Freitag, 8. Juli 2016

Über Britanniens glorreiche Zukunft

Die Entscheidung der britischen Bevölkerung, die EU zu verlassen, also den Brexit zu vollziehen, liegt inzwischen einige Wochen zurück. So langsam wird klar, was passiert ist. Welche Konsequenzen es haben wird, darüber wird gerade heftig spekuliert. Dazu möchte ich einen kleinen Beitrag leisten. Über mögliche Entwicklungen nachzudenken, ist immer dann sinnvoll, wenn die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens plötzlich erheblich dazugewonnen hat.

Spielernaturen und Rhetoriker

Die Politik, und besonders in Demokratien, übt eine starke Anziehungskraft auf Menschen aus, die gerne riskante Spiele betreiben oder sich gerne selbst reden hören. Auf den britischen Inseln hat dies sogar eine Jahrhunderte alte, ungebrochene Tradition. Es waren Landadlige, die im 17. Jahrhundert dem König ein Recht nach dem andern abtrotzten. Ihre Nachkommen – vorwiegend die Söhne  ̶  üben sich noch heute an ihren Colleges in waghalsigen Spielen oder Sportarten. Am Hyde Park Corner kann man tagaus tagein Rednern lauschen, denen es egal ist, ob ihnen jemand zuhört. Einige der politischen Koryphäen, die den Brexit wie eine Sportart betrieben, haben sich zu erkennen gegeben. David Cameron war einer, aber auch sein Studienkollege Boris Johnson. Selbst Nigel Farage, der schon seit Jahren auf Kosten der EU den Brexit propagierte, war zutiefst überrascht, dass ihm so viele auf den Leim gingen. Alle drei tauchten unter, sobald aus dem Spiel Realität wurde. Ihnen auch nur eine Sekunde lang nachzuweinen, lohnt sich nicht.

Auch in deutschen Parlamenten sitzen Vertreter von Parteien, die Dinge in ihrem Wahlprogramm versprechen, die sie nie tun würden, bekämen sie einmal Regierungsverantwortung. Ob es um den Austritt aus der Nato geht, die Abschaffung des Euros oder gleiches Einkommen für alle, es ist im Grunde immer das Gleiche. Es sind nichts als verbale Fliegenfänger. Der Wähler wird für dumm verkauft. Er ist selbst schuld, wenn er auf leere Versprechen hereinfällt.

Trümmerfrauen und Konkursverwalter

Da Frauen weniger offensichtlich dem Spieltrieb folgen als Männer, ist jetzt die Stunde mutiger Frauen. Als 1945 in Deutschland die meisten Männer noch in der Kriegsgefangenschaft ausharrten, bewaffneten sich in vielen Großstädten die Frauen mit Eimer und Schaufel, und begannen damit Trümmer zu beseitigen. Auch in Großbritannien scheinen einige Frauen bereit zu stehen, das von Männern angerichtete Trümmerfeld aufzuräumen. Noch haben sie den Auftrag nicht in Händen. Theresa May und Andrea Leadsom wollen es riskieren. Mögen sie Erfolg haben.

Einige Frauen  ̶  aber auch einige Männer  ̶  werden die Aufgabe erhalten, das Ausscheiden aus dem Brüsseler Verbund auszuhandeln. Das entspricht der Aufgabe eines Konkursverwalters. Es geht darum, möglichst viel von dem, was einst wertvoll war, zu retten. Alles zu verschleudern, macht nun wirklich keinen Sinn. Wenn zwei Jahre nicht ausreichen, sollte man in die Verlängerung gehen. Dass auch Labour sich nicht nach dieser Aufgabe reißt, ist verständlich. Als 1945 Clement Attlee von Winston Churchill übernahm, hatte England zumindest den Krieg gewonnen.

Geschäftsmodell für eine Insel

Es ist offensichtlich, dass das Vereinigte Königreich (UK) ein neues Geschäftsmodell benötigt. Die Frage, ob das UK in seiner heutigen Form überhaupt bestehen bleibt, will ich zunächst ausklammern. George Osborne, der noch amtierende Finanzminister, hat dieser Tage Pläne der Regierung vorgestellt. Er will Großbritannien zum Steuerparadies par excellence machen. Er möchte die Körperschaftsteuer von derzeit 20 Prozent auf unter 15 Prozent senken. Das wäre etwa das Niveau von Irland und Zypern. Er fügte in echter Spielermanier hinzu:

Wir müssen den Horizont und den Weg vor uns in den Blick nehmen und das Beste aus den Karten machen, die uns ausgeteilt wurden.

Wie in der Presse verlautete, haben mehrere große britische Unternehmen wegen der Brexit-Entscheidung bereits Gewinnwarnungen ausgegeben. Betroffen ist unter anderem Londons Bankenbranche, die bisher stark davon profitiert, ihre Produkte ohne weitere Zulassung in der ganzen EU verkaufen zu können. Ich selbst halte die erwähnten Gewinnwarnungen für nichts anderes als das übliche Jammern von Kaufleuten. Im Grunde betritt Britannien eine neue, sehr attraktive Phase ihrer Wirtschaft.

Das Mutterland der Industrialisierung wird als erstes alle Industrien loswerden. Es wird keine rauchenden Schlote mehr haben. Die Namen einiger ehemals englischer Produkte wie Jaguar und Rover gehören längst der indischen Firma Tata. Auf die paar Minis, die mit Geld und Knowhow von BMW noch in England produziert wurden, kann verzichtet werden. Den Vertrieb von Software, die in Indien entwickelt wurde, lässt sich sehr gut von England aus bewältigen, besser noch als von Irland aus.

Generell übernimmt man das Geschäftsmodell der (britischen) Jungferninseln (engl. Virgin Islands) in der Karibik oder der britischen Kanalinseln Jersey und Guernsey für ganz Britannien. Leider haben die amerikanischen Behörden dem schweizerischen Steuerschlupfloch den Garaus gemacht. Das Großherzogtum Luxemburg geriet ebenfalls in Verruf. Ein Steuerparadies gleich gegenüber von Calais hätte bestimmt großen Zulauf. Das macht vieles einfacher. England könnte die Rolle für Europa spielen, die Nevada für Kalifornien hat. Der Ausbau einer Glücksspielindustrie könnte nicht nur für Europäer attraktiv sein. Auch Russen und Chinesen könnten zu deren Aufblühen beitragen. Der Schnellzug durch den Kanaltunnel würde Paris und das Ruhrgebiet für Senioren-Teefahrten nach Brighton und Bournemooth erschließen. An den dortigen Spieltischen und mit einarmigen Banditen könnten sie ihr Glück versuchen.

Um die Pflege der  englischen Landschaft mache ich mir die geringsten Sorgen. Schon immer stand die Schafzucht hoch im Kurs. Englische Schafe unterscheiden sich von kontinentalen Schafen in einem für die Landschaftspflege ganz wesentlichen Punkt. Sie drängen sich nicht zusammen, sondern verteilen sich einzeln über eine große Fläche.

Sonstige Anpassungen

Dass Britannien ganz ohne Industrie auskommen müsste, stimmt nicht. Nur auf den schmutzigen und körperlich anstrengenden Teil wird es verzichten. Bleiben wird die Finanzindustrie. Sie wird blühen und gedeihen, da niemand ihr mehr hereinredet. Die Finanztransaktionssteuer (frz. taxe Tobin) bleibt da, wo sie ihre Freunde hat, nämlich auf dem europäischen Kontinent. England und auch die USA hielten nie etwas davon. Viele Potentaten setzen volles Vertrauen auf das englische Pfund. Es schwächelt zwar nach dem Brexit-Referendum etwas. Es wird sich aber zwischen Dollar und Euro weiterhin behaupten. Auch Putins Geld wird seinen Freunden nach England folgen. Russische Oligarchen besitzen schon heute die besten Immobilienlagen in London und einige Fußballklubs.

Die Briten werden vermutlich weiterhin Tresore und Geldzählgeräte bauen. Sie garantieren damit die Beibehaltung von Papiergeld. Nur Papiergeld lässt sich leicht waschen. Ein Problem wird zu lösen sein. Sollte Königin Elisabeth II einmal nicht mehr leben, muss durch Gesetz geregelt werden, dass sie auf Geldscheinen bleiben darf. Es könnte sein, dass die infrage kommenden männlichen Porträts nicht vertrauenserweckend genug sind.

Britanniens übriger Export ist eh uninteressant. Eine Ausnahme bilden Sprachkurse. Sie bleiben für Wissenschaftler, Politiker, Finanzmanager und andere Berufe unabdingbar. Auch Dienst-Personal (Au-Pair-Mädchen) und Kellner wissen sie zu schätzen. Die EU wird weiterhin bevorzugt englische Beamte beschäftigen. Sie sind im Vorteil nicht nur der Sprachkenntnisse wegen. Sie sind auch in Zukunft weniger korrumpierbar, da sie keine nationalen Interessen zu vertreten haben.

Veränderte sicherheitspolitische Lage

Plötzlich eröffnen sich ganz neue sicherheitspolitische Perspektiven. Wie von den Brexitiers bereits angekündigt wird man sich besonders China und Indien zuwenden, und das nicht nur ökonomisch. Der amerikanischen Vettern fühlt man sich ohnehin sicher, was auch geschehen mag. Es ist kein Zweifel, dass auch Putin die Chance nutzen wird. Wer braucht jetzt noch Erdogan oder die Minsker Vereinbarungen. Dass David Cameron einst in Minsk fehlte, hatte Gründe, die langsam klar werden.

Die zwei Selbstdarsteller an der Spitze der EU (Juncker und Schulz) fordern eine weitere und tiefere Integration auf allen Ebenen. Niemand versteht, was sie meinen. Der Süden Europas (Italien, Spanien, Griechenland) fordert mehr Geld aus Brüssel zur Bekämpfung ihrer Wirtschaftsprobleme, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit. Die EU-Länder im Osten (Polen und Baltikum) sind durch Putins Politik total verunsichert. Bezüglich der militärischen Sicherheit hat die EU nach dem Austritt Englands noch weniger zu bieten als bisher. Nur die NATO kann ihnen noch eine schwache Perspektive bieten. Der Pole Jarosław Kaczyński, der bisher nicht als EU-Freund aufgefallen ist, verlangt plötzlich eine stärkere gemeinsame Verteidigungsanstrengung der (Rest-) Europäer. Mehr als in Kompaniestärke möchte man jedoch keine deutschen Soldaten sehen. Nur Wolfgang Schäuble wird konkreter und fragt: Wie wäre es, wenn die EU-Länder wenigstens ihre militärischen Beschaffungen zusammenlegen würden? Neues Denken hat allerorts begonnen. Wohin es führt, wird sich allerdings erst in Jahren zeigen.

Britannien ohne Schottland

Für den Fall, dass das Königreich Schottland den Bund von 1707 aufkündigt, wird man Britannien als Landesname beibehalten können. Schließlich gehören außer England noch Wales und Nordirland dazu, so wie das jedem Fußballfan dieser Tage deutlich werden konnte. Nur das Adjektiv ‚Great‘ kann entfallen.

9 Kommentare:

  1. Marcus, ein Student aus München, schrieb:

    habe grade in der Bahn deinen Beitrag zum Brexit gelesen. Sehr schön, mal eine andere Sichtweise zu lesen. Ich bin gespannt wie sich England in Zukunft entwickelt, ob es Trittbrettfahrer geben wird, Europa zusammenhält, oder mich meine Kinder mal ungläubig beäugen werden, wenn ich ihnen von einem Länderverbund namens Europa erzähle, sie selbst aber nur den Erdteil mit dem Begriff assoziieren.

    Wird es deiner Meinung nach "Nachahmer" geben? Oder wird die EU an England ein "Exempel statuieren"?

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    1. Kurz zu Deinen Fragen:

      - Ich erwarte keine Nachahmer des Brexit, da man aus den Dummheiten der Brexitiers lernen wird.
      - Man wird Britannien höflich aber bestimmt verabschieden.
      - Deine Kinder - sofern Du welche haben wirst - werden in einer leicht veränderten EU aufwachsen. Was sich ändern wird, darum wird noch gerungen werden.

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  2. Lothar Monshausen aus Bitburg schrieb:

    Nach dem Volksentscheid muss erst der Austrittsantrag an die EU von der zukünftigen Regierung offiziell gestellt werden. Bis dahin kann man noch nicht sagen, ob es keine Sonderverträge geben wird. Bei Deinen Gedanken über die Folgen des Brexit habe ich die Situation von Gibraltar vermisst. Es wird sicherlich wieder den Anspruch Spaniens auf den Felsen geben. Auch wollen verschiedene Teile der Bevölkerung von Nordirland zu Irland gehören. Für einen deutschen "Otto Normalverbraucher", dem der deutsche Staat die Steuern automatisch aus der Tasche zieht, wird sich nichts ändern!

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  3. In Britannien bewegt sich etwas. David Cameron sagte am Mittwoch, dem 13. 7., dem Unterhaus: ‚Ich war mal Eure Zukunft‘. Am gleichen Tag hat die Queen Theresa May zur Prime Ministerin ernannt. ‘Brexit ist Brexit ist Brexit‘ sagte die. Überraschend ernennt sie Boris Johnson zu ihrem Außenminister. Warum wohl? Drei Antworten fallen mir ein: (1) Sie will mehr spleenige Anhänger gewinnen. (2) Sie will der Welt klar machen, dass die Tories weiter spielen (‘It’s all just a game’). (3) Sie will Boris Johnson umerziehen. Das sind alles Gründe, die uns nicht sehr beeindrucken.

    Beeindruckend ist dagegen, dass sie bisher auf Michael Gove verzichtet hat. Der hatte in der Brexit-Kampagne verkündet: Meine Landsleute hören nicht mehr auf Experten (Im Originalton: I think people in this country have had enough of experts). Damit hatte er die Wissenschaft des Landes verwiesen.

    Theresa Mays erste Dienstreise führte gestern nach Edinburgh. Dort versicherte sie der Ersten Ministerin Schottlands, dass sie alles tun würde, damit die EU Schottland weiterhin unterstützt. Das Geld der EU würde, wie immer, in London in Empfang genommen und weiter verteilt. Auf diese Weise zahlt die EU sogar dafür, dass Schottland nicht in der EU bleibt. Clever!

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  4. Allmählich wird einigen Leuten in Großbritannien klar, was auf sie zukommt. Sie möchten gleich neue Handelsabkommen mit möglichst vielen Ländern aushandeln. Das dürfen die Briten aber erst, wenn sie nicht mehr EU-Mitglied sind, d.h. in 2-3 Jahren. Man hofft, dass die EU schon mal Sondierungsgespräche zulasst.

    Zunächst fällt das UK in eine Gruppe von Ländern wie Botswana, was die Handelsbeziehungen zur EU anbetrifft. Ob man ein Verhältnis anstrebt, wie etwa Norwegen, wird man sich sehr überlegen müssen. Norwegen ist ebenfalls kein EU-Mitglied, übernimmt aber alle EU-Regelungen. Sie haben keine Stimme, wenn es um die Festlegung neuer Regelungen geht. Außerdem bezahlt Norwegen für diesen Dienst über 500 Mio. Euro pro Jahr. Das sind etwa 100 Mio. mehr als das UK heute an die EU bezahlt.

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  5. Zwei Monate nach der Brexit-Abstimmung gibt es noch weiter nichts als große Worte der UK-Politiker.

    - Beim G20-Gipfel in Hangzhou verkündete Theresa May, dass England eine Freihandelsmacht von Weltrang werden will. US-Präsident Obama meinte, für ihn käme zuerst TTIP (mit der EU), dann TPP (mit den Pazifikstaaten). Kanada will CETA unter Dach bringen. Lediglich Australien, Mexiko und Südkorea zeigten Interesse. Die Verhandlungen können allerdings erst nach vollzogenem Austritt beginnen.

    - David Davis, der Minister für den Brexit, meinte im Unterhaus, dass der Brexit ein Erfolg würde. Hätte die Opposition den Mumm gehabt, nach einem Plan zu fragen, hätte er passen müssen. Meine Schätzung lautet, dass es vermutlich gelingen kann, bis zum Jahre 2050 wieder die Wirtschaftsleistung von 2016 zu erreichen.

    - Nigel Farage, der Brexit-Mann im EU-Parlament, sagte bei BBC: 'Die Brexit-Wähler möchten, dass geliefert wird'. Das zu sagen, ist natürlich leichter als es zu tun

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  6. Weitere schlechte Nachrichten aus England. "Nie wieder polnisches Ungeziefer" stand auf Auto-Aufkleber.

    http://n-tv.de/politik/Nach-dem-Brexit-grassiert-der-Hass-article18632771.html

    Kommentar von Hartmut Wedekind: Fremdenhass ist immer auch eine Funktion des Bildungsniveaus. Er entspringt einer animalischen Egozentrik (Spaemann).

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  7. Das britische Unterhaus hat nach tagelanger Diskussion gestern eine historische Entscheidung getroffen. Entweder verlässt das UK die EU auf der Basis des von Teresa May ausgehandelten Vertrags oder ohne Vertrag. Ein Zurück gibt es nicht. Also ‚Goodbye‘ und ‚Farewell‘ liebes Albion.

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  8. Calvin Arnason aus Portland, Oregon, schrieb:

    Ich glaube, England entfernt sich aus zwei Hauptgründen:

    - Das Land ist eine Insel, getrennt von dem Kontinent – sowohl geographisch als auch geistig, kirchlich, und historisch [was das Volk angeht].
    - Die „Come one, come all“ Politik von Merkel. Die Engländer haben sich erschreckt. Viele Deutsche auch.

    Die EU und England werden beide unter diese Entwicklung leiden, aber England mehr.

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