Die Anthropologie ist die
Wissenschaft vom Menschen. Sie betrachtet den Menschen gemäß der
Evolutionstheorie von Charles Darwin als biologisches Wesen. Eines ihrer
Teilgebiete ist die Kulturanthropologie. Im Gegensatz zu den USA wird im deutschen
Sprachraum dafür meistens der Begriff Ethnologie (Völkerkunde)
verwendet. Die Ethnologie erforscht und vergleicht (laut Wikipedia)
die Kulturen
der weltweit rund 1300 ethnischen Gruppen und indigenen Völker, ihre
Wirtschaftsweisen, soziale und politische Organisation, Religionen, Rechtsvorstellungen,
medizinischen Kenntnisse und gesundheitsbezogenen Praktiken, und ihre Musiken.
Das übliche
Verfahren zur Datenerhebung ist die
ethnologische Feldforschung. Oft verbringen Ethnologen Jahrzehnte in ihrem
Untersuchungsgebiet und suchen dabei die Akzeptanz durch ihre Zielgruppe.
Der
Franzose Claude
Lévi-Strauss (1908-2009) hatte 1955 mit seinen Buch ‚Traurige Tropen‘ (frz. Tristes Tropiques) nicht nur mir die Augen geöffnet bezüglich des
Schicksals der im Urwald vegetierenden primitiven Völkerschaften. Er hatte
zwischen 1935 und 1939 mehrere ethnographische Forschungsreisen in den Mato
Grosso und ins Amazonasgebiet unternommen. Der etwas ungewöhnliche Buchtitel
sollte zum Ausdruck bringen, dass die Vorstellung, dass primitive Völker alle als
edle Wilde im Paradies leben, nicht ganz stimmt. Dennoch, oder gerade deshalb,
gilt Lévy-Strauss noch heute als der unbestrittene Altmeister des Fachgebiets. Da
er über 100 Jahre alt wurde, ist der Titel angebracht.
Bei
Arte gab es letzte Woche einen Film, in dem am
Beispiel der Yanomami gezeigt wurde,
welche Folgen die ethnologische Forschung aus Sicht der ‚Erforschten‘ haben
kann. Die Yanomami sind ein indianisches
Volk am Oberlauf des Orinoco, im Süden Venezuelas. Die Arbeit von drei
Forschern will ich herausgreifen.
Der
erste ist der Franzose Jacques Lizot, ein Schüler von
Lévy-Strauss. Er lebte von 1968 bis 1992 unter den Yanomami und verfolgte das
Ziel, die Sprache zu erforschen und ein Lexikon zwischen der
Eingeborenensprache und Französisch zu erstellen. Er erkaufte sich das
Wohlwollen seiner Partner durch eine Unzahl von Geschenken, darunter
Hängematten, Äxte, Macheten, Gewehre und Tonbandgeräte. Ihm wird vorgeworfen,
sich nicht nur der Pädophilie schuldig gemacht zu haben, sondern auch junge Frauen
zur Prostitution verleitet zu haben.
Dem
Amerikaner Kenneth Good, der mehrere
Jahre unter den Yanomami lebte, wurde 1978 ein etwa 12-jähriges Mädchen zur
Frau gegeben. Er hatte drei Kinder mit ihr. Als er später zurück in die USA
ging, nahm er Frau und Kinder mit. Dort lebten sie mehrere Jahre, bevor die
Frau zurück zu ihrem Stamm in den Urwald übersiedelte. Sie wollte kein Leben, getrennt von
ihrer Großfamilie und in Zimmern eingepfercht, verbringen. Zuerst ging nur
die Töchter mit. Später folgte auch einer der beiden Söhne.
Sehr
umstritten ist die Arbeit von Napoleon Chagnon (Jahrgang 1938)
von der University of California in Santa Barbara. Auch er lebte mehrere Jahre
bei dem Stamm. Zwischen 1966 und 2013 schrieb er sieben Bücher über die
Yanomani. Einige erhielten eine in die Millionen gehende Auflage. In den Buch ‚Yanomamö: Das kriegerische Volk‘ (engl. The
Fierce People) von 1968 beschrieb er den Stamm als listig, aggressiv und
kriegerisch. Es gäbe immer wieder Auseinandersetzungen mit Nachbardörfern. Oft
seien Frauen der Grund. Die Mehrzahl aller Männer sterbe eines gewaltsamen
Todes. Durch penible Statistiken wies er nach, dass 40% aller erwachsenen
Männer mindestens einen Mord oder Totschlag zu verantworten hätten, und dass
dieser Teil der Männer, gegenüber dem Durchschnitt, mehr Frauen und die dreifache Anzahl von
Kindern besäße.
Die Ärzte
und Missionare, die bei den Yanomami gearbeitet haben, lehnten Chagnons
Schilderungen als völlig unzutreffend ab. Besonders kritisiert wird seine Zusammenarbeit
mit der Pharmaindustrie und den Atombehörden, Man begann bei den isoliert lebenden
Yanomami Blutproben entnehmen, um die Befunde mit denen japanischer
Hiroshima-Opfer zu vergleichen. Als nach seinem letzten Besuch eine Masern-Epidemie
ausbrach und viele Stammesmitglieder starben, gab man Chagnon und seinen
Begleitern die Schuld. Die Regierung Venezuelas erteilte ihm inzwischen ein
Einreiseverbot.
Anthropologen,
die mit indianischen Eingeborenen in Südamerika arbeiten, werfen sich
gegenseitig vor mit sehr ‚dünnen‘ Daten zu arbeiten. Sie würden ihre Hypothesen
als bewiesen ansehen, sobald sie zwei oder drei Fälle fänden, die ähnliches
Verhalten zeigten. Ob die Kontaktpersonen ehrlich oder repräsentativ seien,
würde nicht nachgeprüft. Ein französischer Kommunist erwarte, dass der
Gemeinschaftsbesitz als Urform allen Menschsein hervorstechen müsste. Der Amerikaner,
der eher zum Kapitalismus neigt, erkennt alsbald, dass das egoistische Streben
einzelner vorherrscht. Andere thematisieren vor allem jede Form von
Homosexualität, die sie vorfinden. Jeder gehe von einem bestimmten Paradigma
aus und suche nur die Daten, die es bestätigten. Man kann durchaus fragen, ob
Anthropologen die einzigen Wissenschaftler sind, die manchmal diesen Fehler
machen.
Soeben schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
AntwortenLöschenDer Mensch als biologisches Wesen oder der Mensch im Rahmen einer Völkerkunde hat mich nie sonderlich interessiert. Mir lag immer mehr an der Philosophischen Anthropologie (http://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische_Anthropologie) , die letztendlich von Kant begründet wurde. Er schrieb eine „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ (1797). Ausgangspunkt war sein berühmte vierte Frage „Was ist der Mensch?“.
Bei den gewaltigen Umwälzungen, denen wir ausgesetzt sind, stellt sich nicht nur die alte Frage „Der biologische Mensch und sein Volk“, sondern „Der Mensch in seiner Organisation“, die sich drastisch wandelt. Es gibt so etwas wie „Organisations- Anthropologie“. Wie erfolgreich die betrieben wird, bleibt zu debattieren