Freitag, 27. Februar 2015

Sommerschulen als Schnupperkurs

Als ehemaliger Austauschstudent werde ich immer wieder um Rat gefragt, wenn es um Studienaufenthalte im Ausland geht, speziell in den USA. Da ich weiß, dass für diese Fragen großes allgemeines Interesse besteht, stelle ich meine Auskünfte auch in diesen Blog. Meine Meinung zu der Frage, ob studieren und was, hatte ich schon vor drei Jahren zum Ausdruck gebracht. Eindrücke meines Studienaufenthalts an der Ohio State University sind in einem Gespräch mit einem Studienkollegen festgehalten, den ich im Herbst 2013 wiedertraf. Weitere Informationen sind in dem Beitrag über Ohio und den Mittleren Westen vom Juli 2012 enthalten.

Aufgrund meiner eigenen Erfahrung kann ich jedem jungen Menschen nur dazu raten, die Möglichkeit eines Auslandstudium wahrzunehmen. Da dies nicht das heutige Thema ist, will ich meine Argumente nur kurz erwähnen: Erweiterung des Weltbilds, besseres Verständnis für Deutschland und praktische Sprachkenntnisse. Da in Wirtschaft und Technik Englischkenntnisse unabdingbar sind, spricht alles für ein Studium im englisch-sprachigen Raum. Auch auf Zeitpunkt und Dauer des Aufenthalts will ich hier nicht näher eingehen. Ich will nämlich nur auf eine Form eingehen, die wegen ihrer Kürze sowohl vor als während des Studiums möglich ist, nämlich die Sommerschulen.

Sommerschulen (engl. summer schools) sind eine sehr beliebte und gebräuchliche Art, um in die englisch-sprachige Universitätswelt hineinzuriechen. Es sind in der Regel zwei- bis dreimonatige Aufenthalte auf dem Campus einer Universität. Die Aufnahmebedingungen sind einfacher als für ein Vollstudium. Voraussetzung ist lediglich das Abitur. Die Aufenthalte werden zentral von der Universitätsverwaltung organisiert. Die Kurse (Vorlesungen, Übungen) werden von den Fachbereichen durchgeführt. Die Sommerschulen werden einerseits als zusätzliche Einnahmequelle angesehen, andererseits als Werbung für das Vollstudium.

Obwohl es ‚summer schools‘ in Australien, England, Kanada und den USA gibt, würde ich den USA den Vorzug geben. Hier ist einfach das Angebot größer, ebenso die Nachfrage. Man trifft dort Leute aus der ganzen Welt. Wie weit der fachliche Kurs durch einen Sprachkurs ergänzt werden kann, variiert von Ort zu Ort. Von einem reinen Sprachstudium möchte ich abraten. Das ist vertane Zeit. 

Bei der Auswahl der Kurse sollte man an die ‚Credit points‘ denken, die es meistens gibt. Sie sollten für das spätere Studium relevant sein. Wer seine Zeit als Vorbereitung auf ein späteres Ingenieur- oder BWL-Studium nutzen will, für den könnten folgende Fächer von Interesse sein:

  • Economics: mehr Volks- als Betriebswirtschaft
  • Computer Science: Informatik, aber sehr theoretisch
  • Computer Engineering: die technisch-ausgerichtete Informatik
  • Communications and Networking: unsere Informationstechnik
  • Electronics and Electrical Engineering: unsere Elektrotechnik
  • Engineering Physics: unsere technische Physik
  • Media Technology: Medientechnik (Fernsehen, Kino)
  • Industrial Engineering: etwa unsere Fertigungstechnik
  • Information Systems: entspricht etwa unserer Wirtschaftsinformatik
  • Management Science and Engineering: unser Wirtschaftsingenieurwesen
  • Mechanical Engineering: unser Maschinenbau

Bei amerikanischen Unis gibt es bekanntlich sehr große Unterschiede bezüglich Qualität und Ruf. Es gibt sowohl sehr gute private wie staatliche Universitäten. Dafür gibt es keine Trennung in Universitäten und Fachhochschulen. Manche bieten nur den Bachelor aber keinen Master an. Bei den Sommerschulen fallen die Unterschiede in den Kosten weniger ins Gewicht als bei einem ganzjährigen Studienaufenthalt. Es folgt eine kurze Auswahl bekannter Universitäten, die für die oben erwähnten Studienrichtungen in Frage kommen: 
  • Gruppe A: Die Weltbesten (Ivy League): Stanford, UC Berkeley, MIT, Princeton, UCLA (Harvard, Yale und Cornell sind nur für nicht-technische Fächer interessant)
  • Gruppe B: Sehr gut (vergleichbar mit TU München und KIT Karlsruhe): Carnegie Mellon, U of Michigan, Georgia Tech, Caltech, U of Texas, U of Washington
  • Gruppe C: Gut (etwa wie Stuttgart oder Darmstadt): Ohio State, U of Colorado, U of Illinois, Purdue, UC Santa Barbara

Details des derzeitigen Angebots können auf der Homepage der jeweiligen Universität nachgelesen werden. Auch findet man im Internet den ein oder anderen Erfahrungsbericht über Sommerschulen. Man muss jedoch etwas suchen und darf nicht verallgemeinern. Sommerschulen müssen in der Regel selbst finanziert werden. Es gibt einzelne Förderer oder Stiftungen, die eine finanzielle Unterstützung für bestimmte Kurse anbieten. Die findet man auf der jeweiligen Homepage. Neben den Sommerschulen gibt es die ‚summer camps‘. Diese dienen eher der Unterhaltung als der Studienvorbereitung.

Ein Weg sich zu bewerben besteht darin, die Unis direkt anzuschreiben. Man kann aber auch akademische Reiseveranstalter involvieren. Beispiele sind DAAD, Fulbright, German Language School (GLS) oder Travelworks. Die GLS vermittelt z.B. Sommerkurse in Berkeley und an der UCLA. Auf ihrer Homepage findet man auch Erfahrungsberichte sowohl aus Berkeley wie aus Los Angeles. 

Für die Kurse im Zeitrahmen Juni bis September 2015 läuft die Bewerbungsfrist teilweise bereits. Es ist also schon jetzt höchste Zeit sich mit dem Thema zu befassen, will man für das Jahr 2015 einen Sommerkurs in Betracht ziehen.

Wie immer bin ich gerne bereit diese Information zu ergänzen, sofern mir Leser ihre Erfahrungen mitteilen.

Montag, 23. Februar 2015

Griechische Tragödie – dritter Akt

Die klassische griechische Tragödie hatte ihre Blütezeit in der Zeit zwischen 490 und 406 vor Chr. Ihr Aufbau folgte dem Grundschema: Prolog, Episoden und Exodos. Dazwischen gab es Chorlieder. Inhaltlich behandelte sie (laut Wikipedia):

… die schicksalhafte Verstrickung des Protagonisten, der in eine so ausweglose Lage geraten ist, dass er durch jedwedes Handeln nur schuldig werden kann. Die herannahende, sich immer deutlicher abzeichnende Katastrophe lässt sich trotz großer Anstrengungen der handelnden Personen nicht mehr abwenden. … Das Schicksal oder die Götter bringen den Akteur in eine unauflösliche Situation, den für die griechische Tragödie typischen Konflikt, welcher den inneren und äußeren Zusammenbruch einer Person zur Folge hat. Es gibt keinen Weg, nicht schuldig zu werden …

Das obige Schema drängt sich auch auf, wenn man die derzeitige Tragödie betrachtet, die sich in Griechenland abspielt. Der Prolog bestand in der Einführung des Euro im Jahre 2001, also vor nunmehr 14 Jahren. Im Mai 2012 stellte ich in diesem Blog die Frage: ‚Ist Griechenland ein gescheiterter Staat?‘. Das war während der letzten großen Griechenland-Krise. Jetzt ist das Thema erneut brandaktuell. Zur Erinnerung: Die Einführung des Euros löste in Südeuropa einen Boom aus. Die Länder mit früheren Weichwährungen erhielten plötzlich Kredite zu den Bedingungen eines Hartwährungslandes. Während in Spanien die billigen Darlehen dazu verwandt wurden, Flugplätze und Autobahnen zu bauen, finanzierte Griechenland damit seinen Haushalt. Man erhöhte die Anzahl und das Einkommen der Beamten und staatlichen Angestellten. Es konnte ein hohes Sozialniveau erreicht werden, ohne Steuern zu erhöhen oder ihr Eintreiben zu verbessern. Die Staatsschulden (über 300 Mrd. Euro) entsprachen alsbald etwa 170 % des Bruttosozialprodukts (BSP).

Als Griechenland keine weiteren privaten Geldgeber mehr überzeugen konnte, mussten EZB, EU und IWF einspringen. Sie gaben neues Geld nur mit Auflagen, die von einer Kommission (Troika genannt) überwacht wurden. Diese Maßnahmen trafen vor allem die sozialschwachen Teile der Bevölkerung. Es wurden Staatsbedienstete entlassen, Sozialleistungen abgebaut und Staatsvermögen privatisiert. Das wurde als politische Ausbeutung empfunden. Mehrere Regierungen verstrickten sich und versuchten Lösungen. Das Wahlvolk wurde ihrer überdrüssig und wählte eine Regierung, der der Exodus zuzutrauen war. 

Die radikale Linkspartei SYRIZA und ihr Führer Alexis Tsipras versprachen dem griechischen Volke, alle Verpflichtungen, die Griechenland seinen Geldgebern gegenüber hätte, neu zu verhandeln. Daraufhin wurde sie gewählt. Als nach der gewonnenen Wahl Tsipras und sein Finanzminister Varoufakis durch Europa tourten, um den Geldgebern Griechenlands zu verkünden, warum sie gewählt worden seien, fielen diese ihnen nicht um den Hals. Sie erklärten ihnen vielmehr, dass auch sie von Wählern abhängig seien. Viele von ihnen haben nämlich auch radikale Parteien in ihren Ländern, so Frankreich, die Niederlande und Spanien. Das sind aber meist keine Trotzkisten und Leninisten wie in Griechenland, sondern europa-feindliche Parteien. Sogar Deutschland kann mit einer solchen Partei drohen, der AfD. Würde diese Partei die nächste Wahl gewinnen, wäre der ‚Grexit‘ das einzulösende Wahlversprechen.

Im Gegensatz zur Griechenland-Krise vor drei Jahren hat sich die Situation wesentlich verändert. Alle privaten Gläubiger Griechenlands, die ja beim letzten Schuldenschnitt die Dummen waren, haben sich inzwischen abgesetzt. Jetzt sind es nur noch die Steuerzahler aus den 19 Ländern der Eurozone, die haften müssen. Auch nehmen Leute wie Wolfgang Schäuble das Wort ‚Grexit‘, die Abkürzung für den Ausstieg Griechenlands aus der Währungsunion, heute viel leichter in den Mund. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass die Zinsen für Staatsschulden in Irland und Portugal nicht mehr von den griechischen Turbulenzen in Mitleidenschaft gezogen werden. Das wandernde Kapital hat griechische Konten ebenfalls längst verlassen. Wenn der Verteidigungsminister Kammenos, ein Rechtspopulist, den Plan B verrät, erschrickt das auch niemanden. Er drohte damit, dass Griechenland sich an Putins Russland wenden würde, sollte Deutschland hart bleiben.

Bereits am Faschingsdienstag, dem 17.2., hatte ich einen ersten Austausch zum Thema Griechenland mit Hartmut Wedekind, den ich kurz einfügen möchte.

Hartmut Wedekind (HW): Nach Konfuzius  sind wir jetzt  in Sachen Griechenland beim Bittersten angekommen, weil das (hochökonomische) Denken und das (ökonomische ) Nachmachen versagt haben. „Durch Erfahrung klug zu werden“, ist hochgradig unökonomisch, weil der vergebliche Mittelaufwand groß ist. Denken sollte beim Menschen immer die absolute Priorität haben. Konfuzius: „Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: Erstens durch nachdenken, das ist der edelste, zweitens durch nachahmen, das ist der leichteste, und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.“

Bertal Dresen (BD): Was die griechischen 'Revolutionäre' betreiben, würde ich als Realitätsverweigerung bezeichnen. Es darf nicht sein, was nicht sein soll. Ich frage mich, ob die Drohung mit Putin nur Taktik ist.

HW: Meine Frau sagte, die "Revolutionäre" gehen ganz bewusst und für sie rational den Weg : "Raus aus dem Euro", was das Volk nicht will. Es wird dem Volk aber auf diese Weise, d.h. durch den Trick über unbeugsame Verhandlungen mit "Troika" als Hasssymbol in Brüssel beigebracht.  Wir werden sehen: Die Drachmen, die dann als Parallelwährung eingeführt werden, müssten eigentlich schon gedruckt sein, und man kann dann Anfang März zur unerlässlichen Ausgabe schreiten (mit einer gewaltigen Inflation als Folge, aber das kennen die Menschen ja). "Besser schlechtes Geld als gar keines" ist deren Devise. Spöttisch sagt man: "Der Unterschied liegt in der Differenz", eine beachtliche Weisheit, die Karnevalisten zusteht.

BD: Die Meinung Ihrer Frau hat etwas für sich. Inflation ist ein Weg, um die reichen Griechen zu enteignen. Das Bargeld verlässt ja auch schon das Land. Der Grundbesitz muss natürlich noch verstaatlicht werden. Wenn die Yachten Piräus verlassen und nach Kusadasi verlegt werden, ist das nicht weiter schlimm.

Auch nach den Karnevalstagen gingen die Verhandlungen auf der Ebene der 19 Finanzminister weiter. So verwiesen die Slowaken und Litauer darauf, dass ihre Bürger kaum bereit seien für Griechenland Opfer zu bringen, wo doch ihr BSP unter dem Griechenlands läge. Spieltheoretiker Varoufakis verlor alsbald sein Verhandlungsmandat, da er Zusagen, die er gegeben hatte, widerrufen musste, sobald er zuhause angekommen war. Als Konsequenz davon telefonierte Jeroen Dijsselbloem, der Chef der Eurozone, fortan direkt mit Alexis Tsipras, wenn er etwas von den Griechen wollte. Inzwischen haben die Griechen akzeptiert, dass sie gewisse Versprechungen machen müssen. Auch die Wähler in Europa müssen ernst genommen werden, nicht nur die in Griechenland. Ob die Versprechungen auch gehalten werden, ja gehalten werden müssen, das steht auf einem andern Blatt. Ob dieses Blatt ein konkretes ist, darf bezweifelt werden.

Heute, am 23.2., berichtet BILD, dass sie herausbekommen habe, was die Griechen versprechen wollen. „Wehe, wenn sie wieder tricksen!“. Noch ist das Finale der Tragödie nicht erreicht.

Dienstag, 10. Februar 2015

Anthropologie und Ethnologie, zwei Wissenschaften ganz besonderer Art

Die Anthropologie ist die Wissenschaft vom Menschen. Sie betrachtet den Menschen gemäß der Evolutionstheorie von Charles Darwin als biologisches Wesen. Eines ihrer Teilgebiete ist die Kulturanthropologie. Im Gegensatz zu den USA wird im deutschen Sprachraum dafür meistens der Begriff Ethnologie (Völkerkunde) verwendet. Die Ethnologie erforscht und vergleicht (laut Wikipedia)

die Kulturen der weltweit rund 1300 ethnischen Gruppen und indigenen Völker, ihre Wirtschaftsweisen, soziale und politische Organisation, Religionen, Rechtsvorstellungen, medizinischen Kenntnisse und gesundheitsbezogenen Praktiken, und ihre Musiken.

Das übliche Verfahren zur Datenerhebung ist die ethnologische Feldforschung. Oft verbringen Ethnologen Jahrzehnte in ihrem Untersuchungsgebiet und suchen dabei die Akzeptanz durch ihre Zielgruppe.

Der Franzose Claude Lévi-Strauss (1908-2009) hatte 1955 mit seinen Buch ‚Traurige Tropen‘ (frz. Tristes Tropiques) nicht nur mir die Augen geöffnet bezüglich des Schicksals der im Urwald vegetierenden primitiven Völkerschaften. Er hatte zwischen 1935 und 1939 mehrere ethnographische Forschungsreisen in den Mato Grosso und ins Amazonasgebiet unternommen. Der etwas ungewöhnliche Buchtitel sollte zum Ausdruck bringen, dass die Vorstellung, dass primitive Völker alle als edle Wilde im Paradies leben, nicht ganz stimmt. Dennoch, oder gerade deshalb, gilt Lévy-Strauss noch heute als der unbestrittene Altmeister des Fachgebiets. Da er über 100 Jahre alt wurde, ist der Titel angebracht.

Bei Arte gab es letzte Woche einen Film, in dem am Beispiel der Yanomami gezeigt wurde, welche Folgen die ethnologische Forschung aus Sicht der ‚Erforschten‘ haben kann. Die Yanomami sind  ein indianisches Volk am Oberlauf des Orinoco, im Süden Venezuelas. Die Arbeit von drei Forschern will ich herausgreifen.

Der erste ist der Franzose Jacques Lizot, ein Schüler von Lévy-Strauss. Er lebte von 1968 bis 1992 unter den Yanomami und verfolgte das Ziel, die Sprache zu erforschen und ein Lexikon zwischen der Eingeborenensprache und Französisch zu erstellen. Er erkaufte sich das Wohlwollen seiner Partner durch eine Unzahl von Geschenken, darunter Hängematten, Äxte, Macheten, Gewehre und Tonbandgeräte. Ihm wird vorgeworfen, sich nicht nur der Pädophilie schuldig gemacht zu haben, sondern auch junge Frauen zur Prostitution verleitet zu haben.

Dem Amerikaner Kenneth Good, der mehrere Jahre unter den Yanomami lebte, wurde 1978 ein etwa 12-jähriges Mädchen zur Frau gegeben. Er hatte drei Kinder mit ihr. Als er später zurück in die USA ging, nahm er Frau und Kinder mit. Dort lebten sie mehrere Jahre, bevor die Frau zurück zu ihrem Stamm in den Urwald übersiedelte. Sie wollte kein Leben, getrennt von ihrer Großfamilie und in Zimmern eingepfercht, verbringen. Zuerst ging nur die Töchter mit. Später folgte auch einer der beiden Söhne.

Sehr umstritten ist die Arbeit von Napoleon Chagnon (Jahrgang 1938) von der University of California in Santa Barbara. Auch er lebte mehrere Jahre bei dem Stamm. Zwischen 1966 und 2013 schrieb er sieben Bücher über die Yanomani. Einige erhielten eine in die Millionen gehende Auflage. In den Buch ‚Yanomamö: Das kriegerische Volk‘ (engl. The Fierce People) von 1968 beschrieb er den Stamm als listig, aggressiv und kriegerisch. Es gäbe immer wieder Auseinandersetzungen mit Nachbardörfern. Oft seien Frauen der Grund. Die Mehrzahl aller Männer sterbe eines gewaltsamen Todes. Durch penible Statistiken wies er nach, dass 40% aller erwachsenen Männer mindestens einen Mord oder Totschlag zu verantworten hätten, und dass dieser Teil der Männer, gegenüber dem Durchschnitt,  mehr Frauen und die dreifache Anzahl von Kindern besäße.

Die Ärzte und Missionare, die bei den Yanomami gearbeitet haben, lehnten Chagnons Schilderungen als völlig unzutreffend ab. Besonders kritisiert wird seine Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie und den Atombehörden, Man begann bei den isoliert lebenden Yanomami Blutproben entnehmen, um die Befunde mit denen japanischer Hiroshima-Opfer zu vergleichen. Als nach seinem letzten Besuch eine Masern-Epidemie ausbrach und viele Stammesmitglieder starben, gab man Chagnon und seinen Begleitern die Schuld. Die Regierung Venezuelas erteilte ihm inzwischen ein Einreiseverbot.

Anthropologen, die mit indianischen Eingeborenen in Südamerika arbeiten, werfen sich gegenseitig vor mit sehr ‚dünnen‘ Daten zu arbeiten. Sie würden ihre Hypothesen als bewiesen ansehen, sobald sie zwei oder drei Fälle fänden, die ähnliches Verhalten zeigten. Ob die Kontaktpersonen ehrlich oder repräsentativ seien, würde nicht nachgeprüft. Ein französischer Kommunist erwarte, dass der Gemeinschaftsbesitz als Urform allen Menschsein hervorstechen müsste. Der Amerikaner, der eher zum Kapitalismus neigt, erkennt alsbald, dass das egoistische Streben einzelner vorherrscht. Andere thematisieren vor allem jede Form von Homosexualität, die sie vorfinden. Jeder gehe von einem bestimmten Paradigma aus und suche nur die Daten, die es bestätigten. Man kann durchaus fragen, ob Anthropologen die einzigen Wissenschaftler sind, die manchmal diesen Fehler machen.

Mittwoch, 4. Februar 2015

Raumflug zum Spartarif oder per Chaostheorie zum Mars


Das Buch ‚Weltformeln‘ von Ian Stewart, das ich immer noch nicht gründlich gelesen habe, hat mich  zumindest auf tolle Themen gebracht hat. War es zuletzt das Selbstverständnis der Mathematik, so ist es jetzt die Himmelsmechanik. Im Kapitel 4, in dem es eigentlich um Newton und die Gravitation ging, deutet der Autor auf einige neuere Arbeiten hin. Insbesondere der 1951 in Heidelberg geborene Edward Belbruno machte mich neugierig. Ich las inzwischen alles, was ich über ihn finden konnte, unter anderem sein Buch ‚Fly me to the Moon‘ von 2007. Belbruno hat in New York Physik studiert und arbeitete von 1985 bis 1990 beim weltberühmten Jet Propulsion Laboratory (JPL) der NASA in Pasadena. War mein letzter Beitrag sehr allgemein und leicht provozierend, so werde ich jetzt auf sehr detailliertes Wissen zurückgreifen und Dinge betonen, die für mich neu und überraschend waren. 

Grundbegriffe der Himmelsmechanik 

Die Himmelsmechanik versucht ein Verständnis für die Bewegung astronomischer oder himmlischer Körper im Weltraum zu entwickeln. Sie fasziniert Menschen seit Jahrtausenden und hat zu vielen Irrwegen geführt, auf die ich nicht eingehen will. Ein zentraler Begriff ist die Schwerkraft oder Gravitation. Sie bezeichnet das Phänomen der gegenseitigen Anziehung von Massen. Es handelt sich dabei (nach Einsteins Vorstellung) nicht um eine Kraft im physikalischen Sinne, sondern um eine geometrische Eigenschaft des Raumes. In der von Massen (und Energieansammlungen) gekrümmten Raumzeit bewegen sich Körper, falls sie unterschiedliche Potenziale besitzen. Man kann sich vorstellen, dass schwere Massen eine Delle verursachen, in die leichtere Körper hineingleiten, sofern kein Hindernis besteht, das sie aufhält. Dieser Effekt wirkt zeitlos. 

 

Bild 1: Abstrakte und konkrete Bahnen von Himmelskörpern

Durch die Bewegung von Körpern ändert sich die Geometrie des Raumes laufend. Diese Änderungen pflanzen sich mit Lichtgeschwindigkeit fort. Als Beispiel: Wenn immer die Sonne ihre Position oder ihre Masse ändert, macht die Wirkung sich etwa 8 Minuten später auf der Erde bemerkbar. Zum Glück tut sie dies zurzeit recht selten oder nur ganz minimal. Von regelmäßigen Bahnkurven der Himmelskörper zu reden, ist lediglich eine Abstraktion. Die konkrete Bahn wird bestimmt durch die Summe der in einem konkreten Moment der Geschichte wirkenden Einflüsse. Es ist anzunehmen, dass keine zwei Augenblicke der Geschichte vollkommen gleich sind, bestenfalls nur in einer gewissen Abstraktion, also einer vergröbernden Draufsicht. 

Allgegenwärtiges Mehrkörperproblem 

Die Anziehung, mit der zwei Massen aufeinander wirken, ist nach Newton umgekehrt proportional zum Quadrat ihrer Entfernung. Die gegenseitige Anziehung zweier Körper konnten schon Leonhard Euler (1707-1783) und Joseph-Louis Lagrange (1736-1813) im 18. Jahrhundert berechnen. Wird die an jedem Ort wirkende Kraft grafisch in Form von Äquipotenziallinien dargestellt, dann ergibt sich ein charakteristisches Bild.

 

Bild 2: Lagrange-Punkte im Anziehungsfeld zweier Körper

Es gibt fünf ausgezeichnete Punkte, an denen die Anziehungspotenziale zweier Körper sich gegenseitig aufheben, die so genannten Lagrange-Punkte L1 bis L5. Sie haben für die Raumfahrt insofern Bedeutung, weil sich an ihnen ein kleinerer dritter Körper aufhalten kann, ohne vom Umfeld beeinflusst zu werden. Im Erde-Mond-Feld oder im Sonne-Mars-Feld lässt sich hier etwa eine Raumsonde parken. Diese bewegt sich dann im jeweiligen Zwei-Körper-Umfeld mit, erscheint aber aus Sicht der beiden Körper in stabiler Position zu verweilen.  

Um den oben angedeuteten Gedanken weiterzuführen, muss man sagen, dass die Darstellung einer Situation im Weltraum als Zwei-Körper-Problem meistens eine Vereinfachung, also Abstraktion ist. In Wirklichkeit gibt es diese Situation nie, sondern nur die verschiedensten N-Körper-Probleme (N > 2). Nur Zwei-Körper-Probleme lassen sich mit einigem mathematischen Aufwand behandeln, alle darüber hinausgehenden Probleme nicht. Hier helfen nur Simulationen und Näherungsrechnungen. Schon Henri Pointcaré (1854-1912) stöhnte darüber, dass unsere Vorstellungskraft nicht ausreicht, um uns die Welt vorzustellen, von mathematischer Behandlung gar nicht zu reden. 

Raumflug per Hohmann-Transfer 

Am Anfang jeder Bewegung im Weltraum muss man dem Schwerefeld der Erde entkommen. Hierfür ist eine Geschwindigkeit von 11,2 km pro Sekunde erforderlich. Hat man eine Erdumlaufbahn (oder einen Laplace-Punkt) erreicht, will man in die Nähe eines Zielkörpers (Mond, Planet, Komet) gelangen. Schon 1925 hat Walter Hohmann (1880-1945) hierfür eine spezielle Ellipse vorgeschlagen.  

 

 Bild 3.  Hohmann-Transfer

Fast alle bisher durchgeführten Raumflüge benutzten einen so genannten Hohmann-Transfer. Das gilt für alle amerikanischen, russischen und chinesischen Raumflüge. Die elliptische Kurve ist einfach zu berechnen und sehr stabil, d.h. sie muss nicht genau eingehalten werden. Eine typische Erdumlaufbahn (engl. low earth orbit, Abk. LEO) hat einen Radius von rund 200 km. Das Hauptproblem besteht im hohen Energieverbrauch. Im Falle des Mondes als Ziel kommt das Raumschiff mit der fünffachen Geschwindigkeit eines Düsenjets in die Mondbahn und muss abgebremst werden, um nicht vorbei zu schießen. Der dafür benötigte Kraftstoff muss mitgeführt werden, gegebenenfalls auch der Brennstoff für den Rückflug. Der in Bild 3 punktiert gezeichnete Teil der Flugbahn wird für den Rückflug benutzt. 

Ballistisches Einfangen 

Während seiner Zeit am JPL beschäftigte sich Belbruno mit Alternativen zum Hohmann-Transfer. Durch Simulation versuchte er die Grenze zu finden, an der stabile Flugbahnen in chaotische Trudelbewegungen übergehen (engl. weak stability boundary, Abk. WSB). Innerhalb dieser WSBs suchte er dann Bahnen, die rein ballistisch, also ohne Energiezufuhr in die Zielbahn führten. Es muss dort das Flugobjekt mit einer hinreichend niedrigen Geschwindigkeit vor das Ziel gesetzt werden, so dass es von diesem eingefangen wird (engl. ballistic capture). Je nach Anwendung kann das Einfangen in einer Umlaufbahn enden oder auf dem Zielkörper aufsetzen. Dabei wurde die Simulation teilweise mit rückwärts laufender Zeit ausgeführt. Ausgehend von der erwünschten Zielposition und Zielgeschwindigkeit erhielt man einen Startpunkt im Raum, von dem der energielose Flug erfolgen konnte. Komplexere Flugbahnen konnten sich aus Teilstücken zusammensetzen, die von Lagrange-Punkt zu Lagrange-Punkt führten. Auch können Umwege geflogen werden, um Beschleunigungen im Gavitationsfeld benachbarter Himmelskörper zu erfahren (engl. gravitational assists).

 

 Bild 4: Ballistisches Einfangen (Skizze Belbruno)

Beim ballistischen Einfangen richtet sich die Weglänge und die Zeitdauer des Fluges nach der Menge an Treibstoff, die gegenüber einem Hohmann-Transfer gespart werden soll. Entsprechend der Menge des eingesparten Treibstoffs kann die Nutzlast vergrößert werden, und zwar je nach Art des Treibstoffs etwa bis um das Doppelte. 

Frühe, längst vergessene Erfolgsgeschichte

Als erster Raumflug mit ballistischem Einfangen fanden 1989 Besuche mehrerer Jupiter-Monde im Rahmen des Unternehmen Galileo statt. Als das Projekt beendet war, verließ Belbruno das JPL. Völlig unerwartet ergab sich dann 1991 eine neue Chance, als das japanische Projekt Hiten in Schwierigkeiten geriet. 

 

Bild 5: Flugbahn der Sonde Hiten zum Mond (Skizze Belbruno) 

Hiten war der Name einer Raumsonde von der Größe eines Kühlschranks, den Japan in eine Erdumlaufbahn geschossen hatte. Von ihr aus war eine zweite Sonde (namens Hagoromo) von der Größe einer Pampelmuse auf einer Hohmann-Bahn Richtung Mond geschickt worden. Als man den Funkkontakt verlor, wandte man sich um Hilfe an das JPL. Da ursprünglich Messungen in der Mondumlaufbahn vorgesehen waren, hätte man gerne stattdessen die noch aktive Sonde Hiten dorthin geschickt, nur reichte der an Bord sich befindende Treibstoff dafür nicht aus. Obwohl Belbruno das JPL bereits verlassen hatte, wurde er zu Berechnungen hinzugezogen.

Mit einem Kollegen zusammen entwarf er eine ballistische Flugbahn mit niedrigem Treibstoffbedarf. Die Bahn wurde durch Computer-Simulation ermittelt, und zwar mit rückwärts laufender Zeit. Die errechnete Flugbahn führte die Sonde zuerst zu einem Punkt (Punkt C in Bild 5) etwa eine Million Meilen von der Erde (Punkt A) entfernt, und von dort zum Mond (Punkt B). Hiten kam im Oktober 1991 in der Mondumlaufbahn an und führte das für ihre Tochtersonde geplante Messprogramm durch. Bevor sie auf der Mondoberfläche zum Zerschellen gebracht wurde, besuchte Hiten noch die Lagrange-Punkte L4 und L5 im Erde-Mond-Feld. Man vermutete dort nämlich kosmische Staubpartikel aus der Frühzeit des Mondes zu finden. Diese Erwartung erfüllte sich jedoch nicht. 

Spätere Erfolgsgeschichte und öffentliches Interesse 

Es dauerte etwa zwölf Jahre, bis dass sich eine neue Anwendung für Belbrunos Ideen ergab. Im Jahre 2004 startete die Europäische Raumfahrtorganisation ESA von ihrem Raumbahnhof Kourou die Sonde SMART-1. Sie sollte Messgeräte in die Nähe des Mond-Südpols bringen, die feststellen sollten, ob sich unter dem dortigen Eis auch flüssiges Wasser befände.  

Die Sonde benutzt einen Ionenantrieb. Gegenüber chemischen Raketentriebwerken verfügt ein Ionentriebwerk nur über einen minimalen Schub, etwa 30.000 mal kleiner. Da sich die Geschwindigkeit jedoch stetig steigert, ist eine lange Flugzeit hier von Vorteil. Die Sonde SMART-1 wiegt etwa 400 Kilogramm und führte beim Start 84 kg Xenon als Treibstoff mit. Für die Freisetzung der Ionen dient elektrischer Strom, der durch Sonnensegel gewonnen wird. Für die Strecke zum Mond wurden 18 Monate benötigt. Sie flog auf einer ballistischen Bahn. 

Im letzten Jahr hat Belbruno zusammen mit einem Mailänder Mathematiker eine ballistische Bahn für einen Flug zum Mars berechnet. Außerdem hat sich die Firma Boeing interessiert gezeigt. Plötzlich ist Edward Belbruno in der Presse. Der Scientific American berichtete im Dezember über ihn, aber auch Spiegel Online. 

Bemerkungen zum politisch-wirtschaftliches Umfeld 

Die hier erzählte Geschichte wirft einige Lichter auf das Umfeld. Eine neue Idee kämpft gegen altbewährte Prinzipien. Der Hohmann-Transfer ist eine einfache und sichere, aber sehr teure Lösung (engl. brute force). Sie ist die einzig akzeptable Lösung für bemannte Raumflüge. Für unbemannte Flüge, etwa Materialtransporte, ist Belbrunos Lösung ökonomischer, sofern kein Zeitdruck besteht. Eine weitere Voraussetzung ist der hohe Rechnerbedarf. 

 

 Bild 6: Belbrunos Gemälde mit Flugbahnen 

Hier sucht mal wieder eine Lösung nach geeigneten Anwendungen  ̶  was öfters vorkommt. In Zeiten knapper werdender Raumfahrtmittel ist vielleicht sogar Platz für Speziallösungen. Dass gerade die NASA äußerst vorsichtig agierte, ist nachvollziehbar. Durch vergangene Erfolge (Apollo, Viking, Voyager) hat sie einen Ruf erworben, den sie nicht aufs Spiel setzen möchte. Alle Ingenieure sind von Natur aus konservativ, nicht nur Raumfahrt-Ingenieure. Was sich bewährt hat, hat Vorrang. Man ändert nur aus gutem Grund. Jedes Bauteil, über das man nicht neu nachdenken muss, erspart Zeit und Entwicklungskosten. 

Politisch interessant ist, dass Belbruno sich Kritik anhören musste, weil er amerikanisches Knowhow den Japanern zur Verfügung gestellt habe. Belbruno ging, als er 1990 das JPL verließ, zunächst zum Pomona College im Süden Kaliforniens. Später zog er in den Mittelwesten und machte sich selbständig. Er betätigt sich auch als Maler, wobei er den Stil Vincent van Goghs nachempfindet.