Mittwoch, 27. Juli 2016

Nochmals: Meine private Informatik-Erfahrung

Fünf Jahre sind es seit meinem Bericht im Februar 2011 über Meine private Dreischichten-Informatik. Ich möchte heute einige ergänzende Angaben machen. Das Thema ist ja wichtig und interessant genug, um es immer wieder und aus andern Perspektiven zu betrachten. Damals schrieb ich:

Ich benutze Rechner, die ich herumtrage, solche, die ich auf dem Sofa liegend nutze, und solche, für die ich aufstehe und zum Schreibtisch gehe. Ich nenne sie im Folgenden Smartphone, Tablettrechner (Deutsch für Tablet Computer) und Desktop.

Diese Struktur blieb seither unverändert. Nur die beiden mobilen Stufen haben sich in den fünf Jahren dem Stand der Technik folgend laufend angepasst bzw. Zuwachs erfahren. Der Desktop hat sich nicht mehr geändert, abgesehen von einem Release-Upgrade des Betriebssystems. Der damals sich abzeichnende Nutzungstrend hat sich verstärkt.

Die Smartphones

Nach dem iPhone 4 bekam ich irgendwann ein iPhone 5. Meine Frau erhielt das iPhone 4, ich das iPhone 5. Eigentlich waren wir zufrieden. Als Problem erwies sich – wen kann dies wundern – lediglich die Speichergröße. Die 16 GB füllten sich immer wieder, meist der Fotos wegen. Erst als das iPhone 6S herauskam, dessen Speichergrenze bei 64 GB liegt, konnte ich nicht mehr Nein sagen. Für mein iPhone 5 konnte ein anderes Familienmitglied als Nutzer gewonnen werden. Obwohl nur der größere Speicher schon die Anschaffung rechtfertigte, erwiesen sich zwei andere Hardware-Verbesserungen als echte Vorteile. Erstens, der Bildschirm ist 50% größer und hat eine bessere Auflösung. Zweitens, das Telefon ist jetzt sogar nutzbar. (Weitere Zahlen gibt es in einem Beitrag im November)

Alle aktuellen Fotos von Familienereignissen der letzten fünf Jahre (50 Alben, etwa 3000 Fotos) stehen jetzt auf allen Geräten der Hierarchie physikalisch zur Verfügung. Als Backup stehen sie außerdem in einer Cloud. Auch habe ich – bis auf Weiteres – keinen Grund irgendwelche Apps zu löschen, die ich nur ganz selten benutze. Etwa 250 Apps sind derzeit aktiv. Ich teile sie in drei Gruppen ein:

(a) Täglich oft mehrmals genutzt. Das sind etwa 50 Apps. Dazu gehören Mail, WhatsApp, Threema, Facebook, N-TV, SPON (Nachrichtendienst Spiegel Online), Evernote, Google, Google+, Wikipedia, FAZ, Süddeutsche, LinkedIn, Handelsblatt und Heise.

(b) Etwa einmal pro Woche genutzt. Das sind weitere etwa 50 Apps. Typische Beispiele sind Bertals Blog, Kamera, Karten, Kontakte, Onefootball, DER SPIEGEL, Solitaire, Web.de-Foto und Finanzen100.

(c) Etwa einmal pro Monat oder nur gelegentlich benutzt. Das sind die übrigen 150 Apps. Dazu gehören Amazon, Birthdays, dict.cc (Wörterbuch), Das Örtliche (Telefonbuch), Mühle, Sudoko, Vivino (Wein-Scanner) und Youtube.

Der größere Bildschirm führte dazu, dass ich mehr Zeitungen oder Filme auf dem iPhone 6S anschaue als vorher auf dem iPhone 5. Das iPhone 5 hatte ich als Telefon kaum genutzt. Das hing damit zusammen, dass die Antenne so eingebaut war, dass man sie leicht abdeckte. Mit dem iPhone 6S telefoniere ich oft aus reiner Bequemlichkeit. Anstatt eine nicht gespeicherte Telefonnummer im Festnetz zu wählen, tippe ich lieber die Nummer in der Liste meiner Kontakte auf dem Smartphone an. Ob Mobiltelefon oder Festnetz in den Kosten ist kaum ein Unterschied.

Die Tablets

Die weitaus größten zusammenhängenden Zeiten verbringen meine Frau und ich, lesend, schauend und hörend, mit Tablettrechnern. Aus dem einen iPad wurden deren drei. Der neueste ist ein iPad Air. Er ist besonders flach und leicht. Zwei Geräte stehen an zwei Orten im Haus, an denen ich mich wechselweise aufhalte. Das dritte Gerät benutzt meine Frau.



Jede Woche, beginnend am Freitagabend, lesen meine Frau und ich die iPad-Ausgabe des SPIEGEL. Ich habe die rund 100 Seiten in der Regel in zwei Tagen durch, meine Frau braucht manchmal die ganze Woche (Sie kümmert sich nebenher noch um den Haushalt). Der Mehrwert des elektronischen SPIEGELs sind inzwischen Videos zu allen Ereignissen und Reportagen. Neuerdings höre ich auch fast alle Fernseh-Nachrichten (ARD, ZDF) auf dem iPad. Alle Spiele der Fußball-EM, die ich anschaute, liefen auf dem iPad. Dasselbe gilt für jedes Buch, das ich lese. Ich lese mal in einem Raum ein paar Kapitel, dann lese ich im anderen Raum weiter. Die wichtigsten Anwendungen auf den iPads sind derzeit Skoobe, iBooks, SPIEGEL, N-TV, ARD, ZDF, Arte und Google Earth.


Der Desktop

Am Desktop arbeite ich nur, wenn ich viel Text eingebe, d.h. längere E-Mails verfasse oder irgendwelche anderen Veröffentlichungen produziere. Das kommt immer seltener vor. Obwohl die Hardware-Konfiguration de facto unverändert blieb, sorgte die Software für ungeplante Herausforderungen. Auf zwei Episoden will ich kurz eingehen.

Seit einigen Jahren benutzte ich auf dem Desktop das Betriebssystem Windows 8. Irgendwann in den letzten Monaten bot Microsoft einen kostenlosen Upgrade auf Windows 10 an. Der einzige Grund eine Umstellung in Betracht zu ziehen, war die Angst irgendwann vom Service abgehängt zu werden. Dann kam vorübergehend das Gerücht auf, dass der Upgrade alsbald kostenpflichtig würde. Das wurde von Microsoft dementiert. Trotzdem warb Microsoft fast täglich mit Nachrichten am Rechner dafür, die Umstellung vorzunehmen. Irgendwann muss eine solche Nachricht nach Uhrzeiten gefragt haben, wann die Umstellung stattfinden sollte. Ich hatte das übersehen. Jedenfalls wurde ich eines Tages, mitten bei der Texteingabe in Word unterbrochen und die Umstellung wurde gestartet. Etwa eineinhalb Stunden lang war mein Rechner blockiert. Als er wieder freigegeben wurde, war Windows 10 installiert. Ich konnte die Texteingabe an genau derselben Stelle weitermachen, an der ich unterbrochen worden war. Nicht ein einziger Buchstabe war verloren gegangen. Das Layout des Bildschirm hatte sich leicht geändert, aber nicht so, dass man eine längere Umgewöhnung benötigte. Eine einzige Anwendung musste ich neuinstallieren. Es war das Antiviren-Programm. Ich habe bis heute keine neue Funktion genutzt, auch nicht die neue Hilfefunktion namens Cortana. Das Geschäftsmodell, das Microsoft zum Verschenken von Software verleitet, wurde mir alsbald klar. Windows 10 analysiert meinen Rechner und stellt fest, welche andere Software von Microsoft ich installiert habe, für die es einen kostenpflichtigen Update gibt. Der Update wäre doch sehr wertvoll und ich sollte ihn kaufen.

Eine unangenehme Folge hatte die Umstellung. Fast täglich werde ich einmal mit dem berühmten blauen Bildschirm konfrontiert. Ich kannte den bisher nur vom Hörensagen. Der Fehlertext schwankt. Meistens wird als Ursache eine unerwartete Seitenunterbrechung (engl. unexpected page fault) angezeigt. Das Traurige ist, dass ich weder Hinweise zur Behebung des Fehlers erhalte, noch dass der Neustart automatisch erfolgt.

Die zweite Episode ist weniger erfreulich, sowohl für Microsoft wie für mich. Schon vor der Umstellung auf Windows 10 erhielt ich – immer um die Zeit meiner Mittagsruhe – einen Anruf aus Indien. Es stellte sich jemand auf Englisch vor, meistens ein Mann (z. B. mit ‚Hello, my name is Harry‘), manchmal eine Frau, und sagte er oder sie arbeiteten für Microsoft. Man wolle mir sagen, dass mein Rechner immer wieder seltsame Nachrichten an Microsoft sende. Meistens brach ich das Gespräch an dieser Stelle ab. Einmal bat ich darum, mir eine E-Mail mit Details zu senden. Darin wurde der Name eines Virus genannt, der für das Senden der Nachrichten verantwortlich sei. Darauf ließ ich bei mir mein Antivirusprogramm laufen – und siehe da – es fand ein Dutzend Viren.

Ich hatte gehofft, dass damit die Anrufe aus Indien aufhören würden, hatte mich aber leider getäuscht. Als ich daraufhin dieser Tage mein Antivirenprogramm eine neue Analyse vornehmen ließ, fand es in der ersten Million von Dateien nichts. Erst nach 11 Stunden und 19 Minuten wurde es fündig. Es fand zwei Viren in einer Datei, die sich in der Cloud befand. Das fehlt mir noch – dachte ich. Die Cloud war mir schon deshalb lästig geworden, weil ich dafür zusätzliche Speicherkapazität mieten sollte.

Sonstige Anwendungen

Ebenfalls im Februar 2011 berichtete ich über Meine Erfahrungen mit Amazon und eBay. Meine Beziehungen zu beiden Anwendungen bzw. Firmen hat sich sehr unterschiedlich entwickelt. Bei Amazon bin ich ein sehr regelmäßiger Nutzer geblieben. Ich bestelle etwa jeden Monat 1-2 Produkte bei Amazon.  Es sind fast immer Elektro- oder Haushaltsgeräte nebst Zubehör. Die Einfachheit der Bestellung und Abrechnung und die Schnelligkeit der Lieferung beeindrucken mich jedes Mal wieder. Bücher beziehe ich grundsätzlich nicht von Amazon, sondern von Apple (iBooks) oder Skoobe. Meine Hoffnung richtet sich derzeit auf Amazon, was die Lieferung von frischen Lebensmitteln anbetrifft. Wenn irgendjemand dies schaffen sollte, dann wird es Amazon sein, der hierfür eine akzeptable Lösung finden wird. Keinem anderen Dienstleister traue ich es zu. Bei eBay bin ich so gut wie nicht mehr aktiv.

Donnerstag, 14. Juli 2016

Zur Entstehung des Fachgebiets Informatik und zur Frage seiner herausragenden Beiträge

In der Gesellschaft für Informatik (GI) findet gerade eine Diskussion darüber statt, mit welcher Jahreszahl man die Entstehung des Fachgebiets Informatik in Deutschland verbinden sollte. Zur Diskussion steht der Zeitraum von 1956 bis 1968. Gefragt wird außerdem nach den herausragenden Beiträgen deutschsprechender Informatikerinnen und Informatiker. Wer sich zu beidem äußert, muss meines Erachtens zuerst das Thema präzisieren. Die wichtigsten Kriterien sind inhaltliches Fachverständnis, geografischer Betrachtungsrahmen und Einbeziehung von Industrie und Hochschule. Ich will dazu im Folgenden einige Hinweise geben.

Inhaltliches Fachverständnis

Informatik sei die „Wissenschaft der systematischen Verarbeitung von Informationen, insbesondere der automatischen Verarbeitung mit Hilfe von Digitalrechnern“. So lautet die aktuelle, wenig aussagekräftige Definition bei Wikipedia. Sie ist wörtlich aus dem Informatik-Duden übernommen. Ein Problem, das diese Definition hat, ist die zentrale Rolle des Informationsbegriffs. Wie an anderer Stelle in diesem Blog ausgeführt, spalten sich daran die Geister. Fasst man die drei im Informatik-Duden später erfolgenden Definitionen von theoretischer, praktischer und technischer Informatik zusammen, erhält man eine durchaus konsensfähige Umschreibung der so genannten Kerninformatik. Zusammen mit der angewandten Informatik ergibt sich dann das Gesamtbild, das der Situation einigermaßen gerecht wird.


 Genese des Fachs Informatik

Als Teil eines Nachrufs auf Heinz Zemanek [1] hatte ich letztes Jahr sowohl Zemaneks wie meine Sicht auf die historische Entwicklung grafisch dargestellt. In Deutschland und Österreich entstand aus der Nachrichtentechnik zunächst die Informationstechnik. Im Jahre 1986 schrieb Zemanek [2]: Unser Gebiet ist zu einer echten Ingenieurkunst geworden, zu einer Technik, mit der Information fertig zu werden, eben zur ‚Informationstechnik‘.  Da er sich seit 1958 vorwiegend mit reinen Software-Projekten befasste, fand auch bei ihm der Wandel zum Informatiker statt. Eine Art Umweg machte er, indem er sich zwischenzeitlich mit Kybernetik befasste. Zemanek sah den Begriff Informatik  als gut gewählt an. Das Verbindende der Informatik sei die Programmierung, meinte Zemanek. Informatik sei eine Ingenieurwissenschaft für abstrakte Objekte. Der Informatiker sei demzufolge ein Ingenieur neuerer Art – so führte er weiter aus. Er konstruiere zwar zunächst Objekte, die auf Papier stehen, die dann jedoch in die Umwelt oder das Leben von Menschen eingreifen. Wenn heute anstelle von Papier ein Bildschirm tritt, ändert dies nichts an der Art der Aufgabe. Es gilt, vielleicht erst recht, wenn der Computer die Form eines Handys, Navis oder Herzschrittmachers hat. Entscheidend war für Zemanek, dass die Ingenieur-Mentalität nicht auf der Strecke bleibt.

Für viele von uns, die innerhalb der Industrie den Weg in die Informatik fanden, hießen die Vor- oder Zwischenstufen anfangs Datenverarbeitung, später Informationsverarbeitung. Das Zurückdrängen des ersten Begriffes zugunsten des zweiten stellte im Grunde eine gezielte Aufwertung des Faches dar, ohne dass es dafür sachlich belegbare Gründe gab. Ein Grund, warum die USA das Wort Computerwissenschaften gegenüber Informatik vorzogen, sei die Meinung prominenter Kollegen (z.B. Donald Knuth) gewesen, dass Computer stets nur Daten aber keine Informationen verarbeiten könnten.

Geografischer Betrachtungsrahmen

Es ist eine bewusste starke Einschränkung, wenn man ein Fachgebiet nur aus der Sicht eines Landes betrachtet. Für die Informatik ist dies geradezu eine Unmöglichkeit. Wie jeder einschlägig informierte Fachmann weiß, spielte Deutschland bestenfalls eine Nebenrolle, selbst dann wenn wir die zwei anderen deutschsprachigen Länder, Österreich und die Schweiz, mit hinzurechnen. Selbst sich auf Europa zu beschränken und die USA außer Betracht zu lassen, ergibt nur ein sehr unvollständiges Bild.

Das Ursprungsland der modernen Rechentechnik sind ohne Zweifel die USA. Nicht nur akademische Prototypen, sondern auch praktisch nutzbare Produkte gab es rund 10 Jahre früher als in Europa. Die Arbeiten von Konrad Zuse und Alan Turing während des zweiten Weltkrieges nehmen zwar eine Sonderstellung ein. Auf sie soll hier nicht näher eingegangen werden. Die einschlägige Fachgesellschaft in den USA, die Association for Computing Machinery (ACM) wurde bereits 1947 gegründet. Das englische Äquivalent, die British Computer Society (BCS) gibt es seit 1957, die Gesellschaft für Informatik (GI) erst seit 1969. Wer die deutsche Informatik mit der GI gleichsetzt, neigt leicht dazu, wichtige Jahre und wichtige Aspekte des Fachgebiets außer Acht zu lassen.

Das Verständnis dessen, was unter Informatik zu verstehen ist, deckt sich weitgehend in Kontinentaleuropa, also in Frankreich, Italien und den deutschsprachigen Ländern. Die UK spielen insofern eine Sonderrolle als sie die Begriffe Computerwissenschaft (engl computer science, Abk. CS) und Informatik (engl. informatics) nebeneinander benutzen. In dem Wikipedia-Eintrag zu Informatics heißt es:

Informatics includes the study of biological and social mechanisms of information processing whereas computer science focuses on the digital computation.

In den USA gibt es eine Art von Dreiteilung. Computerwissenschaft ist eine eher theoretisch ausgerichtete Informatik mit Schwerpunkt auf den mathematischen und naturwissenschaftlich-technischen Anwendungen. Computer Technology deckt den Hardware-Bereich ab, und Information Systems den kaufmännischen Anwendungsbereich (unserer Wirtschaftsinformatik entsprechend). Diese drei Studienfächer sind meist drei verschiedenen Fakultäten zugeordnet. Amerikanische Hochschulen wurden von dem Unternehmer Walter Bauer daran gehindert, die Bezeichnung Informatics zu benutzen. Er hatte das Wort als Name seiner Firma schützen lassen.

Einbeziehung von Industrie und Hochschulen

Um die Sicht der Praxis darzustellen, gebe ich einen kurzen Überblick über die Aktivitäten der Firma IBM in der Zeit von 1952 bis 1958. Ich beziehe mich dabei auf Material, das meine beiden Ex-Kollegen Günther Sandner und Hans Spengler [5] zusammengestellt haben.


Frühe IBM-Rechner

Außer IBM bestimmte Remington Rand mit der UNIVAC I das frühe Geschehen. IBM befand sich von Beginn an in einem Aufholprozess bei den kommerziellen Rechnern und offerierte neben der technisch-wissenschaftlichen IBM 701 bzw. 704 die IBM 702. Der Rechner hatte eine geringere Leistung und war für kaufmännische Anwendungen konzipiert. Mit Nat Rochester (1919-2001) hatte ich einen der Entwickler der 700-Serie in diesem Blog vorgestellt. Das Arbeitspferd war die IBM 650, an der ich – so wie Tausende Kollegen – den Appetit fürs Programmieren gewann. Von diesem Typ hatte IBM etwa 2000 Systeme ausgeliefert. Es entstand ein Massenmarkt, was die damaligen Verhältnisse anbetraf.

Die folgende Aufstellung soll belegen, dass es in Deutschland schon früh einen Bedarf an Fachkräften gab, die den Anwendern helfen sollten, den Einsatz dieser Rechner zu planen und organisieren. In der Liste fehlen die Farbwerke Höchst, die sich für eine IBM 701 entschieden hatten. Die erste IBM 704 in Europa, die auch von deutschen Anwendern benutzt wurde, stand am Place Vendome in Paris. Außerdem bestand das Ziel, der deutschen Industrie den Einstieg in diesen Markt zu ermöglichen. Siemens, AEG/Telefunken und Zuse, aber auch die weiter unten erwähnte SEL, waren interessiert.


Erste IBM 650‘s in Deutschland

In diesen Jahren wurden die Stimmen immer lauter, die vom öffentlichen Bereich verlangten, dass er sich der neuen Aufgabe stellen müsste und langfristig für qualifiziertes Personal sorgen müsste. Nur um es klarzustellen: Nicht die Verfügbarkeit von qualifizierten Absolventen oder Forschern schuf eine neue Industrie. Es war genau umgekehrt. Die Erfolge der Industrie schufen den Bedarf an Absolventen und an Hochschullehrstühlen. Das scheint manchmal vergessen zu werden.

Deutsche Hochschulen mit frühem Interesse an Rechentechnik waren München, Berlin, Karlsruhe und Darmstadt. Bereits 1957 erhielt Friedrich L. Bauer zusammen mit Klaus Samelson ein erstes Software-Patent, und zwar auf das Prinzip des Stapelspeichers (Kellerprinzip), wofür die IEEE ihm 1988 den Computer Pioneer Award verlieh. Im Jahre 1965 erhielt Wolfgang Giloi, damals von AEG/Telefunken kommend, einen Lehrstuhl für Informationsverarbeitung an der TU Berlin und bot erste Vorlesungen an. In München gab 1967 Friedrich L. Bauer erstmals spezielle Vorlesungen in Elektronischer Informationsverarbeitung an der TU München, wo 1972 ein eigenständiger Studiengang für Diplom-Informatiker entstand. Er soll sogar mit SEL um die Freigabe des Markennamens Informatik verhandelt haben, allerdings ohne Erfolg. Das tut seinen Bemühungen, der Informatik die Anerkennung als vollwertiges akademisches Studienfach zu verschaffen, keinen Abbruch.

Als 1969, von der Bundesregierung veranlasst, erste Schätzungen über den Bedarf von Informatikern in die Welt gesetzt wurden, galten diese vielen Mitbürgern als übertrieben. Geschätzt wurde damals ein Bedarf von etwa 250.000 Fachleuten. Wie dem aktuellen Informatik-Spektrum zu entnehmen, waren Mitte 2015 in Deutschland 887.000 Personen als IT-Fachkraft tätig. Rund 43% von ihnen haben einen Uni- der FH-Abschluss. Auf die Abgrenzung dessen, was als IT-Fachkraft gezählt wird, will ich hier nicht eingehen. (Die immer noch verwendete Abkürzung IT steht für Information Technology, und darf nicht mit Informationstechnik verwechselt werden)

Wortgeschichte

Es steht für mich außer Zweifel, dass das Wort Informatik um das Jahr 1956 von dem Physiker und Nachrichtentechniker Karl Steinbuch (1917-2005) erfunden wurde. Er war damals Entwicklungschef im Informatik-Werk der Standard Elektrik Lorenz (SEL) in Stuttgart. Er benutzte den Begriff Informatik-System für ein Bestellsystem, das er für Quelle in Fürth baute. SEL lieferte auch Allzweck-Rechner, ER-56 genannt, die an verschiedenen Hochschulen zum Einsatz kamen. Es soll sogar eine Veröffentlichung [4] aus dieser Zeit geben, in der das Wort Informatik vorkommt, allerdings eine firmeninterne Publikation. Steinbuch war in Frankreich bekannt, und zwar aufgrund seiner Lieferung einer ER-56 an den Flughafen Orly. Die Franzosen behielten zwar die Maschine nicht, dafür importierten sie seine Wortschöpfung Informatik (frz. informatique). Philippe Dreyfus, den ich 1968 als Initiator der damaligen ACM-Aktivitäten in Europa kennenlernte, nannte 1962 seine Firma um in Société d'Informatique Appliquée (SIA). Im Jahre 1966 wurde das Wort von der Académie française offiziell in die französische Sprache übernommen. Auf diesem Umweg kam das Wort zurück nach Deutschland – etwas was nicht untypisch ist.

Mögliches Anfangsjahr aus Sicht der Praxis

Ich schlage vor, sich auf das Jahr 1956 als die Geburtsstunde der europäischen Informatik zu einigen. Damit fallen Zuses frühe Arbeiten unter den Tisch, aber nicht die frühen Münchner Arbeiten (PERM) und Algol 58. Den Kollegen in den USA würde ich ein Jahrzehnt Vorsprung gönnen für das, was dort Computer-Wissenschaft (engl. computer science) heißt.

Rein zufällig fällt das Jahr 1956 auch für mich mit dem Eintritt in das neue Gebiet der Computerwissenschaften zusammen. Als Austauschstudent an der Ohio State University in Columbus, Ohio, besuchte ich einen einwöchigen Programmierkurs im dortigen Batelle-Institut. Mein betreuender Lehrstuhl beabsichtige, die gerade installierte IBM 650 für die Umrechnung gravimetrischer Messungen einzusetzen. Dazu kam es zwar nicht. Es bewegte mich jedoch dazu, nach Abschluss meines Geodäsiestudiums im November 1957 eine Anstellung als Praktikant bei der IBM Deutschland zu suchen. Im 650-Rechenzentrum Sindelfingen konnte ich meine bisher nur theoretischen Kenntnisse in praktische Programme umsetzen. Aus dem geplanten 6-monatigen Praktikum wurde eine Festanstellung für 35 Jahre.

Art der Leistungen und deren Rangfolge

Wird über fachliche Leistungen von Gruppen oder Individuen auf unserm Fachgebiet, der Informatik, gesprochen, denke ich primär an Entdeckungen, Erfindungen und/oder Innovationen, Algorithmen, Darstellungen (Repräsentationen), Beschreibungen (Notationen), Produkte, Dienstleistungen, Methoden oder Werkzeuge. Das Dilemma, in dem sich die Informatik befindet, besteht darin, dass viele ihrer Vertreter keinen technischen Hintergrund haben, und daher auch nicht-technische Bewertungsmaßstäbe anlegen oder anlegen möchten. Kaufleute denken an Umsätze und Profite, Juristen an Verträge, die es zu gestalten gibt. Nur wenn man sich auf Technik und Naturwissenschaft konzentriert, besteht eine Chance, dass man zu sinnvollen Ergebnissen kommt.

Dass auch das auf den deutschen Sprachraum begrenzte Gebiet hervorragende fachliche Leistungen aufzuweisen hat, steht für mich außer Frage. Man muss sie allerdings relativ sehen, d.h. im Vergleich zu Kollegen in anderen Ländern. Das entscheidende Kriterium heißt daher, wer hat im internationalen Vergleich Anerkennung erfahren, oder – wo es nicht der Fall ist  ̶  wer sollte Anerkennung erfahren. Im Vordergrund steht die Leistung. Der Name des Kollegen oder der Name der Institution sind sekundär. Zwecks Illustration liste ich einige Beispiele:

- Kellerprinzip (F.L. Bauer/K. Samelson)
- Petri-Netze (C. A. Petri)
- Grafisches Kernsystem (J. Encarnaçao)
- B- und UB-Bäume (R. Bayer)
- Pascal (N. Wirth)
- ERP-Software (SAP AG)
- MP3-Kodierung (K.H. Brandenburg)

Ich lasse die Liste absichtlich sehr kurz, hoffend, dass zumindest in diesen Fällen völlige Übereinstimmung unter allen heutigen Kolleginnen und Kollegen besteht.

Sonstige Referenzen
  1. Endres, A.: Über Heinz Zemaneks Verständnis von Information und Informatik. In: Karl Anton Fröschl, Gerhard Chroust, Johann Stockinger, Norbert Rozsenich (eds./Hrsg.): In memoriam Heinz Zemanek 1920-2014. ÖCG 2015, S. 50-53    
  2. Zemanek, H.: Zum neuen Namen. Editorial. Informationstechnik it, 28. Jahrgang, Heft 1/1986
  3. Zemanek, H.: Was ist Informatik? Elektr. Rechenanlagen 13 (1971), Heft 4, 157-161    
  4. Steinbuch, K.: Informatik: Automatische Informationsverarbeitung (SEG-Nachrichten, Berlin, Heft 4, 1957)
  5. Sandner, G., Spengler, H.: Die Entwicklung der Datenverarbeitung von Hollerith-Lochkartenmaschinen zu IBM Enterprise-Servern. 2006 

Montag, 11. Juli 2016

Emotionen als unverstandene Urkraft menschlicher Reaktionen (ein Essay von Peter Hiemann)

Den Lesern dieses Blogs ist mein in Grasse lebender Freund und Ex-Kollege Peter Hiemann schon fast ein alter Bekannter. Zusammen mit Hans Diel lieferte er immer wieder interessante Diskussionsbeiträge zu unterschiedlichen Themen. Mehrmals habe ich längere Essays von ihm veröffentlicht. Zuletzt geschah dies im Dezember 2015 mit seinem Essay überschrieben Vorstellungen. Damals schrieb ich:

Es ist eine Besonderheit von Hiemanns Denken, dass er gerne nach Analogien sucht, insbesondere zwischen Biologie und Gesellschaft… Strukturen und Felder sind für ihn ein Ausdruck von Ordnungsprinzipien. Mechanismen und Algorithmen dienen der gesteuerten Veränderung. Sie können der Selbstorganisation dienen oder gar Reparaturen bewerkstelligen. Das geschieht allerdings nur, wenn es eine Vorstellung bzw. ein Modell bezüglich des Idealzustands gibt. Sehr leicht können jedoch falsche Vorstellungen dem entgegenwirken. Das ist immer dann, wenn die Vernunft auf der Strecke bleibt.

Sein jetziges Thema heißt Emotionen. Auch das ist ein sehr weites Feld. Ging es bei Vorstellungen primär um philosophische Deutungen und Gedankengebäude, so geht es bei Emotionen um Empfindungen der Seele. Für das Verständnis des jetziges Essays ist es wichtig, den Unterschied zwischen Emotionen und Gefühlen zu verstehen, so wie Hiemann und die von ihm benutzten Autoren ihn sehen. Emotionen sind die psychischen und physischen Phänomene oder Affekte, die durch die bewusste oder unbewusste Wahrnehmung eines Ereignisses oder einer Situation ausgelöst werden. Gefühle sind Reaktionen auf Emotionen oder Affekte. Konkret folgt Hiemann einer Definition von Antonio Damasio (siehe S. 5):

Emotionen sind von der Evolution gestaltete Programme für Handlungen. ...Die Welt der Emotionen besteht vorwiegend aus Vorgängen, die in unserem Körper ablaufen. …. Gefühle von Emotionen dagegen sind zusammengesetzte Wahrnehmungen dessen, was in unserem Körper abläuft, wenn wir Emotionen haben. Was den Körper betrifft, so sind Gefühle nicht die Abläufe selbst, sondern Bilder von Abläufen.

Sie werden sich fragen: Was haben Augustinus von Hippo, William Shakespeare, Ludwig Wittgenstein, Alexander von Humboldt, Hermann Hesse, Josef Ackermann, Thomas Metzinger, Thilo Sarrazin, Papst Franziskus, Franz Josef Radermacher, Brexit und Pegida gemeinsam? Sie alle betonen oder belegen, dass rationales Denken und logische Schlussfolgerungen zu kurz greifen. Hiemann drückt dies auf Seite 15 so aus: 

Die heutige globalisierte Welt mit ihren vielfältigen ökonomischen und politischen Verknüpfungen und Abhängigkeiten ist derart komplex, dass sie rational nicht zu erfassen, nicht zu kontrollieren und kaum zu beeinflussen ist. Politische Eliten verfolgen mehr oder weniger nationale Interessen. Sie erreichen Bevölkerungen am ehesten mit emotionalen Argumenten.

Hiemann weist darauf hin, dass unbewusste Emotionen und bewusste Vorstellungen nur zusammengenommen den Sinn ergeben, der dem menschlichen Wesen gerecht wird. Er hat die Frage offen gelassen: Hat sich der Stellenwert von Emotionen in Europa und den USA derart verändert, dass Emotionen und nicht rationale Argumente Wahlen entscheiden können?

Für weitere Diskussionen und Fragen können Sie entweder Blog-Kommentare verwenden oder sich per Mail direkt an Peter Hiemann wenden (peter.hiemann@gmail.com). Er liefert gerne auch die Literaturreferenzen, auf die im Beitrag teilweise verzichtet wurde. Viel Spaß beim Lesen! Bitte hier klicken!

Freitag, 8. Juli 2016

Über Britanniens glorreiche Zukunft

Die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die EU zu verlassen, also den Brexit zu vollziehen, liegt inzwischen einige Wochen zurück. So langsam wird klar, was passiert ist. Welche Konsequenzen es haben wird, darüber wird gerade heftig spekuliert. Dazu möchte ich einen kleinen Beitrag leisten. Über mögliche Entwicklungen nachzudenken, ist immer dann sinnvoll, wenn die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens plötzlich erheblich dazugewonnen hat.

Spielernaturen und Rhetoriker

Die Politik, und besonders in Demokratien, übt eine starke Anziehungskraft auf Menschen aus, die gerne riskante Spiele betreiben oder sich gerne selbst reden hören. Auf den britischen Inseln hat dies sogar eine Jahrhunderte alte, ungebrochene Tradition. Es waren Landadlige, die im 17. Jahrhundert dem König ein Recht nach dem andern abtrotzten. Ihre Nachkommen – vorwiegend die Söhne  ̶  üben sich noch heute an ihren Colleges in waghalsigen Spielen oder Sportarten. Am Hyde Park Corner kann man tagaus tagein Rednern lauschen, denen es egal ist, ob ihnen jemand zuhört. Einige der politischen Koryphäen, die den Brexit wie eine Sportart betrieben, haben sich zu erkennen gegeben. David Cameron war einer, aber auch sein Studienkollege Boris Johnson. Selbst Nigel Farage, der schon seit Jahren auf Kosten der EU den Brexit propagierte, war zutiefst überrascht, dass ihm so viele auf den Leim gingen. Alle drei tauchten unter, sobald aus dem Spiel Realität wurde. Ihnen auch nur eine Sekunde lang nachzuweinen, lohnt sich nicht.

Auch in deutschen Parlamenten sitzen Vertreter von Parteien, die Dinge in ihrem Wahlprogramm versprechen, die sie nie tun würden, bekämen sie einmal Regierungsverantwortung. Ob es um den Austritt aus der Nato geht, die Abschaffung des Euros oder gleiches Einkommen für alle, es ist im Grunde immer das Gleiche. Es sind nichts als verbale Fliegenfänger. Der Wähler wird für dumm verkauft. Er ist selbst schuld, wenn er auf leere Versprechen hereinfällt.

Trümmerfrauen und Konkursverwalter

Da Frauen weniger offensichtlich dem Spieltrieb folgen als Männer, ist jetzt die Stunde mutiger Frauen. Als 1945 in Deutschland die meisten Männer noch in der Kriegsgefangenschaft ausharrten, bewaffneten sich in vielen Großstädten die Frauen mit Eimer und Schaufel, und begannen damit Trümmer zu beseitigen. Auch in Großbritannien scheinen einige Frauen bereit zu stehen, das von Männern angerichtete Trümmerfeld aufzuräumen. Noch haben sie den Auftrag nicht in Händen. Theresa May und Andrea Leadsom wollen es riskieren. Mögen sie Erfolg haben.

Einige Frauen  ̶  aber auch einige Männer  ̶  werden die Aufgabe erhalten, das Ausscheiden aus dem Brüsseler Verbund auszuhandeln. Das entspricht der Aufgabe eines Konkursverwalters. Es geht darum, möglichst viel von dem, was einst wertvoll war, zu retten. Alles zu verschleudern, macht nun wirklich keinen Sinn. Wenn zwei Jahre nicht ausreichen, sollte man in die Verlängerung gehen. Dass auch Labour sich nicht nach dieser Aufgabe reißt, ist verständlich. Als 1945 Clement Attlee von Winston Churchill übernahm, hatte England zumindest den Krieg gewonnen.

Geschäftsmodell für eine Insel

Es ist offensichtlich, dass das Vereinigte Königreich (UK) ein neues Geschäftsmodell benötigt. Die Frage, ob das UK in seiner heutigen Form überhaupt bestehen bleibt, will ich zunächst ausklammern. George Osborne, der noch amtierende Finanzminister, hat dieser Tage Pläne der Regierung vorgestellt. Er will Großbritannien zum Steuerparadies par excellence machen. Er möchte die Körperschaftsteuer von derzeit 20 Prozent auf unter 15 Prozent senken. Das wäre etwa das Niveau von Irland und Zypern. Er fügte in echter Spielermanier hinzu:

Wir müssen den Horizont und den Weg vor uns in den Blick nehmen und das Beste aus den Karten machen, die uns ausgeteilt wurden.

Wie in der Presse verlautete, haben mehrere große britische Unternehmen wegen der Brexit-Entscheidung bereits Gewinnwarnungen ausgegeben. Betroffen ist unter anderem Londons Bankenbranche, die bisher stark davon profitiert, ihre Produkte ohne weitere Zulassung in der ganzen EU verkaufen zu können. Ich selbst halte die erwähnten Gewinnwarnungen für nichts anderes als das übliche Jammern von Kaufleuten. Im Grunde betritt Britannien eine neue, sehr attraktive Phase ihrer Wirtschaft.

Das Mutterland der Industrialisierung wird als erstes alle Industrien loswerden. Es wird keine rauchenden Schlote mehr haben. Die Namen einiger ehemals englischer Produkte wie Jaguar und Rover gehören längst der indischen Firma Tata. Auf die paar Minis, die mit Geld und Knowhow von BMW noch in England produziert wurden, kann verzichtet werden. Den Vertrieb von Software, die in Indien entwickelt wurde, lässt sich sehr gut von England aus bewältigen, besser noch als von Irland aus.

Generell übernimmt man das Geschäftsmodell der (britischen) Jungferninseln (engl. Virgin Islands) in der Karibik oder der britischen Kanalinseln Jersey und Guernsey für ganz Britannien. Leider haben die amerikanischen Behörden dem schweizerischen Steuerschlupfloch den Garaus gemacht. Das Großherzogtum Luxemburg geriet ebenfalls in Verruf. Ein Steuerparadies gleich gegenüber von Calais hätte bestimmt großen Zulauf. Das macht vieles einfacher. England könnte die Rolle für Europa spielen, die Nevada für Kalifornien hat. Der Ausbau einer Glücksspielindustrie könnte nicht nur für Europäer attraktiv sein. Auch Russen und Chinesen könnten zu deren Aufblühen beitragen. Der Schnellzug durch den Kanaltunnel würde Paris und das Ruhrgebiet für Senioren-Teefahrten nach Brighton und Bournemooth erschließen. An den dortigen Spieltischen und mit einarmigen Banditen könnten sie ihr Glück versuchen.

Um die Pflege der  englischen Landschaft mache ich mir die geringsten Sorgen. Schon immer stand die Schafzucht hoch im Kurs. Englische Schafe unterscheiden sich von kontinentalen Schafen in einem für die Landschaftspflege ganz wesentlichen Punkt. Sie drängen sich nicht zusammen, sondern verteilen sich einzeln über eine große Fläche.

Sonstige Anpassungen

Dass Britannien ganz ohne Industrie auskommen müsste, stimmt nicht. Nur auf den schmutzigen und körperlich anstrengenden Teil wird es verzichten. Bleiben wird die Finanzindustrie. Sie wird blühen und gedeihen, da niemand ihr mehr hereinredet. Die Finanztransaktionssteuer (frz. taxe Tobin) bleibt da, wo sie ihre Freunde hat, nämlich auf dem europäischen Kontinent. England und auch die USA hielten nie etwas davon. Viele Potentaten setzen volles Vertrauen auf das englische Pfund. Es schwächelt zwar nach dem Brexit-Referendum etwas. Es wird sich aber zwischen Dollar und Euro weiterhin behaupten. Auch Putins Geld wird seinen Freunden nach England folgen. Russische Oligarchen besitzen schon heute die besten Immobilienlagen in London und einige Fußballklubs.

Die Briten werden vermutlich weiterhin Tresore und Geldzählgeräte bauen. Sie garantieren damit die Beibehaltung von Papiergeld. Nur Papiergeld lässt sich leicht waschen. Ein Problem wird zu lösen sein. Sollte Königin Elisabeth II einmal nicht mehr leben, muss durch Gesetz geregelt werden, dass sie auf Geldscheinen bleiben darf. Es könnte sein, dass die infrage kommenden männlichen Porträts nicht vertrauenserweckend genug sind.

Britanniens übriger Export ist eh uninteressant. Eine Ausnahme bilden Sprachkurse. Sie bleiben für Wissenschaftler, Politiker, Finanzmanager und andere Berufe unabdingbar. Auch Dienst-Personal (Au-Pair-Mädchen) und Kellner wissen sie zu schätzen. Die EU wird weiterhin bevorzugt englische Beamte beschäftigen. Sie sind im Vorteil nicht nur der Sprachkenntnisse wegen. Sie sind auch in Zukunft weniger korrumpierbar, da sie keine nationalen Interessen zu vertreten haben.

Veränderte sicherheitspolitische Lage

Plötzlich eröffnen sich ganz neue sicherheitspolitische Perspektiven. Wie von den Brexitiers bereits angekündigt wird man sich besonders China und Indien zuwenden, und das nicht nur ökonomisch. Der amerikanischen Vettern fühlt man sich ohnehin sicher, was auch geschehen mag. Es ist kein Zweifel, dass auch Putin die Chance nutzen wird. Wer braucht jetzt noch Erdogan oder die Minsker Vereinbarungen. Dass David Cameron einst in Minsk fehlte, hatte Gründe, die langsam klar werden.

Die zwei Selbstdarsteller an der Spitze der EU (Juncker und Schulz) fordern eine weitere und tiefere Integration auf allen Ebenen. Niemand versteht, was sie meinen. Der Süden Europas (Italien, Spanien, Griechenland) fordert mehr Geld aus Brüssel zur Bekämpfung ihrer Wirtschaftsprobleme, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit. Die EU-Länder im Osten (Polen und Baltikum) sind durch Putins Politik total verunsichert. Bezüglich der militärischen Sicherheit hat die EU nach dem Austritt Englands noch weniger zu bieten als bisher. Nur die NATO kann ihnen noch eine schwache Perspektive bieten. Der Pole Jarosław Kaczyński, der bisher nicht als EU-Freund aufgefallen ist, verlangt plötzlich eine stärkere gemeinsame Verteidigungsanstrengung der (Rest-) Europäer. Mehr als in Kompaniestärke möchte man jedoch keine deutschen Soldaten sehen. Nur Wolfgang Schäuble wird konkreter und fragt: Wie wäre es, wenn die EU-Länder wenigstens ihre militärischen Beschaffungen zusammenlegen würden? Neues Denken hat allerorts begonnen. Wohin es führt, wird sich allerdings erst in Jahren zeigen.

Britannien ohne Schottland

Für den Fall, dass das Königreich Schottland den Bund von 1707 aufkündigt, wird man Britannien als Landesname beibehalten können. Schließlich gehören außer England noch Wales und Nordirland dazu, so wie das jedem Fußballfan dieser Tage deutlich werden konnte. Nur das Adjektiv ‚Great‘ kann entfallen.