Montag, 11. Juli 2016

Emotionen als unverstandene Urkraft menschlicher Reaktionen (ein Essay von Peter Hiemann)

Den Lesern dieses Blogs ist mein in Grasse lebender Freund und Ex-Kollege Peter Hiemann schon fast ein alter Bekannter. Zusammen mit Hans Diel lieferte er immer wieder interessante Diskussionsbeiträge zu unterschiedlichen Themen. Mehrmals habe ich längere Essays von ihm veröffentlicht. Zuletzt geschah dies im Dezember 2015 mit seinem Essay überschrieben Vorstellungen. Damals schrieb ich:

Es ist eine Besonderheit von Hiemanns Denken, dass er gerne nach Analogien sucht, insbesondere zwischen Biologie und Gesellschaft… Strukturen und Felder sind für ihn ein Ausdruck von Ordnungsprinzipien. Mechanismen und Algorithmen dienen der gesteuerten Veränderung. Sie können der Selbstorganisation dienen oder gar Reparaturen bewerkstelligen. Das geschieht allerdings nur, wenn es eine Vorstellung bzw. ein Modell bezüglich des Idealzustands gibt. Sehr leicht können jedoch falsche Vorstellungen dem entgegenwirken. Das ist immer dann, wenn die Vernunft auf der Strecke bleibt.

Sein jetziges Thema heißt Emotionen. Auch das ist ein sehr weites Feld. Ging es bei Vorstellungen primär um philosophische Deutungen und Gedankengebäude, so geht es bei Emotionen um Empfindungen der Seele. Für das Verständnis des jetziges Essays ist es wichtig, den Unterschied zwischen Emotionen und Gefühlen zu verstehen, so wie Hiemann und die von ihm benutzten Autoren ihn sehen. Emotionen sind die psychischen und physischen Phänomene oder Affekte, die durch die bewusste oder unbewusste Wahrnehmung eines Ereignisses oder einer Situation ausgelöst werden. Gefühle sind Reaktionen auf Emotionen oder Affekte. Konkret folgt Hiemann einer Definition von Antonio Damasio (siehe S. 5):

Emotionen sind von der Evolution gestaltete Programme für Handlungen. ...Die Welt der Emotionen besteht vorwiegend aus Vorgängen, die in unserem Körper ablaufen. …. Gefühle von Emotionen dagegen sind zusammengesetzte Wahrnehmungen dessen, was in unserem Körper abläuft, wenn wir Emotionen haben. Was den Körper betrifft, so sind Gefühle nicht die Abläufe selbst, sondern Bilder von Abläufen.

Sie werden sich fragen: Was haben Augustinus von Hippo, William Shakespeare, Ludwig Wittgenstein, Alexander von Humboldt, Hermann Hesse, Josef Ackermann, Thomas Metzinger, Thilo Sarrazin, Papst Franziskus, Franz Josef Radermacher, Brexit und Pegida gemeinsam? Sie alle betonen oder belegen, dass rationales Denken und logische Schlussfolgerungen zu kurz greifen. Hiemann drückt dies auf Seite 15 so aus: 

Die heutige globalisierte Welt mit ihren vielfältigen ökonomischen und politischen Verknüpfungen und Abhängigkeiten ist derart komplex, dass sie rational nicht zu erfassen, nicht zu kontrollieren und kaum zu beeinflussen ist. Politische Eliten verfolgen mehr oder weniger nationale Interessen. Sie erreichen Bevölkerungen am ehesten mit emotionalen Argumenten.

Hiemann weist darauf hin, dass unbewusste Emotionen und bewusste Vorstellungen nur zusammengenommen den Sinn ergeben, der dem menschlichen Wesen gerecht wird. Er hat die Frage offen gelassen: Hat sich der Stellenwert von Emotionen in Europa und den USA derart verändert, dass Emotionen und nicht rationale Argumente Wahlen entscheiden können?

Für weitere Diskussionen und Fragen können Sie entweder Blog-Kommentare verwenden oder sich per Mail direkt an Peter Hiemann wenden (peter.hiemann@gmail.com). Er liefert gerne auch die Literaturreferenzen, auf die im Beitrag teilweise verzichtet wurde. Viel Spaß beim Lesen! Bitte hier klicken!

2 Kommentare:

  1. Hartmut Wedekind aus Darmstadt schrieb:

    In meinem Beitrag „Big Data und Sinnrationalität“ meines Blogs (https://blogs.fau.de/wedekind/big-data-und-sinnrationalitaet/) komme ich zum Schluss auch auf das Problem „Emotionen als Sinn“ zu sprechen. Ich lasse aber die Finger davon und konzentriere mich auf Sinn in der Lebensbewältigung und beschränke mich auf Rationalität, weil der „Kopf“ mit seinen Widersprüchen in der Lebensbewältigung leichter zu fassen ist als der „Bauch“. Emotionen kennen keine herausgestellten Widersprüche. Es ist halt alles durcheinander. „Krüsi müsi“ sagen die Schweizer.

    Und bei der Lebensbewältigung sind Emotionen selten hilfreich. Das ist aber ein weites Feld und für einen Blog ungeeignet. Kantianer lieben das „Gefühl und das Gewühl“ (Kant) wegen der Unkontrollierbarkeit und Willkür überhaupt nicht. Wehe, wenn Richter Gefühl und ein Gewühl an den Tag legen. Manchmal hat man in ihren aber Sprüchen den Eindruck. Die Folgen sind verheerend.

    Die Karlsruher Richter bescheinigen in der Draghi-Sache dem Europäischen Gerichtshof zumindest Willkürfreiheit. Das absolute Minimum in der rationalen Rechtsprechung. Darunter ist das Chaos, das auch kein Richter will. Donnerwetter! So weit ist es gekommen. Man wird langsam aber sicher auch juristisch durchemotionalisiert. Eigentlich können die einem nur noch leid tun. „The world is out of joint“ sagt Hamlet. Europa haben die alle nicht mehr (rational) im Griff. „Madness all over“, je höher man kommt in der Hierarchie. Was ist bloß in die gefahren? Das muss ein Emotions-Kobold sein.

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  2. Zu der "offenen Frage": When George Bush was elected US President, the big advantage he was advertised to have over his adversary was that Bush was someone who a regular citizen would enjoy drinking a beer with. The founders of the US were products of the Enlightenment. One could not say that of the great majority of our current government leaders.

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