssätzen‘ (um 4 %) zurückkehrt, darüber wird spekuliert. Das Ziel der US-Notenbank (Fed) und der Europäischen Zentralbank (EZB) ist es, eine gleichbleibende Inflationsrate von rund 2 % über Jahre hinweg zu erreichen.

·   Geldmengenpolitik: Ob die Währungshüter dabei überhaupt noch eine signifikante Rolle spielen, ist eine Frage, die Fachleute gerade beschäftigt. Wie gleich ausgeführt, sind Zentralbanken nur einer unter vielen Geldschöpfern. Ein Problem ist, dass oft das Geld, das Zentralbanken schaffen, um damit die Realwirtschaft anzukurbeln, gar nicht dort ankommt. Es wird oft von Geschäftsbanken missbraucht, um eigene Wertpapiergeschäfte zu betreiben.

Geldschöpfung: Heute entsteht Geld auf zweierlei Art. Eine Zentralbank druckt Banknoten oder vergibt Kredite. Das gilt als der normale Weg. Gleichzeitig schaffen andere Banken neues Geld, indem sie ihrerseits Kredite vergeben, die wesentlich höher sind als ihre Einlagen. Diese Schulden erhöhen die im Umlauf befindliche Geldmenge, egal ob dies Schulden von Privatleuten, Unternehmen oder Staaten sind. Da die Verschuldung überall auf der Welt astronomische Ausmaße angenommen hat, überwiegt das auf diese Weise erzeugte Geld das von Zentralbanken generierte um Größenordnungen.

Währungsdeckung: Zu sagen, eine Währung muss durch Wirtschaftsgüter gedeckt sein, war einmal die gängige Vorstellung von Ökonomen. Aus dieser Zeit verfügen die USA über ihre Goldbestände in Fort Knox. Auch die Deutsche Bundesbank, und nicht die EZB, hat erheblichen Goldbestand. Politiker möchten dieses Gold gerne an Juweliere und Zahnärzte verkaufen. Nur die Banker weigern sich. Wie Kobolde hüten sie den meistens unterirdisch gelagerten Schatz. Heute sind 10-15 Mal mehr Dollar, Euro, Yen oder Pfund im Umlauf als es Wirtschaftsgüter auf der ganzen Welt gibt. Der Handel mit Vertrauen übersteigt längst den altmodischen Handel mit Waren.

Staatsschulden: Kaum ein Staat kommt ohne Schulden aus. Manche Ökonomen halten es für eine Verfehlung, wenn ein Staat sich knauserig verhält, also nicht mehr ausgibt als er einnimmt. Wie ein Unternehmer so muss auch ein Staat investieren, und zwar möglichst nicht nur mit eigenem, sondern auch mit fremdem Geld. Die berühmte schwäbische Hausfrau wird dann ins Feld geführt – und zwar als Negativbeispiel. Nicht ihre Sparsamkeit ist hier das Problem, sondern das von ihr verkörperte Frauenbild: Sie pflegte nur so viel Geld auszugeben, wie der Hausherr ihr gab. Einsame Spitzenreiter bezüglich Staatsschulden sind die USA. Wie im November 2012 in diesem Blog ausgeführt, müsste ein US-Präsident, der auch nur einen Cent für die Schuldenreduzierung aufwendet, sofort aus dem Amt enthoben werden. Da die Zinsbelastungen durch Schulden nicht mehr stören, wenn der Zinssatz gegen Null geht, gibt es nur noch die Gefahr, Gläubiger zu verprellen oder im Geld zu ertrinken. Andere Staaten müssen erkennen, dass die USA ihnen in der Währungspolitik nicht länger als Vorbild dienen kann. Sie tun gut daran dafür zu sorgen, dass ihre Schulden nicht das Bruttoinlandsprodukt (BIP) überschreiten. Da Griechenland dies nicht schaffte, ist die Not dort groß.

Weiche und harte Währungen: Mit der Härte einer Währung ist nicht mehr das Gefühl gemeint, dass beim Beißen in ein Geldstück entsteht. Eine weiche Währung gibt leicht im Kurs nach, und muss oft durch Eingriffe der Zentralbank des Landes gestützt werden. Eine starke Währung hat die Tendenz im Kurs zu steigen. Der Schweizer Franken ist eine typische starke Währung. Die Schweizer Wirtschaft muss dagegen ankämpfen. Ein Problem des Euro besteht darin, dass er einerseits ‚zu stark‘ ist für die Südländer (Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal und Spanien) und ‚zu weich‘ für die Nordländer (Deutschland, Niederland, Finnland).

Historisches zu Geld und Münzen

Heller und Batzen kennt man nur noch wegen eines Studentenlieds, in dem sie besungen werden. Der Heller hieß eigentlich Haller und hatte seinen Namen von der Kleinstadt Schwäbisch Hall. Es war ursprünglich eine Silbermünze, der immer mehr Kupfer zugefügt wurde, bis dass niemand mehr einen ‚roten Heller‘ haben wollte. Der Batzen war eine Schweizer Münze. Auf ihr war ein Bär, ein ‚Batz‘, abgebildet. Ein Taler enthielt wesentlich mehr Silber und stammte ursprünglich aus Joachimstal in Böhmen.

Das für Münzen benötigte Metall zu gewinnen (engl. mining) war sehr aufwendig. Das geschah meist in tiefen und engen Höhlen, und zwar im Schwarzwald, im Erzgebirge oder den Alpen. Vom Silber der Alpen profitierten die habsburger Kaiser. Nur sie hatten das Recht, daraus Münzen zu prägen. Die Geldmenge war dadurch begrenzt, was die Lagerstätten hergaben. Papiergeld hatte geringere Herstellungs- und Materialkosten. Das Gelddrucken und die Verteilung des Geldes an Banken erfordert allerdings – auch heute noch – erhebliche logistische Anstrengungen. Diebe und Fälscher fühlen sich angezogen.

Kryptogeld namens Bitcoin

Viele Laien, aber nur wenige Fachleute, glauben daran, dass die Informatik das Währungsproblem auf eine Weise lösen kann, dass keine Banken mehr benötigt werden. Dass dabei ein gewisses Misstrauen Bankern gegenüber eine Rolle spielt, lässt sich nicht verheimlichen. So wie in den letzten 30 Jahren dem Beruf des Druckers seine Basis entzogen wurde, so fürchten Banker, dass sie arbeitslos werden könnten, kämen moderne Zahlungsweisen zum Einsatz. Dass dies, genau wie beim elektronischen Publizieren, Vorteile für den Holzbestand und weniger Kosten und Sicherheitsprobleme bei Transport und Lagerung hätte, wird ignoriert. Der Machtgewinn der Informatiker ist es, der befürchtet wird. Waren bisher die Kenntnisse eines professionellen Druckers nötig, um sich als Fälscher zu betätigen, benötigt man fortan fortgeschrittene Fähigkeiten in Informatik.

Am Beispiel Bitcoin lässt sich zeigen, dass Kryptogeld möglicherweise eine der drei Funktionen klassischer Währungen ablösen kann, nämlich als Zahlungsmittel zu dienen. Alle übrigen Funktionen von Geld werden zurzeit nicht wahrgenommen. Wie der Name sagt, werden vom Bitcoin-System online das Äquivalent von Geldmünzen bzw. Geldscheinen bereitgestellt. Deren Wert wird als ihr Kurs in andern Währungen (z. B. Dollar, Euro) ausgedrückt. Sie wirken daher wie eine eigene Währung und können wie andere Währungen weltweit genutzt werden. Mittels kryptografischer Verfahren wird sichergestellt, dass jede Münze nur einmal existiert und nicht gleichzeitig mehrfach verwendet wird. Ihre Gesamtzahl ist beschränkt. Damit ist die Geldmenge, die zu einem bestimmten Zeitpunkt im Umlauf sein kann, fest vorgegeben.

Hartmut Wedekind über Bitcoins

Weitere Erläuterungen zu Bitcoins und eine kritische Bewertung gibt das beigefügte Essay  des Kollegen Hartmut Wedekind. Es führt Sie weiter, obgleich der Autor die Ökonomen bedauert, weil sie über keine Naturkonstanten verfügen so wie Physiker, mit deren Hilfe sie ihre Äquivalenzen ausdrücken können.

Mittwoch, 9. September 2015

Peter Liggesmeyer über die Gesellschaft für Informatik und die aktuelle Fraunhofer-Forschung

Peter Liggesmeyer (Jahrgang 1963) ist seit 2015 der geschäftsführende Leiter des Fraunhofer-Instituts für Experimentelles Software Engineering (IESE) in Kaiserslautern. Er ist seit 2004 Inhaber des Lehrstuhls „Software Engineering: Dependability“ an der TU Kaiserlautern und leitet seit 2014 die Gesellschaft für Informatik (GI) als deren Präsident. Er ist Gründer der Fraunhofer-Allianz Embedded Systems, deren Sprecher er von 2010 bis 2013 war. Von 2004 bis 2014 war Liggesmeyer der wissenschaftliche Leiter des Fraunhofer IESE. Von 2000 bis 2004 war Liggesmeyer Ordinarius an der Universität Potsdam und Leiter des Fachgebiets „Softwaretechnik“ am Hasso-Plattner-Institut für Software-systemtechnik in Potsdam. Von 1993 bis 2000 war er Projektleiter in der Zentralabteilung Forschung und Entwicklung der Siemens AG in München. Er hat ein Diplom in Elektrotechnik (1988) von der Universität Paderborn und wurde 1992 an der an der Ruhr-Universität Bochum (bei Helmut Balzert) promoviert und habilitiert (2000). Liggesmeyer ist Träger des Software-Engineering-Preises der Ernst-Denert-Stiftung (1993) und Autor zahlreicher Fachartikel und Fachbücher, insbesondere des Standardwerks „Software-Qualität“ (2002, 2. Aufl. 2009).



Foto © Cornelia Winter

Bertal Dresen (BD): Die Gesellschaft für Informatik (GI), deren Präsident Sie zurzeit sind, ist zweifellos die mit Abstand wichtigste Fachgesellschaft für Informatik im deutschsprachigen Raum. Gerne komme ich auf Ihr Angebot zurück, einige Fragen zur GI zu diskutieren, die meine Leser und mich interessieren. Im Oktober 2012, also vor rund drei Jahren, führte ich in diesem Blog ein Interview mit Stefan Jähnichen, in dem auch über seine zurückliegende Zeit als GI-Präsident gesprochen wurde. Jähnichen wünschte sich mehr junge und aktive Mitglieder. Ist sein Wunsch in Erfüllung gegangen? Wenn es nicht der Fall war, haben Sie noch Hoffnung auf eine Wende oder leidet die GI auch unter der oft beklagten Vereinsmüdigkeit junger Menschen? Was tut sich sonst bezüglich der Mitgliederentwicklung?

Peter Liggesmeyer (PL): In der Tat leidet auch die GI unter der allgemeinen Vereinsmüdigkeit. Viele Informationen, Hintergründe und sogar Expertennetzwerke, die früher exklusiv in einer Vereinsstruktur wie der GI angeboten werden konnten, sind heute offen und für jedermann im Internet verfügbar. Die GI verzeichnet daher seit Längerem einen Mitgliederschwund, der sich primär aus einer aus unserer Sicht zu geringen Rate von Neueintritten begründet. Dieses Missverhältnis aus Ein- und Austritten in unsere Fachgesellschaft konnte allerdings in der ersten Amtszeit meiner Präsidentschaft verringert werden.

Das ist Maßnahmen geschuldet, die wir im Vorstand ergriffen haben, z.B. den so genannten „Schnuppermitgliedschaften“, die einen niedrigschwelligen Eintritt vor allem für jüngere Menschen in unseren Verein ermöglichen sollen. Wir haben jüngst die ersten Zahlen hierzu validiert und sind mit einer Rate von rund 50 % Neumitgliedern aus dieser Aktion sehr zufrieden. Dies ist ein schöner Beweis dafür, dass wenn man die Strukturen und Netzwerke der GI einmal erlebt hat, auch gerne dort Mitglied wird. Die Gewinnung weiterer GI-Mitglieder ist mein Ziel Nummer 1.

Um zudem ein besseres Verständnis über den „Mythos“ GI-Mitglieder zu erhalten, haben wir jüngst den Arbeitskreis Stärkung der GI mit Vertretern aus Fellows, Junior Fellows, Geschäftsstelle und Vorstand sowie weiterer Ehrenamtlicher einberufen und eine Mitgliederdatenaktualisierung und Interessenabfrage vorgenommen. Ich stütze mich gern auf Fakten und nicht auf Annahmen. Die Fakten sind: Die Altersstruktur und die Mixtur aus Wissenschaftlern und Wirtschaftsvertretern sind in Ordnung. Wir haben nach wie vor einen Mitgliederschwund. Das Problem ist erkannt und wird mit Hochdruck bearbeitet. Verbesserungstendenzen sind bereits vorhanden.  

BD: Welche großen Themen beschäftigen Sie und ihre Vorstandskollegen zurzeit? Welche Themen wurden von außen an die GI herangetragen? Welche Wünsche kamen von innerhalb der Mitgliedschaft? In welchen Fällen wurde eine zufriedenstellende Lösung gefunden? Welche Themen werden Sie vermutlich an Ihre Nachfolger vererben?

PL: Ich habe mich seit meiner Wahl zum Präsidenten sehr engagiert, die GI nach Außen zu positionieren. Eine Fachgesellschaft, die an den relevanten Stellen nicht in Erscheinung tritt, ist irrelevant. Mir ist wichtig, dass die GI zu Informatikthemen gehört wird und mitgestaltet. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Ich bin unbescheiden genug, zu behaupten, dass wir an dieser Stelle in der jüngeren Vergangenheit viel erreicht haben und kann das an einigen wenigen Beispielen festmachen:

  • Die GI hat gemeinsam mit dem BMBF im Wissenschaftsjahr 2014 die Initiative „Deutschlands digitale Köpfe“ ausgerichtet. Wir haben mit den ausgewählten 39 digitalen Köpfen ideale Multiplikatoren für unsere Informatikthemen gekürt.
  • Die GI hat bilaterale Kooperationsvereinbarungen mit zahlreichen Verbänden geschlossen, z.B. mit „Deutschland sicher im Netz“, „MINT Zukunft schaffen“, dem FZI, dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI, dem Bundesverband IT Mittelstand (BITMi) oder dem Verband der deutschen Internetwirtschaft eco.
  • Die GI hat den Multiplikatorenstatus der Allianz für Cybersicherheit erhalten und ist in den Beirat dieser Allianz aufgenommen worden.
  • Der erste parlamentarische Abend der GI in Berlin war mit rund 100 Teilnehmern – darunter über ein Dutzend Parlamentarier  ̶  ein voller Erfolg und führte überdies zu einer Anhörung der GI im Bundestagsausschuss „Digitale Agenda“ zum Thema „Industrie 4.0  ̶  Safety meets Security“.
  • Erstmals unterstützt die GI gemeinsam mit dem FZI Karlsruhe die Begleitforschung zum so genannten „Smart Data“-Technologieprogramm des Bundeswirtschaftsministeriums.
  • Und die GI ist mittlerweile durch die vier Ministerien BMWi, BMBF, BMI und BMJV in vier Arbeitsplattformen und somit drei Handlungsfelder des neu ausgerichteten IT-Gipfels der Bundesregierung eingebunden.
Im Innenverhältnis sind sicherlich die Grand Challenges, sowie Themen rund um die Gewinnung neuer Mitglieder hervorzuheben, die meines Erachtens noch sehr lange auf der Agenda stehen werden. Und ein besonders wichtiges Fachthema, zu dem wir als GI maßgebliche Beiträge geleistet haben, ist das aktuelle Thema „Sicherheit“.

BD: Über ein Thema hatten wir beide uns vor einigen Wochen ausgetauscht. Es ist die Attraktivität der GI für Praktiker. Ich hatte beklagt, dass die GI immer wieder in das frühere Klischee eines Professorenvereins zurückfällt. Sie meinten, dass sich in den letzten fünf Jahren gerade in dieser Hinsicht Einiges verbessert habe. Können Sie dies näher belegen. Gibt es Zahlen für den Anteil von Hochschulangehörigen und Praktikern unter der GI-Mitgliedschaft, insbesondere bei dem aktiven Teil? Was soll der geplante Beirat für Wirtschaft bewirken?

PL: Mir liegt daran, die GI als echte Fachgesellschaft zu etablieren, die sich allen Aspekte des Fachs Informatik widmet. Das muss sowohl die Wissenschaft als auch die Praxis einbeziehen. Im aktuellen GI Vorstand ist uns dies beispielsweise bereits eindrucksvoll gelungen: Simone Rehm ist bis vor Kurzem noch als CIO bei Trumpf Maschinenbau aktiv gewesen. Christof Leng arbeitet mittlerweile bei Google in Irland und im erweiterten Vorstand ist mit Christine Regitz eine Vertreterin des SAP Aufsichtsrats in unseren Vorstandsstruktur aufgerückt. Damit ist der „Praktikeranteil“ in diesem Gremium so hoch wie noch nie.

In den Leitungen der GI-Gliederungen – beispielsweise Fachbereichen, dem Präsidium oder auch den Beiräten – sind Wirtschaftsvertreter einerseits unterrepräsentiert. Andererseits ist doch ganz klar, dass die inhaltlichen Diskussionen zum Fach Informatik eher in Workshops und Konferenzen geführt werden, die z.B. von GI-Arbeitskreisen und Fachgruppen veranstaltet werden, und bei denen durchaus Wirtschaftsvertreter nicht zwingend in der Minderheit sind. Menschen engagieren sich eben dort, wo es aus ihrer Sicht sinnvoll ist. Dennoch möchte ich gerne Strukturen schaffen, die klar erkennbar die Relevanz der GI für Wirtschaftsvertreter unterstreichen und Themen für die Wirtschaft in der GI vorantreiben. So ist auch der geplante Beirat für Wirtschaft zu verstehen, der im ersten Schritt Kontakt zu unseren korporativen Mitgliedern suchen wird.

BD: Die GI ist  ̶  neben den Fakultäten- bzw. Fachbereichstag Informatik  ̶  offensichtlich federführend, was die Definition und die Fortentwicklung von Studiengängen an Hochschulen betrifft. Das gilt sowohl für die Informatik wie die Wirtschaftsinformatik. Wie sehen Sie diese Aktivität? Wie oft müssen Ausbildungsinhalte an die technische Entwicklung angepasst werden? Wie geschieht dies? Haben dabei die Kunden der Ausbildungsstätten hinreichenden Einfluss? Üben diese ihre Einflussmöglichkeiten überhaupt aus?

PL: Das ist richtig: Die GI versucht seit jeher auf Aus- und Weiterbildung in der Informatik Einfluss zu nehmen. Aktuell gibt es intensive Diskussionen um das Schulfach Informatik. Die GI hat kürzlich die „3. Dagstuhl-Erklärung zur informatischen Bildung in der Schule 2015“ verabschiedet. Wir sind außerdem in die Diskussionen zu diesem Thema im Rahmen des IT-Gipfels involviert. Lehre und Forschung sind – wie wir ja bereits festgestellt haben – traditionelle Schwerpunkte in der Arbeit der GI. Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer sind oft in der GI organisiert und arbeiten dort auch an der Novellierung von Lehrinhalten. Dazu existieren zum Teil auch eigenständige Veranstaltungen, z.B. die SEUH-Tagung. Ich würde an dieser Stelle auch sehr gern die Involvierung von Wirtschaftsvertretern intensivieren, um deren Anforderungen berücksichtigen zu können.

BD: Über die Entwicklung des Bedarfs an Informatikern und Informatikerinnen wird lebhaft diskutiert, seit es den Studiengang gibt. Was ist Ihre Meinung dazu? Welche Qualifikationen werden in Zukunft am meisten gefragt sein? Welche Rolle spielt heute (und in Zukunft) das Wissen über Anwendungsgebiete? Wie wird es am besten vermittelt? Was halten Sie von der Meinung Ihres Amtsvorgängers Roland Vollmar, dass sich die Informatik in die Anwendungsdisziplinen diffundieren wird? Mit andern Worten: Wird die Informatik trivial und bedeutungslos?

PL: Ich glaube schon, dass die Verbindung zwischen der Informatik und ihren Anwendungsbereichen intensiver werden wird. Dadurch wird die Bedeutung der Informatik aber eher zu- als abnehmen. Wir sehen diese Entwicklung doch bereits seit Langem: Automobilbau ist heute kein reiner Maschinenbau mehr, sondern eine Disziplin mit einem hohen Informatik-Anteil. Das Gleiche gilt für Medizintechnik, den Maschinen- und Anlagenbau, den Bereich der Energieversorgung und viele weitere Anwendungsbereiche. Ein Maschinenbauer ohne Informatik-Expertise ist daher auf die Herausforderungen der Praxis schlecht vorbereitet. Der reine Informatiker, der nur seine enge Sparte aus der Informatik beherrscht, ist aber ebenfalls schlecht präpariert für die Zukunft. Der zukünftige Informatiker wird neben einem profunden Informatik-Wissen auch in der Lage sein müssen, Schnittstellen zu anderen Disziplinen zu bedienen. Die Informatik wird sich zunehmend öffnen müssen, was selbstverständlich auch Konsequenzen für die Lehrinhalte von Studiengängen haben wird. Ich sehe die Zukunft einer solchen Informatik sehr positiv.

BD: Seit Jahrzehnten – und nicht erst seit Edward Snowdens Enthüllungen – wird  das Thema Sicherheit an Informatiker herangetragen. Man kann das Ganze auch vereinfacht als Schutz der Privatsphäre und Schutz vor Industriespionage bezeichnen. Arbeitskreise der GI haben sich in den letzten Jahren intensiv mit den rechtlichen und technischen Aspekten der Ausspähung von Daten sowie der Sicherheit von E-Mails befasst. Die GI hat damit Einiges für die Bewusstseinsbildung getan. Was kann eine Fachgesellschaft wie die GI zusätzlich tun? Was ist geplant? Ist die Vergabe großer Forschungsprojekte auf diesem Gebiet, etwa durch die EU, mehr als nur Aktionismus?

PL: Die GI befasst sich seit Langem mit dem Thema Sicherheit. Als Konsequenz daraus sind wir in der Lage konkrete Vorschläge für den Umgang mit Sicherheit vorzulegen. Aufgrund unserer intensivierten Außenkontakte werden diese Vorschläge nun auch wahrgenommen und in die richtigen Kanäle eingespeist. So gibt es z.B. eine Vorlage der GI im Rahmen des vom Bundesinnenministerium gesteuerten Handlungsfeld des IT-Gipfels, das das Thema Sicherheit adressiert und konkret das Thema Verschlüsselung gemeinsam mit großen Unternehmen wie DTAG und 1&1 in der Breite der Gesellschaft zu verankern. Ich habe als GI-Präsident kürzlich – wie eingangs erwähnt  ̶  auf Einladung des Bundestagsausschusses „Digitale Agenda“ zum Thema berichtet. Ich halte die aktuellen Aktivitäten in der Politik und vor allem die zur Verfügung gestellten Forschungsgelder in Deutschland und Europa nicht für Aktionismus. Sicherheit ist ein kompliziertes Thema, zu dem nach wie vor noch unbeantwortete Fragen existieren.

BD: Sie betonen immer wieder, dass die GI von vielem Organisationen und Gremien um Rat gefragt wird. Welche Dinge wollen und können andere Fachgesellschaften oder Organisationen von der GI lernen? Als die GI vor 45 Jahren gegründet wurde, musste man noch erklären, was Informatik ist und kann. Dieses Wissen darf man doch heute voraussetzen, oder täusche ich mich? Was kann die GI von anderen technischen Fachgesellschaften lernen, etwa von denen im Automobil- und Maschinenbau? Ich meine primär die Fachgesellschaften und nicht deren Fachgebiete.

PL: Es ist nach meinem Verständnis eine zentrale Aufgabe einer Fachgesellschaft, ihr Fach in allen Belangen zu vertreten. In dem Maße, in dem die Relevanz von Informatik-Themen ansteigt, musste daher auch die GI aktiv werden. Genau das haben wir in der jüngeren Vergangenheit erreicht. Ich hätte Schwierigkeiten damit, wenn die Bundesregierung eine digitale Agenda ohne Beteiligung der GI ersinnen würde. Glücklicherweise wird unsere Meinung aber wahrgenommen und geschätzt. Ich glaube, dass wir als Fachgesellschaften weniger voneinander lernen können, als vielmehr miteinander, durch die Gestaltung gemeinsamer Inhalte.

BD: Täuscht das Gefühl, dass die GI gerne Veranstaltungen durchführt zu Themen wie Industrie 4.0, Internet der Dinge, Big Data, und dgl. vorwiegend um aktuelle Hypes zu bedienen? Welche forschungs- oder industriepolitischen Ziele verfolgen solche Veranstaltungen? Werden dabei auch genuine Beiträge aus der Informatik zu diesen Themen behandelt  ̶  egal ob von deutschen oder nicht-deutschen Fachkollegen stammend? Werden außer Forschungsvorhaben auch Lösungen diskutiert, die innerhalb der nächsten 3-5 Jahre praktische Relevanz haben können?

PL: Ich halte die Themen Industrie 4.0, Internet der Dinge oder auch Big Data nicht für Hypes. Ich bin der Überzeugung, dass es sich dabei im Kern um wichtige langlebige Informatik-Themen handelt, die gesellschaftlichen Zündstoff und zudem auch noch eine hohe Relevanz in vielen Anwendungsbereichen haben. Ich wünsche mir, dass die GI hier Einfluss nimmt und dieses Feld nicht anderen überlässt. Jemand, der Praxisnähe begrüßt, müsste eine Befassung mit diesen Themen eigentlich schätzen. Zur Frage der Projekte der GI mit praktischer Relevanz verweise ich zudem auch gerne nochmals auf das jüngst mit dem BMWi vereinbarte Begleitforschungsprojekt im Bereich „Smart Data“. Hier werden 13 Technologieprojekte mit maßgeblicher Wirtschaftsbeteiligung seitens der GI vernetzt und zum interdisziplinären Austausch befördert, genauso wie es unsere Satzung seit 1969 vorsieht. Ergebnisse aus diesen 13 Projekten werden 2018 erwartet.

BD: Zum Schluss noch zwei Fragen zu Ihrer Arbeit in Kaiserslautern. Mein Interview mit Dieter Rombach im Juni 2011 war eines der ersten in diesem Blog. Sie haben – wie ich weiß – Rombachs Amt als Direktor des IESE übernommen. Welche wichtigen Ergebnisse aus den damals von Rombach beschriebenen Aktivitäten liegen inzwischen vor? Was hat sich seither geändert, sei es in Bezug auf die Herkunft und Höhe der Fördermittel, die Akzeptanz der Forschungsergebnisse in der Industrie, das Angebot qualifizierter Fachkräfte, und dgl.?

PL: Das Fraunhofer IESE ist – damals ganz richtig – als Software Engineering-Institut gegründet worden. Mittlerweile liegt sein Schwerpunkt im Bereich des Systems Engineering. Diese Umsteuerung ist in der jüngeren Vergangenheit bewusst vollzogen worden. Sie ist durch die Veränderung der Informatik motiviert, die ich bereits ausführlich beschrieben habe. Empirie ist für uns mittlerweile ein selbstverständlicher Bestandteil guter Forschungsarbeit, so dass wir dies kaum noch explizit betonen, sondern implizit mit erledigen. Das Institut ist in der Förderlandschaft gut positioniert, und partizipiert insbesondere an strategischen Projekten des Landes Rheinland-Pfalz, des Bundes und der EU. Fraunhofer-Institute benötigen immer eine Akzeptanz der Forschungsergebnisse in der Industrie.

BD: Hat sich die Idee der regionalen Kooperation zwischen Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden bewährt? Welche Ergebnisse müssten mir aufgefallen sein? Haben Sie Bayern, Bremen und Berlin die öffentlichen Fördertöpfe mit Erfolg streitig gemacht? Gibt es signifikante Neugründungen in der Region? Wer außer der Automobilbranche hat sich als deutsches Informatik-Schwergewicht entpuppt?

PL: Ich bin sicher, dass wir in Deutschlands Süd-Westen gut positioniert sind. Dafür gibt es viele Belege. So wird z.B. der Software-Cluster auch maßgeblich durch die Standorte Saarbrücken, Kaiserslautern und Darmstadt vorangetrieben. Ich beobachte an meinem eigenen Standort Kaiserslautern eine sehr ausgeprägte Schärfung des Profils. Das zeigt bereits positive Konsequenzen – auch beim Anteil an Fördertöpfen.

BD: Lieber Herr Liggesmeyer, vielen Dank für dieses ausführliche Interview. Wie Sie wissen, bin ich bereits 60 Jahre in der Informatik (früher meist Datenverarbeitung genannt) tätig und 45 Jahre lang GI-Mitglied. Dass meine Wunschliste an die Repräsentanten des Fachs etwas anders ausfällt als die von Kollegen, die gerade die Informatik für sich entdeckten, sollte Sie nicht überraschen.

Montag, 7. September 2015

Fluchtziel Europa und die Flüchtlingspolitik europäischer Staaten

Flüchtlingsströme sind das dominierende Thema dieses Sommers. Nicht nur sind die Zahlen größer als je zuvor, auch die Umstände sind teilweise skandalös und die Aufgeregtheit – nicht nur in den Medien  ̶  ist riesig. Jemand fand den Ausdruck Stampede, der primär von texanischen Cowboys benutzt wird, nicht unangemessen. Anstatt noch mehr zu dramatisieren, halte ich es für besser zu versachlichen. Dabei muss man stets die Dinge beim Namen nennen. Man muss zwar ins Detail gehen, aber gleichzeitig versuchen zu klassifizieren und zu abstrahieren. Mit diesem oft missbrauchten Begriff meine ich, dass man die Einzelfälle in Bezug zur politischen Weltsituation, den gesellschaftlichen Möglichkeiten und der Historie setzen muss.

Fluchtgründe

Sieht man die Gesamtsituation an, so kommen gleichzeitig ganz unterschiedliche Fluchtgründe zum Vorschein. Die Umstände, die Menschen dazu bewegen können, ihre angestammte Heimat zu verlassen, fallen in zwei Hauptklassen:
  • Krieg/Bürgerkrieg: Afghanistan, Syrien, Irak, Eritrea, Somalia, Dafur
  • Verarmung/Arbeitslosigkeit: Westbalkan (Albanien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, u.a.) und Südsahara (Tschad, Mali, u.a.).
Viele der Afghanen, die nach Deutschland möchten, hatten während des zu Ende gehenden Krieges mit deutschen Truppen oder Entwicklungshelfern kooperiert. Deshalb drohen ihnen jetzt vielerlei Bedrängnisse, ja die Todesstrafe. In Syrien ist die Lage total verworren. Der Aufstand gegen Assad fand keinerlei Unterstützung von außen bis zu dem Zeitpunkt, als Assad 2013 gegen die eigene Bevölkerung Giftgas einsetzte. Danach bildet der IS eine dritte Front. Amerikaner, Jordanier, Engländer und Franzosen, die keine Bodentruppen einzusetzen bereit sind, versetzen bereits ein Jahr lang Stecknadelstiche aus der Luft. Der Effekt ist minimal. Die deutschen Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak verursachten zwar regelrechte Beben in der deutschen Presse, Politik und Öffentlichkeit. Der Status an der Front hat sich nur geringfügig verändert. Die Stadt Aleppo wird mehrmals pro Woche von Bombern der Regierung heimgesucht. Das Vertrauen, dass sich die Situation alsbald ändert, ist in der Bevölkerung inzwischen verschwunden. Kommt uns der Westen nicht zur Hilfe, bleibt nur noch die Möglichkeit in den Westen zu fliehen.

Die oft benutzte Trennung zwischen Bürgerkriegs- und Armutsflüchtlingen trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Es liefert dies nur eine rechtliche Handhabe, um Menschen, die in der gleichen sozialen Situation sind, zu trennen, ja auszusortieren. Dass dies früher nach rassischer Zugehörigkeit erfolgte, war damals ebenfalls Rechtens. Man ist heute nicht mehr stolz darauf. Die Stimmen, die danach rufen, doch Kranken- und Altenpfleger aus Serbien ins Land zu lassen, werden überhört. Auch der dauernde Ruf der Industrie nach Facharbeitern, Ingenieuren und Informatikern verhallt. Dafür ist zufällig der Innenminister oder der Justizminister nicht zuständig. Es fällt in ein anderes ministerielles Ressort. Da kümmern sich Politiker und Beamte drum, wenn mal sonst nichts ansteht. Man könnte fast meinen, dass der Pflegenotstand in Krankenhäusern und Privathaushalten nur in Sonntagsreden existiert, nicht aber wirklich. Das Gleiche gilt für den Fachkräftemangel der Wirtschaft.

Zielländer und Nicht-Zielländer

Folgende Länder scheinen über die größte Anziehungskraft zu verfügen. Die Gruppen sind etwas willkürlich gebildet.
  •  Anglophon: UK, Irland
  •  Frankophon: Frankreich, Belgien
  •  Sonstige: Deutschland, Schweiz, Niederlande, Luxemburg, Italien, Dänemark, Schweden
Die einzelnen Länder betreiben eine sehr differenzierte (subjektive) Politik, die sich teilweise nur aus der Geschichte des Landes erklären lässt. Leute, die fordern, dass alle sich gleich verhalten, haben nicht nachgedacht. Macht es gleich, dann wird es besser, ist eine sehr dumme Formel. Aus verschiedenen Gründen scheinen einige Länder Europas für Flüchtlinge nicht besonders attraktiv zu sein. Dazu gehören:
  • Ehemalige Ostblockländer: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bulgarien, Rumänien. Mazedonien
  • Sonstige: Finnland, Griechenland, Norwegen, Österreich
Wer von einer zu planenden Gleichverteilung über alle EU-Länder redet, stößt nicht nur auf den Widerstand der betroffenen Länder, er ignoriert auch vollkommen den Willen und den Wunsch der Flüchtlinge.

Transitländer

Der Weg in ein Zielland kann über eines oder mehrere Transitländer führen. Beispiele sind: 
  • Afrika: Libyen, Tunesien, Ägypten. Marokko
  • Asien: Türkei
  • Europa: Griechenland, Spanien, Portugal, Bulgarien, Serbien, Rumänien, Mazedonien, Italien, Österreich
Die meisten der hier genannten europäischen Länder sind bei den Fluchtbewegungen dieses Sommers, die in Asien (Afghanistan, Irak und Syrien) ihren Ursprung haben, meist nur Transitland. Für Bewegungen aus Afrika heraus ist es anders. Auch da tröpfelt der Flüchtlingsstrom stetig weiter. Ins öffentliche Bewusstsein gerät er hin und wieder, vor allem durch eine hohe Anzahl von Toten im Mittelmeer.

Da es sich im Falle der syrischen Flüchtlinge nicht nur um unbemittelte Personenkreise handelt, wird die daraus sich ergebende Geschäftschance nicht nur von dunklen Elementen entdeckt. Unsere Gefängnisse sind fast voll von Reiseagenten, so genannten Schleusern. Es treten jeden Tag neue an ihre Stelle. Wo für eine Reise von Damaskus nach Frankfurt bis zu 5.000 Euro bezahlt werden, lag eigentlich ein Geschäft für die Lufthansa und ihre Mitbewerber auf der Straße. Die juristischen Bedingungen, dass eine Einreise nur per Asylantrag möglich ist, und Anträge nur von innerhalb der EU aus gestellt werden dürfen, sind die wahre Ursache für die größte humane Katastrophe dieses Sommers.

Besonderheiten und Erfahrungen

Zwei Länder Europas sind quasi immun gegen Flüchtlinge: Ungarn und Finnland. Ihre Sprache gehört nicht zur indoeuropäischen Familie und ist daher für Ausländer nur schwer zu erlernen. Dasselbe gilt fürs Baskische.

Wie Samuel Huntington in seinem berühmten Buch ausführte, unterhalten Migrationsströme, wenn sie einmal in Gang gekommen sind, sich selbst. Die ersten Umsiedler, die Fuß gefasst haben, ziehen unweigerlich andere nach. Im Falle des Ziellands Deutschland gilt dies für Syrer, Afghanen und Kurden (aus dem Nordirak).

Die 10.000 Syrer, die letzte Woche tagelang im Bahnhof von Budapest aufgehalten wurden, freuten sich genau so wie einst die DDR-Bürger in der Prager Botschaft, als sie endlich weiterreisen durften. Sie wurden in München von ihren Verwandten und Landsleuten begeistert empfangen. Zwei der 10.000 Flüchtlinge stiegen schon in Wien aus und beantragten Asyl in Österreich [spätere Autoren sprachen von 20]. Diese Episode erklärt meine Einordnung Österreichs als Nicht-Zielland. Gerne korrigiere ich dies.

Hartmut Wedekinds Kommentare zum Flüchtlingsdrama:

Auf meine Frage, was er gegen den IS tun würde, wenn er einer ‚von denen da oben‘ wäre, antwortete er an 5.9.2015:

Ich würde den IS zunächst mal als Kriegsgegner erkennen, der mit Flüchtlingen u.a. Krieg führt. Das tut Europa bisher nicht. Isolieren und die Arabisch-Iranischen Staaten zusammen bringen. Denn die müssen den Krieg „on the grounds“ führen. Das können glaubhaft nur Muslime. Die Amerikaner können noch nicht mal eine Koalition schmieden. Und die Europäer versuchen es noch nicht einmal. Auch bei Palmyra stehen sie da, die Koalition, und schaut zu.  Ich glaube nachrichtendienstlich ist Europa in Sachen IS auch nicht auf der Höhe.

Wie finanziert sich die IS?  Kein Mensch sagt etwas. Wie finanziert sich der Assad? Kein Mensch sagt etwas. Kriege kosten bekanntlich Geld, viel Geld. Assad wahrscheinlich in alter Tradition auch über den Russen. Auch die Flüchtlingsströme überraschen uns. Der Herr de Maiziere fällt von einem Staunen ins andere. Eigentlich unglaublich. Wir haben völlig verunsicherte, ahnungslose und herumtaktierende Politiker.

Frau Merkel übt sich in Sprüchen. “Man muss alles vom Ende her betrachten“ (Das ist das klassische „et respice finem“). Soll sie es mal! Die weiß ja noch nicht einmal, wie sie mit ihren Millionen Flüchtlingen über den Winter kommt. Und das Ende sieht sie überhaupt nicht. Sie schwätzt. Und ihr Europa ist jetzt schon kaputt. „Tightly coupled“ geht nicht, das ist Kulturschwärmerei. „Loosely coupled“, das geht mit Mühen. Das sagen die Engländer übrigens auch. Die sind ja faktisch schon halb draußen. Und wenn sie und andere jetzt auch noch Quoten aufs Auge gedrückt bekommen, sind sie garantiert draußen. Jeder weiß das übrigens. „Maastricht kaputt“, „Frankfurt kaputt“,“ Dublin kaputt“, und nun kommt Schengen an die Reihe. Am Schluss heißt es „Rom kaputt“. Hinein erst mal in die Transferunion, à la France et alii. „No bailout“, wer hat denn so einen Quatsch je erzählt. Europa ist ein „Reiseleiter (Schlepper)-Unterstützungsverein“. Was weiß man nachrichtendienstlich über die Reiseleiter? Fragen über Fragen.

Auf meinen Hinweis, dass Assad und Putin als Verbündete gelten und dass – laut dem Spiegelautor Christoph Reuter  ̶  der IS von früheren Offizieren Sadam Husseins gegründet wurde, meinte er am 6.9.2015:

Man zeigt im ideologischen, selbstsüchtigen, eigentlich idiotischen TV keine Bilder, wie es in Aleppo, Homs und Damaskus humanitär aussieht. Die Trümmer-Katastrophe von Palmyra zeigt man aber. Man zeigt nur die wahnsinnige  todesmutige Stampede von Menschen mit Tickets von Schleppern („Reiseleitern“) und die von wem auch immer aufgebrachten „Germany“-Schreier. Wie es in Damaskus aussieht, sagt keiner. Mein Anas [ein aus Syrien geflohener Jura-Student, der in der Nähe Darmstadts lebt], der mit seinen Angehörigen täglich telefoniert, sagt ganz normal.

Mir scheint fast sicher. Die EU krepiert unter den  Leuten, die an Realitätsablösung leiden. Wetten: Hier bei uns war es schlimmer 1945. Stelle Sie sich mal vor, Damaskus (1.8 Mill Einwohner = Hamburg + ½ Berlin) fällt. Der IS obsiegt und Assad verschwindet. Und die da oben wollen so weitermachen und von Gipfel zu Gipfle reisen. Hauptsache: Das TV ist dabei. Mit Damaskus fällt auch Europa als Organisation. Das ist nicht schwer vorherzusagen, bei den handelnden Figuren da oben. 

Am selben Tag erhielt ich folgenden Nachtrag:

Stellen Sie sich mal vor, im 30-jährigen Krieg wären Muselmänner hier in Europa erschienen, um z.B. die Sache der Katholischen Liga unter Wallenstein zu verteidigen. Ich glaube, der Krieg würde heute noch andauern. Nur Muslime können das Problem im Nahen Osten lösen, wie wir das Problem des 30-jährigen Krieges ja auch gelöst haben. Wir müssen uns im Wesentlichen daraus halten und „containment“ betreiben, auch im Zeitalter des Internets. Aufklärung ist ja eine Frage der Erkenntnis und nicht der Waffengewalt. Kissinger spricht in seinem dicken  Buch „Weltordnung“ der aufklärungsfreien, islamischen Welt aber die Fähigkeit zu einem Westfälischen Frieden ab. Der müsste aber kommen. Wir werden es nicht (mehr) erleben.