Dienstag, 28. März 2017

Metternich und sein System im Spiegel der neueren Geschichtsforschung

Wer an Napoléon als den Veränderer Europas denkt, kann eigentlich nicht seinen großen Gegenspieler Metternich übersehen. Sein Bild schwankt allerdings in der Geschichte. Für die Bürger, aber erst recht für die Adligen meiner Heimat, war er eine der wichtigsten politischen Bezugspersonen, bevor wir von den Preußen ‚umerzogen‘ wurden. Anstatt für ihn wurden für den Preußen Bismarck überall im Rheinland Denkmäler errichtet, damit er als Lichtgestalt der Geschichte einen Platz in unserem Bewusstsein einnahm. Der Münchner Historiker Wolfram Siemann (*1946) legte im Jahre 2016 eine neue Biographie vor, die versucht das Bild etwas zurechtzurücken. Sie heißt Metternich  ̶  Stratege und Visionär und umfasst gedruckt etwa 940 Seiten.


Während Studienzeit um 1790

Siemann zeichnet Metternich als einen Kosmopoliten und Anhänger der alten Reichsordnung, der sich dagegen wehrte, dass ‚deutsch‘ als kleindeutsch definiert oder gar mit preußisch gleichgesetzt wurde. Eine der letzten großen Biographien Metternichs erschien 1926 von dem Österreicher Heinrich von Srbik (1878-1951). Er war später NSDAP-Mitglied und begeisterter Befürworter des Anschlusses an Deutschland. Nach ihm soll Metternich keinerlei Willen gezeigt haben, einem deutschen Kulturimperialismus Vorschub zu leisten. Außerdem habe er sich von jeglichem 'Germanisieren' distanziert und war für die Gleichberechtigung aller Nationalitäten innerhalb der österreichischen Monarchie. Nach diesem Vergleich konnte ich – als Rheinländer und Liberaler  ̶  nicht mehr widerstehen und musste das Buch lesen. Für mich hat es sich gelohnt. Im Folgenden gebe ich vor allem die Details wieder, die für mich neu und interessant waren.

Herkunft und Aufstieg der Familie

Die Familie ist seit der Merowigerzeit, also dem fünften Jahrhundert nach Chr., in der Kölner und Trierer Gegend nachgewiesen. Es wird teilweise sogar angenommen, sie sei römischen Ursprungs gewesen. Sie hat am Fuß der Burg Hemmerich den Ort Metternich gegründet und nannte sich später Herren zu Metternich. Metternich ist heute ein Ortsteil von Weilerswist und liegt etwa 30 km westlich von Bonn, auf halbem Wege nach Euskirchen. Der Kernbesitz der Familie lag im Tal der Swist, einem Lössgebiet zwischen Eifel und Ville.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist die Stammesfolge der Hauptlinie für 14 Generationen nachgewiesen, beginnend mit einem Sibodo (ca. 1325 – ca. 1382), einem Lehensmann des Erzstifts Köln. Diese Linie führt drei Jakobsmuscheln im Wappen. Es gab mehrere, heute größtenteils ausgestorbene Nebenlinien, so die Burscheid (in Luxemburg), Niederberg, Chursdorf (in Hessen), Rodendorf (in Lothringen) und Müllerarck. Mit dem Erwerb der Winneburg und der Burg Beilstein, beide bei Cochem an der Mosel, verlegte die Stammlinie 1552 ihren Hauptsitz an die Untermosel und führte beide Burgnamen als Teil des Titels. Als Dank für die Unterstützung des Hauses Habsburg im 30-jährigen Krieg bzw. bei der nachfolgenden Kaiserwahl wurde die Familie 1635 zu Freiherrn und 1679 zu Grafen erhoben.

Zum Ansehen und Selbstbewusstsein des Hauses trug es bei, dass es drei kurfürstliche Erzbischöfe hervorgebracht hatte. Der einflussreichte von ihnen war Lothar, der Erzbischof von Trier (1599-1623). Später folgten Lothar Friedrich als Erzbischof  von Mainz (1673-1675), und Karl Heinrich, ebenfalls in Mainz (1679). Des Weiteren gab es über 100 geistliche Domherren in Trier, Köln und Mainz, die der Familie entstammten. Unter ihrem Einfluss wurde dafür gesorgt, dass das Familienvermögen nicht zersplittert wurde. Es wurde 1648 in eine unteilbare Stiftung (ein so genanntes Fideikommiss) überführt.

All dies verlieh den Familienmitgliedern ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Selbstsicherheit. Man beanspruchte stets aus eigenem Recht zu leben, mit eigenem Besitz und eigener Herrschaft über Land und Leute. Auf ‚Parvenus‘, wie etwa Napoléon einer war, schaute man herab. Die Metternichs gaben sich einen sehr bezeichnenden Wappenspruch, nämlich 'Kraft im Recht'. [Mich erinnert dies unwillkürlich an ‚Kraft durch Freude‘!] Die drei Fundamente, auf denen alles ruhte, hießen Kaiser, Kirche, Familienstärke. Dank der expliziten Hilfe seiner geistlichen Mitglieder gelang es der Familie in den religiösen Wirren um den 30-jährigen Krieg herum ein vorher Protestanten gehörendes größeres Landgut in Böhmen zu erwerben. Schloss Königswart (tschechisch Kynzvart) wurde 1794, also nach der französischen Besetzung des linken Rheinufers, zur Zuflucht der Familie. Heute ist es ein Golfclub.



Gut Königswart

Eltern, Jugend und Ausbildung

Metternichs Vater, Franz Georg von Metternich (1746-1818), war Gesandter des Kaisers an den Höfen der Kurfürsten von Trier und Köln mit Sitz in Koblenz. In der Zeit von 1791-1794 war er ‚dirigierender Minister‘ für die österreichischen Niederlande in Brüssel. Die Mutter war eine Maria Beatrix von Kageneck. Vater und Mutter standen mit ihren Kindern stets in französisch-sprachlichem brieflichen Kontakt, wenn immer sie an getrennten Orten lebten.

Klemens Wenzel Lothar Nepomuk von Metternich (1773-1859) wurde im heute noch bestehenden Palais der Familie in Koblenz geboren. Der Trierer Bischof und Kurfürst Clemens Wenzeslaus von Sachsen wurde sein Taufpate. Er und sein jüngerer Bruder Josef wurden von zwei Hauslehrern im Sinne der Aufklärung unterrichtet. Einer von ihnen war der elsässische Protestant Johann Friedrich Simon. In Begleitung ihrer Hauslehrer gingen beide Brüder von 1788-1790 zum Studium nach Straßburg. Unter anderem belegte man Staatskunde bei dem Historiker Christoph Wilhelm von Koch. Von ihm stammt der Satz: ‚Die Geschichte ist eine Abfolge von Fortschritten und Täuschungen, von Aufklärung und Aberglauben‘. In Straßburg erlebte man Ende Juli 1789 die Erstürmung des Rathauses durch Revolutionäre, angeführt von Johann Friedrich Simon, der sich später in Paris den Jakobinern anschloss. [Übrigens wurde nach der Niederschlagung des Aufstands durch die Bürgerwehr am 23.7.1789 ein aus Mainz stammender Zimmergeselle gehängt, angeblich weil er 60 Louisdor bei der Rathausplünderung mitgenommen haben soll]

Überleben in einer Revolution, England-Erfahrung

Metternich wollte sein Studium an der Universität in Mainz fortsetzen, was aber durch den 1792 erfolgten Einmarsch französischer Revolutionstruppen unter General Custine verhindert wurde. Er ging deshalb vorübergehend zu seinem Vater nach Brüssel. Von dort aus verfolgte er, was in Mainz und anderswo ablief. Er las mit Interesse alle Schriften, welche die Mainzer Republikaner produzierten, so auch die von Georg Forster. Auch nahm er das vorschnelle Ende der Mainzer Republik zur Kenntnis, herbeigeführt durch den Einmarsch preußischer und hessischer Truppen und die darauffolgende Hinrichtung Custines auf der Guillotine in Paris.

Anstatt in Deutschland weiter zu studieren, bewog ihn sein Vater zunächst nach England zu gehen, wo er von März bis Juli 1794 blieb. Dieser (erste) Aufenthalt beeinflusste sein Weltbild derart, dass er immer wieder darauf Bezug nahm, bis an sein Lebensende. Unter anderem hatte er die Schriften von Edmund Burke (1729-1797) genau studiert. Vor allem dessen Buch 'Reflections on the French Revolution' von 1790 hatte es ihm angetan. Er ließ es später von seinem Freund Friedrich Gentz ins Deutsche übersetzen.

Burke argumentierte, dass Ordnung und das Recht auf Eigentum die Grundlagen jeder Gesellschaft seien. Der Fortschritt habe auch Kehrseiten, es sei denn er ist gebunden an die Idee einer generationenübergreifenden Gemeinschaft. Durch Verlust der 'alten Ordnung' mache sich eine Regierung abhängig von der 'Zustimmung durch warme Anhänger und enthusiastische Verfechter'.  Eine Demokratie kann leicht in eine Demagogie entarten. Die Kraft der Freiheit muss 'operationalisiert' werden in Frieden und Ordnung.

Metternich pflegte die Sitzungen des Oberhauses zu besuchen, wo er Burke persönlich erleben konnte. Ihn beeindruckte die uralte Universität in Oxford, die pulsierende Finanzwelt (City) und die in Portsmouth erkennbare Seemacht. Er war enttäuscht von den ‚kümmerlichen‘ Stadthäusern des Adels. 'Dieses große Land...ist stark durch seine unerschütterliche Überzeugung vom Wert des Rechts, der Ordnung und der Freiheit', so schrieb er noch 1848. 'Wenn ich nicht das wäre, was ich bin, wollte ich ein Engländer sein' (so steht es in einem Brief von 1819).

Neustart in Wien und Heirat

Metternichs Vater musste im Juli 1794 vor den französischen Revolutionstruppen aus Brüssel fliehen. Er wurde entlassen und reiste über Benrath (bei Düsseldorf) nach Wien. Der Sohn Klemens wäre am liebsten in die USA ausgewandert, entschied sich aber dafür in Europa zu bleiben, weil er Stammhalter im Fideikommiss der Familie war. Während das Haus in Koblenz, insbesondere seine Bibliothek, geplündert wurde, betätigte sich Metternich auf dem Gut Königswart in Böhmen. Er bemühte sich darum, den Besitz zu sichern und die Finanzen zu ordnen.

Es soll während des Faschings 1795 in Wien gewesen sein, als Eleonore von Kaunitz und Metternich sich kennen lernten. Sie war eine Enkeltochter von Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg (1711-1792), dem Staatskanzler unter Maria Theresia, Josef II. und Leopold II.  Eleonore muss ihren Vater schnell dafür gewonnen haben, der Ehe zuzustimmen. Trotzdem fand eine strenge Vermögensprüfung statt. Dabei wurde der linksrheinische Besitz der Metternichs als irreal (also nicht verfügbar) angesehen. Die böhmischen Güter waren teils verschuldet. Der Kaiser rettete die Situation, indem er dem Vater Metternichs eine Gratifikation für seine Tätigkeit in Belgien überwies, die es ihm erlaubte, auf einen Schlag alle Schulden zu tilgen. Die Hochzeit fand im September 1795 auf Schloss Austerlitz statt. Das Stadthaus der Familie Kaunitz ist heute Amtssitz des österreichischen Bundeskanzlers. 

Metternich selbst hörte ab 1795 Vorlesungen an der Universität Wien in Geologie, Chemie, Physik, Botanik und Medizin [In dieser Phase könnte Kontakt zu dem Niederweiser Baron, Klemenz Wenzel von der Heyden, bestanden haben, der um die gleiche Zeit in Wien studierte].

Durch die erste Niederlage gegen Napoléon in Italien und den Frieden von Campo Formio verlor Österreich unter anderem das linke Rheinufer. Für die anschließenden Verhandlungen in Rastatt Anfang 1798 bis Anfang 1799 wurde Metternichs Vater der Bevollmächtigte des österreichischen Kaisers. Metternich Junior begleitete ihn als Sekretär.

Erste diplomatische Stationen: Dresden, Berlin, Paris

Metternich wurde 1801 als Gesandter Österreichs an den sächsisch-polnischen Königshof nach Dresden geschickt. Seine 104 Seiten umfassenden politischen Instruktionen hatte er vollständig selbst verfasst und vom Kaiser genehmigen lassen. Zu den Analysen, die er von Dresden nach Wien lieferte, gehören Aussagen wie diese: Preußen versucht die Reichsverfassung zu zerstören und leidet an einer blinden Verdickungssucht; England strebt ein Welthandelsmonopol an. Persönlich von Bedeutung wurde der Aufenthalt durch drei Bekanntschaften, die er hier machte, die Gräfin Bagration, Wilhelmine von Sagan und den Preußen Friedrich Gentz. Mit allen dreien hatte er später immer wieder intensiven Kontakt, insbesondere während der Zeit des Wiener Kongresses.

Als zweite Station seiner diplomatischen Karriere wurde Metternich von 1803 bis 1806 Gesandter in Berlin. Hier lernte er neben preußischen Politikern, wie Karl August von Hardenberg (1750-1822). Wilhelm von Humboldt und dem Freiherrn von Stein auch Zar Alexander von Russland kennen. Obwohl er im November 1805 noch in Potsdam einen Beistandsvertrag mit Preußen und Russland aushandelte, musste Metternich einsehen, dass von den Partnern kaum militärische Hilfe gegen Napoléon zu erwarten sei. Inzwischen standen Napoléons Armeen in Süddeutschland und fügten den alleingelassenen Österreichern eine Niederlage nach der andern bei. Nach der Schlacht bei Austerlitz musste sich Österreich Ende 1805 im Frieden von Pressburg damit abfinden, die Einrichtung der von Frankreich geschaffenen Königreiche von Bayern und Württemberg anzuerkennen.

Metternich wechselte Anfang 1806 als Botschafter nach Paris, wo er bis 1809 blieb. Es war dies eine äußerst heikle Mission. Es dauerte bis August 1808 bis er schließlich als Botschafter des österreichischen, und nicht des römischen Kaisers akkreditiert wurde.

Napoléon und das Ende des ‚alten Reiches‘ 

Inzwischen hatte Napoléon ganz Europa seinen Stempel aufgedrückt. Er besiegelte das Ende des Römischen Reiches Deutscher Nation indem er 16 deutsche Rheinbundstaaten in August 1806 zwang, aus dem Reich auszutreten. Auf Wunsch Napoléons legte daraufhin Kaiser Franz die römische Kaiserkrone nieder. Napoléon sah sich als Nachfolger Karls des Großen und als der  Protektor eines neuen Reiches. 

Als nächstes bezwang Napoléon die demoralisierten Preußen bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806, bevor er in Tilsit einen Frieden schloss. Österreich startete seinerseits einen Angriff, erlitt aber im März 1809 eine Niederlage bei Regensburg. Napoleon zog in Wien ein, der Kaiser musste fliehen. Nach zwei weiteren Niederlagen bei Aspern und Wagram kam es zum Frieden von Schönbrunn. Darin musste Österreich das Innviertel und Salzburg an Bayern abtreten und den Rest Oberitaliens (sowie Dalmatien) an Frankreich. In dieser Situation wurde Metternich Außenminister. 

Es erfolgte jetzt ein außenpolitischen Kurswechsel Österreichs. Metternich nannte dies ‚aktive‘ Neutralität. Er vermied es damit, sich auf dem Niveau der 16 Rheinbundstaaten einzuordnen. Seine Strategie bestand darin, Napoléon zu umschwärmen, anstatt ihn zu bekämpfen. Die Folge war, dass eine Ehe Napoléons mit der österreichischen Kaisertochter Marie Louise angebahnt wurde und Österreich sich verpflichtete, Frankreich militärisch zu unterstützen. Das führte später dazu, dass ein 30.000 Mann starkes Auxiliarkorps am Russlandfeldzug teilnahm, sich aber von Kampfhandlungen weitgehend fernhielt. Metternich begleitete Marie Louise und blieb ein halbes Jahr in Paris. Dies hatte den Effekt, dass Napoléon Metternich sehr früh in seine Pläne Russland betreffend einweihte.

Napoléons Abstieg und Ende

Nach dem Brand Moskaus im Oktober 1812, schaltete Metternich um. Er begann eine Front gegen Napoléon zu organisieren. Seine Formel lautete jetzt ‚bewaffnete Mediation‘. Bereits im Mai 1813 schlug er eine europäische Ordnung vor mit Russland, Preußen, England und Frankreich als Partnern. Dies fand große Zustimmung bei seinem englischen Freund, dem Viscount Castelreagh (1769-1822). Dieser wurde später ein enger Kooperationspartner und bestimmte wesentlich die Ergebnisse des Wiener Kongresses. Metternich trug seine Pläne Napoléon bei einer 9-stündigen persönlichen Unterredung in Dresden vor. Napoléon lehnte ab.

Metternich hat über dieses Gespräch ein handschriftliches Protokoll angefertigt. Darin steht das für ihn so schockierende Zitat:  'Un homme que moi se f…  de la vie d'un million d'hommes!'. Das nicht ausgeschriebene Wort wird von Kennern als ‚fout‘  gelesen, was so viel wie ‚piepegal sein‘ heißt. Es kam noch zu einem Vermittlungsversuch im August in Prag, ehe es im Oktober 1813 zur alles entscheidenden Schlacht bei Leipzig kam. Metternich wurde am ersten Tag gefangen genommen, wurde jedoch von Napoléon freigelassen, um zu verhandeln.

Die Verbündeten dachten nicht mehr daran und wollen zuerst zum Rhein vorstoßen. Darauf wechselten die Rheinbundstaaten einer nach dem andern die Seite. Große Begeisterung herrschte, als auch Bayern dies tat. Bei einem Treffen mit dem Zar in Frankfurt überzeugten Metternich und Castelreigh diesen nach der Vertreibung Napoléons wieder die Monarchie der Bourbonen zur Macht zu verhelfen. Da Kaiser Franz und Metternich noch in Dijon festsaßen, als der Zar schon in Paris einritt, verhandelte dieser allein mit Charles-Maurice de Talleyrand (1754-1838), dem selbsternannten Vertreter Frankreichs. Als Metternich davon erfuhr, dass man Napoléon nicht weiter als bis Elba verbannt hatte, gefiel dies ihm überhaupt nicht. Dennoch ließen er und der Zar sich anschließend in London gemeinsam feiern, wobei die Verleihung der Ehrendoktorwürde in Oxford für Metternich besonders erwähnenswert ist. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 wurde aus dem Grafen der Fürst Metternich.

Wiener Kongress ordnet Europa neu

Mit Castelreighs Hilfe hatte Metternich das Konzept eines Friedenskongresses vorbereitet. Die vier Verbündeten der Völkerschlacht von Leipzig sollten die Leitung übernehmen. Frankreich, Schweden, Spanien und Portugal sollten beteiligt werden. Alle von Napoléons territorialen Umstrukturierungen betroffenen Herrschaften, Organisationen und Körperschaften konnten sich vertreten lassen. Metternichs Freund Gentz würde Protokoll führen. Von den synchron laufenden Verhandlungen seien vier Themenkreise erwähnt.

  • Polen: Sowohl Preußen wie Russland wollen sich auf Polens Kosten ausdehnen. Ein dem Sachsenkönig zugeordneter Rest soll übrig bleiben.
  • Deutschland: An die Stelle des Rheinbunds soll ein Deutscher Bund treten.
  • Italien: Österreich soll alle an Frankreich verlorenen Gebiete, außer dem Kirchenstaat, zurück erhalten.
  • Stellung der Reichsgrafen: Für die im ‚Alten Reich‘ dem Kaiser direkt unterstellten Personen und Territorien soll eine Regelung gefunden werden.

Für den Deutschen Bund wurde eine Art österreichisch-preußische Doppelhegemonie vereinbart. Sowohl diese beiden Führer wie auch mehrere Mitgliedsstaaten verfügten über Territorien, die außerhalb des Bundes lagen. Im Prinzip gehörte alles zum Deutschen Bund, was im Mittelalter zum Deutschen Reich gehörte, also auch Böhmen und Luxemburg. Der Idee eines reinen Nationalstaats ging man bewusst aus dem Wege. Bei der Frage der Reichsgrafen war Metternichs Familie direkt betroffen. Metternichs Vater, der in dieser Angelegenheit seine Standesgenossen vertrat, konnte zwar den Titel und einige andere Privilegien retten, nicht jedoch den gesamten alten Besitz. Es gab keine Bischöfe mehr als Landesherrn und keine nicht-mediatisierten Adeligen.


Als Diplomat (um 1820)

Mehr über den Kongress zu sagen, will ich mir ersparen. Die Hauptfiguren (Zar Alexander, Castelreigh, Hardenberg und Talleyrand) hatte Metternich bereits alle im Laufe seiner früheren Karriere kennengelernt, ebenso wie einige der Nebenfiguren (Gentz, Bagration und Sagan).

Karlsbad und das System Metternich

Sowohl die hohe Staatsverschuldung wie diverse Rückschläge wirtschaftlicher Art begünstigten immer mehr einen fremdenfeindlichen Nationalismus, besonders in strukturarmen Gebieten. Eine Veranstaltung, die Aufsehen erregte, war das 1817 begangene Wartburg-Fest. Hier kam es zur Verbrennung liberaler Schriften. Dazu gehörte auch ein Buch des Schriftstellers August von Kotzebue (1761-1819). Als dieser daraufhin von Weimar in das angeblich sicherere Mannheim umzog, wurde er dort im März 1819 von einem Teilnehmer des Wartburgfests ermordet. Der Täter war ein Burschenschafter und Theologiestudent aus Jena mit Namen Karl Ludwig Sand. '… hier, Du Verräter des Vaterlandes'  soll er dabei gerufen haben.

Metternich, der sich gerade auf Italienreise befand, wurde von seinem Freund Gentz mit Ausschnitten deutscher und österreichischer Zeitungen und Flugblättern der Burschenschaften versorgt. Wegen der darin zum Ausdruck gebrachten Sympathie für den Täter, glaubte Metternich, es mit einem Komplott zu tun zu haben. Er lud deshalb die Innenminister von 11 Mitgliedstaaten des Deutschen Bundes zu einem Treffen ein. Das Ergebnis waren die berühmten Karlsbader Beschlüsse. Sie enthielten ein Verbot der Burschenschaften, einen staatlichen Beauftragten für jede Hochschule, der die Lehre überwachen sollte sowie eine bundesweite Vorzensur für periodisch erscheinende Schriften.

Im Mai 1820 wurde Sand wegen des Mordes zum Tode verurteilt und hingerichtet. ‚Ich sterbe in der Kraft meines Gottes‘, soll er gerufen haben [Das erinnert sehr an das ‚Allahu akbar‘ heutiger Terroristen und Gotteskrieger]. Zuschauer hätten ihre Taschentücher in das Blut des Enthaupteten getaucht. Die Bretter des Schafotts wurden von einem Anhänger Sands für den Bau eines Gartenhauses verwendet. Die englische Presse war überrascht über das weit verbreitete Mitgefühl für Sand und die damit verbundene Kritik am ‚System Metternich‘. Dieser Ausdruck stand unter Zeitgenossen bald für jeden Versuch des Staates, sich gegen Aufwiegler zur Wehr zu setzen, ja, als Inbegriff gesellschaftlicher Unterdrückung. Metternich wurde 1821 Staatskanzler. Sein Freund Castelreigh starb 1822 durch Selbstmord.

Metternichs privates Leben und private Unternehmungen

Metternichs erste Ehefrau, Eleonore von Kaunitz, starb 1825 in Paris. Er heiratete 1827 Antonia von Leykam, die damals 21 Jahre alt war. Seine dritte Frau hieß Melanie von Zichy-Ferraris, die er 1831 heirate. Sie starb 1854 im Alter von 49 Jahren. Insgesamt hatte Metternich 12 Kinder, von denen nur vier ihn überlebten.

Als Ersatz für den linksrheinischen Besitz erhielt die Familie 1803 das säkularisierte Klostergut Ochsenhausen in Oberschwaben. Da es hochverschuldet war, hatten die Metternichs wenig Freude daran. Durch die Rheinbundakte Napoléons kam es im Jahre 1806 zu Württemberg und verlor seine Reichsunmittelbarkeit. Der württembergische König galt den untergeordneten Adeligen gegenüber als besonders unerträglich. Das verleitete einen von ihnen (Waldburg-Zeil) zu dem Satz: ‚Lieber Sauhirt in der Türkei als Standesherr in Württemberg`. Es gelang 1825 den Besitz an den württembergischen König für 1,2 Mio. Gulden zu verkaufen.

Nach dem Wiener Kongress schenkte der Kaiser den Metternichs 1816 Schloss Johannisberg im Rheingau, ein heute noch sehr berühmtes Weingut. Metternichs Familie hielt sich dort regelmäßig auf und empfing gerne Gäste, vor allem aus dem nahen Frankfurt. Heinrich Heine schrieb darüber: ‚Ich hielt den Wein, der dort wächst, immer für den Besten, und für einen gar klugen Vogel den Herrn des Johannisbergs‘. Als 1848 Mainzer und Frankfurter Turner das Weingut stürmten, wurde es erfolgreich von seinem Nassauer Amtmann verteidigt. Metternich erwarb auch die beiden Schlösser Winneburg und Beilstein wieder. Er ließ beide jedoch als Ruinen bestehen.


Gut Plaß

Nach dem Verkauf von Ochsenhausen erwarb Metternich 1826 die frühere Zisterzienserabtei Plaß (tschechisch Plasy) in der Nähe von Pilsen. Der Kaufpreis betrug 1,1 Mio. Gulden. Mit einem Kredit der Rothschilds wurde nach Erz und Kohle geschürft. Man wurde fündig und eröffnete die Fertigung von Nägeln, Löffeln, Achsen, Rädern, Pflugscharen, Herdplatten und dergleichen. Metternich baute auch eine Wohnsiedlung für die dort tätigen über 300 Arbeiter.

Tod von Kaiser Franz und Metternichs Ende

Als Kaiser Franz 1835 starb und Ferdinand sein Nachfolger wurde, verlor Metternich alsbald seine Stellung am Hofe. Der Finanzminister soll nachgeholfen haben, indem er ihn als klerikal und Ultramontanen denunzierte. Als 1848 Unruhen ausbrachen, zuerst in Palermo und Paris, griffen sie alsbald auf Wien über. Demonstranten forderten eine Verfassung. Als sie am 13. März 1848 vor dem Regierungsgebäude erschienen und Metternich als ‚Hemmung des Fortschritts‘ beschimpften, entschloss er sich zu fliehen.


Als Greis (um 1850)

Unter einem Decknamen reiste er per Kutsche über Dresden und Hannover nach Den Haag. Von dort nahm er ein Schiff nach England und gelangte am 19. April nach London. Seine Güter in Österreich wurden beschlagnahmt. Er hatte Kontakte zu Wellington und Disraeli und verfolgte die Verhandlungen in der Frankfurter Paulskirche. Im Oktober 1849 übersiedelte er nach Brüssel. Anfang 1851 erlaubte Kaiser Franz Josef die Rückkehr nach Wien, wo er im Juni 1859 starb. Zum Leichenbegängnis erschienen Freunde, Bewunderer und Mitkämpfer, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

NB: Wie die deutsche oder - genauer gesagt - die kleindeutsche Geschichte weiterging, hatte ich im Juni 2014 in diesem Blog beschrieben.

Sonntag, 19. März 2017

Bitburger Eisenmeteorit kehrt heim, allerdings nur ein geschmolzenes Teilstück

Lange bevor die Menschen, die wir Kelten nennen, unsere Gegend besiedelten, fand in der Südeifel ein Naturereignis ungewöhnlicher Art statt. Ob es am Tage oder während der Nacht geschah, wissen wir nicht. Jedenfalls war  minutenlang der Himmel hell erleuchtet und ein knatterndes und zischendes Geräusch erfüllte die Luft. Es endete mit einem laut knallenden Aufschlag, der die Erde im Umkreis von Kilometern erschütterte.

Geschichte und Ort des Fundes

Es war im Jahre 1802, also acht Jahre nachdem französische Revolutionstruppen bei uns einmarschiert waren, im Jahre X des Revolutionskalenders, als  sich Napoléon in Paris zum Konsul auf Lebenszeit wählen ließ und Österreich im Frieden von Lunéville seine linksrheinischen Gebiete an Frankreich abtrat. Damals stieß der Bauer und Mühlenbesitzer Matthias Müller von der Albachmühle beim Anlegen eines Weges auf seinem Acker auf einen ungewöhnlich großen Metallklumpen. Er lag etwa einen Meter unter der Oberfläche. Die Albachmühle gibt es heute noch und liegt etwa 4 km östlich des Stadtkerns. Sie gehörte damals zur Gemeinde Mötsch und wurde inzwischen mit dieser zusammen ins Gebiet der Stadt Bitburg eingemeindet. Die den Fundort umgebende Flur hieß damals ‚auf Folkert‘. Nach der letzten Flurbereinigung heißt sie ‚im Lohberg‘.


Fundstelle im Albachtal (Tranchot-Karte um 1810)

Eigenschaften des Himmelskörpers

Der freigelegte Klumpen wurde eindeutig als Himmelskörper identifiziert, also als Meteorit. Die ursprünglich gefundene Eisenmasse muss etwa 80x50x50 cm groß gewesen sein, denn sie wog rund 1,6 Tonnen (circa 33 Zentner). Der erste Bericht darüber erfolgte durch den englischen Oberst Gibbs, der 1805 ein kleines Stück abgehauen hatte. Veröffentlicht hat er darüber erst 1814. Erst dadurch wurde der Fund auch bei deutschen Mineralogen bekannt. Eine im Jahre 1974 durchgeführte Analyse ergab neben Eisen die folgenden Bestandteile: Nickel 12,4%, Gallium 34,8 ppm, Germanium 140 ppm und Iridium 0,46 ppm [ppm = parts per million]. Damit ähnelt er anderen auf der Erde gefundenen Meteoriten. Besonders das Element Iridium weist auf den außerirdischen Ursprung hin.


Mikroskopischer Ausschnitt des Bitburger Meteoriten

Schicksal des Fundes und erste Wiederentdeckung

Im Jahre 1807 wurde der Fund für 16,5 Taler an Peter Jost, den Betreiber des Pluwiger Hammers verkauft. Der Transport muss per Pferdewagen erfolgt sein. Die an der Ruwer, einem südlichen Nebenfluss der Mosel, gelegene Eisenschmelze mit Hammerwerk und Mahl- und Sägemühle gehörte früher dem Trierer Domkapitel. Nach der Säkularisation hatte Jost 1806 Hammerwerk und Mühle ersteigert.


Gesamtansicht des Schmelzkuchens aus Pluwig,
 gefunden 2014 bei Wülfrath

Als man nach dem Schmelzen das Eisen schmieden wollte, fiel es wie Sand auseinander. Auch das Beifügen von normalem Eisen half nichts. Man entschloss sich daher, den Schmelzkuchen, also die abgekühlte Schmelzmasse, auf dem Gelände der Hütte zu vergraben. Durch Mitglieder der Trierer Gesellschaft für nützliche Forschungen wurden nach 1830, also während der Preußenzeit, rund 300 kg wieder ausgegraben. Sie wurden zersägt und an verschiedene Museen in Deutschland und im Ausland verschenkt. Größere Teile kamen nach Bonn und Berlin in die dortigen mineralogischen Sammlungen. Lothar Monshausen [1] hatte 1994 die in Berlin befindlichen Brocken fotografiert. Zwei bis drei Zentner, die nicht aufgeschmolzen worden waren, konnten bis heute nicht wieder gefunden werden.


Abgetrenntes Teilstück für Stadt Bitburg

Zweite Wiederentdeckung und weiterer Verbleib

Der in Stuttgart ansässige Heilpraktiker Yasar Kes, der als Hobby Mineralien sammelt, entdeckte im Jahre 1993 in Wülfrath (zwischen Düsseldorf und Wuppertal) ein über 150 kg (!) schweres Teilstück des Schmelzkuchens des „Bitburger Eisenmeteoriten“. Wie es dorthin gelangt war, ist nicht bekannt. Viele Jahre lagerte das Stück unbeachtet im Garten des Finders, bis Recherchen im Internet das Material auf meteorischen Ursprung  hinwiesen.

Einige Stücke wurden seither mit einem Wasserstrahl-Schneidegerät abgetrennt. Zurzeit finden im Institut für Petrologie und Mineralische Rohstoffe der Universität Tübingen (unter Leitung von Dr. Udo Neumann) wissenschaftliche Untersuchungen statt. Ein Teilstück des Schmelzrestes wurde von Yasar Kes im März 2017 dem Bürgermeister der Stadt Bitburg persönlich überreicht und wird später im Rathaus in einer Vitrine ausgestellt sein.



Weitere Teilstücke



Oberflächenstruktur

Danksagung: Für den Hinweis auf die Geschichte des ursprünglichen wie des erneuten Fundes danke ich Lothar Monshausen aus Bitburg. Alle Fotos hat er freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Referenz

1.  Monshausen, L., Schulze, H.: Das Rätsel des Bitburger Eisenmeteoriten. In: Beiträge zur Geschichte des Bitburger Landes, Nr. 15 (1994), 107-111


Nachtrag am 22.3.2017


Heute fand in Bitburg die feierliche Übergabe eines Teilstücks an Stadtbürgermeister und Stadtarchivar statt. Das Mitteilungsblatt der Stadt berichtet darüber. 

Nachtrag vom 29.3.2017


Auf Nachfrage hat Yasar Kes zu den Umständen des Fundes einige nicht allzu genaue Angaben gemacht. Im Jahre 1993 fuhr er am Stadtrand von Wülfrath mit dem Fahrrad entlang eines Wald- oder Radwanderwegs, an dem sich die Abraumhalde eines mit Kalksteinen handelnden Unternehmens befand. Er sah dort einen größeren, mit Dellen übersäten unförmigen Gegenstand. Er fuhr später erneut dort hin und es gelang ihm den Gegenstand mit Hilfe von Holzstücken freizulegen. Dann tat er zunächst nichts. Auf dem beigefügten Google-Foto ist die Fundstelle markiert und ihre Koordinaten vermerkt.


Fundort bei Wülfrath
  
Später entschloss er sich, den Gegenstand abzutransportieren. Der erwies sich allerdings als sehr schwer (152 Kilo). Mit mehreren Männern zusammen gelang es, den Gegenstand auf eine Karre zu laden. Er brachte ihn zu sich nach Hause in den Garten. Er machte Fotos und zeigte sie einigen Bekannten und diversen angeblichen Experten. Deren Meinungen schwankten zwischen Gullideckel und Verhüttungsabfall. 

Er begann schließlich selbst im Internet zu recherchieren. Dort stieß er auf das ‚Bitburger Eisen‘. Darauf begann er selbst zu forschen und wandte sich um Hilfe an einige Universitäten. Als niemand Interesse zeigte, kaufte er sich schließlich ein Mikroskop. Er machte Untersuchungen ähnlich wie von Jakob Nöggerath (1788-1877), dem Bonner Mineralogen, in seiner Veröffentlichung über den Fund [1] beschrieben. Schließlich kam er in Kontakt mit Dr. Neumann von der Uni Tübingen.

Referenz

1. Nöggerath, J. und Bischof, G.: Journal für Chemie. N. R. 12. Bd. 1, Heft. 1 (1817)


Nachtrag am 30.3.2017

Heute berichtet auch der Trierische Volksfreund, das meist gelesene Medium der Region, in seiner Bitburger Ausgabe über die Übergabe eines Bruchstücks an die Stadt Bitburg.

Nachtrag am 30.1.2019

Heute informierte mich Dr. Udo Neumann von der Uni Tübingen per E-Mail wie folgt:
 
'möchte Sie noch informieren, dass die Untersuchung der Eisenmasse (Finder Y. Kes) keinen meteorischen Ursprung nachgewiesen hat. Es handelt sich um eine künstliche Eisenmasse. ' Mit freundlichen Grüßen, Udo Neumann

Dienstag, 7. März 2017

Epochalismus oder noch mehr Folklore, die man hinterfragen darf

Im April 2014 überschrieb ich einen Blog-Beitrag mit den Worten Informatik-Folklore, die man hinterfragen darf. Am Schluss standen ein paar Sätze, an die ich hin und wieder erinnert werde.

Unsere Branche ist  ̶  um  Evgenij Morozovs Terminologie zu verwenden  ̶  wie keine andere dem Epochalismus verfallen. Morozov nennt es auch technologische Amnesie. Immer wieder erscheinen Heilslehrer, die verkünden alles Alte zu vergessen, denn gerade habe ein neues Zeitalter begonnen. Nicht die Heilslehrer sind unser Problem, sondern die vielen (so genannten) Fachexperten, die ihnen glauben und folgen, statt sich eigene Gedanken zu machen.

Worte zu finden ist leicht, Werte zu schaffen jedoch nicht

Gerade fand mal wieder eine Diskussion unter Fachkollegen statt über das Übermaß von Hypes und Schlagworten, unter dem unsere Branche zu leiden hat. Angeregt wurde diese Diskussion von dem Kollegen Peter Mertens aus Nürnberg mit einem Beitrag im Informatik-Spektrum 4/2016 (S.301 ff). Er nahm die beiden Schlagworte Digitalisierung und Industrie 4.0 aufs Korn. Der Kollege Ernst Denert aus München reagierte mit einem Leserbrief in Heft 1/2017 (S.119). Er schlussfolgerte, dass die 'Öffentlichkeit Besseres verdient [habe] und die Informatik auch'.

Am 2.3.2017 bemerkte ich dazu:

das von Peter Mertens und Ernst Denert beklagte Problem von Hype und Schlagworten verfolgt uns Informatiker auf Schritt und Tritt. Dasselbe Heft des Informatik Spektrums, in dem Denerts Leserbrief erschien, liefert ein schönes Beispiel. Ich zitiere: ‚Eine Smart City soll jedoch nicht als Endstation der Stadtentwicklung angesehen werden, sondern soll sich mithilfe von Cognitive Computing in eine Cognitive City entwickeln ... Die Fähigkeit, sprachliche Parameter zu berechnen, macht es möglich, Informationen bewusst, kritisch, logisch, achtsam und aufgrund von Überlegungen zu verarbeiten‘. (Informatik Spektrum 1/2017, S.55).

Am 3.3. 2017 erwiderte Peter Lockemann aus Karlsruhe:

das kann man noch fortsetzen. Eines dieser Unworte ist "smart". Ein wundervolles Beispiel für die gedankenlose Verwendung von "smart" findet sich auf Seite 47 als Abb.1 in dem von Ihnen zitierten Beitrag (s. anbei).



Ein in der Politik beliebtes Anhängsel ist "4.0" überall dort wo man glaubt, man müsse Aktionismus bekunden. Aus einer Folie eines unserer Landesministerien: Wirtschaft 4.0, Industrie 4.0, Handwerk 4.0, Dienstleistungen 4.0, Handel 4.0, Arbeit 4.0, Aus-und Weiterbildung 4.0, Diversity 4.0, Europa 4.0, Gründung 4.0 (alles auf ein und derselben Folie!). Ich würde mir gerne erklären lassen, was die Autoren jeweils damit meinen. Kritik allein ist aber zu wenig. Dahinter steckt eben auch ein unglücklich artikulierter Bedarf, und mit dem sollten wir Informatiker uns ernsthaft auseinandersetzen (tun wir ja oftmals auch, aber für die Öffentlichkeit häufig unverständlich).

Am selben Tage schrieb Jürgen Nehmer aus Kaiserslautern:

ich habe direkt nach Erscheinen des Artikels Herrn Mertens geschrieben und ihm erklärt, wie sehr ich seine Ansicht teile. Als Senator und späterer Vizepräsident der DFG sind unzählige Forschungsanträge an die DFG aus der Informatik über meinen Tisch gelaufen und ich hatte oft die Aufgabe, den Inhalt meinen Kollegen aus den Ingenieurwissenschaften, den Naturwissenschaften und der Mathematik zu erklären. Ich bin mir oft wie ein Übersetzer vorgekommen, der Texte mit immer neuen Modebegriffen ohne Substanz in eine klar verständliche Techniksprache übersetzen musste, damit meine Kollegen im Senat und Präsidium nachvollziehen konnten, was mit einem Forschungsvorhaben aus der Informatik beabsichtigt war.

Noch ein paar Gedanken dazu. Digital stand für alles, was von der Informatik berührt wird, also genutzt und verändert werden kann, und smart ersetzte das früher stets überall verwendete Wort intelligent. Beide waren bis zuletzt die beliebtesten ‚Buzzwords‘ der Branche, die man an alles dranhängte. Genau genommen waren es Adjektive, die man voransetzte, wollte man überhaupt gehört werden. Das galt sowohl für die Produktwerbung, als auch für das Einwerben von Fördergeldern. Allmählich wird man dieser beiden Attribute überdrüssig. Sie werden daher abgelöst von ‚kognitiv‘ (anstatt smart) und Welt 4.0 (für alles, was schon digitalisiert ist).

Worte sind wie Verpackungen. Wer etwas verkaufen will weiß, dass er auf die Verpackung achten muss. Nur darf sie nicht übertrieben sein oder mehr vortäuschen, als in ihr ist. Dass auch andere Wissenschaften sich plötzlich das Attribut ‚digital‘ oder ‚smart‘ geben, hängt vielleicht damit zusammen, dass sie gerne ähnliche Fortschritte erreichen möchten wie die Informatik. Bei ihnen reichen dafür Worte ebenfalls nicht aus.

Alt ist von Übel, nur neu ist geil

Selbst in den besten Informatiker-Kreisen besteht ein äußerst seltsames Verhältnis zu allen in der Praxis existierenden Software-Systemen – selbst den gut eingeführten. Entsprechen sie, was ihre externen Merkmale anbetrifft, nicht der neuesten Mode, erhalten sie schnell das Prädikat Altsystem. Wie über alles Gestrige, so rümpft man die Nase. Man tut so, als ob man sich damit verunreinige. In Wahrheit gäbe es ohne bewährte Software unsere Branche überhaupt nicht, ohne sie liefen 90% der heutigen Anwendungen nicht. Die Definition bei Wikipedia ist ziemlich zutreffend.

Der Begriff Altsystem (engl. legacy system) bezeichnet in der Informatik eine etablierte, historisch gewachsene Anwendung im Bereich Unternehmenssoftware. Legacy ist hierbei das englische Wort für Vermächtnis, Hinterlassenschaft, Erbschaft, auch Altlast.

Fast immer wird auf Altsysteme herabgesehen, ja geschimpft. Das geschieht nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Praxis. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein möglicher Grund wird in Wikipedia gleich mitgeliefert.

Innerhalb der Anwendungslandschaft eines Unternehmens sind es zumeist großrechnerbasierte Individualentwicklungen, die sich oft durch unzureichende Dokumentation, veraltete Betriebs- und Entwicklungsumgebungen, zahlreiche Schnittstellen und hohe Komplexität auszeichnen. Die dort anzutreffende zentrale Daten- und Funktionshaltung galt seit der Client/Server-Euphorie als überholt.

Diese Definition ist garantiert schon mehrere Jahre alt. Sie müsste längst überarbeitet werden, da die Client/Server-Euphorie inzwischen der Cloud/App-Euphorie gewichen ist. Natürlich gibt es immer etwas Neues, das per se besser ist als der letzte Schrei von gestern. Nur so schafft man sich als Software-Entwickler neue Aufträge. Wie alle Betroffenen wissen, erfolgte die technische Entwicklung der Hardware exponentiell nach dem Mooreschen Gesetz. Jede Generation eines Systems war um eine Größenordnung besser, was Speicherkapazität und Rechnerleistung betrifft. Das zog den Umfang und die Breite der Software nach sich.

Es ist wichtig drauf hinzuweisen, dass es nicht der Fortschritt der Hardware ist, der Software ‚veralten‘ lässt. Ändert sich die Anwendungslogik inklusive Datenstrukturen, dann sind Änderungen der Software unvermeidbar. Anders muss man die vielen Änderungen der Softwaretechnik bewerten. Neue Entwurfsverfahren, neue Sprachen, neue Testmethoden und dgl. haben an sich nur Konsequenzen für neu zu entwickelnde Anwendungen. Ihre Übernahme durch das Entwicklerteam produziert jedoch Legacy-Code, d.h. Altsysteme, für deren Pflege bald keine Kompetenz mehr vorhanden ist. Dieser Preis wird sehr oft nicht in Betracht gezogen. Man muss nämlich über die einzelne Anwendung hinausdenken. Interessant sind noch die folgenden Bemerkungen zum Thema Altsysteme. Da wird einerseits betriebswirtschaftlich argumentiert, andererseits auf mögliche Probleme hingewiesen.

Sowohl in wirtschaftlichen Aufschwung- wie in Abschwungphasen wird oft repriorisiert, um die mit einer Ablösung verbundenen hohen Ausfallrisiken bzw. Umstellkosten zu umgehen, zumal der bloße Ersatz eines Legacy-Systems nicht mit einem direkten Mehrwert, sondern meist nur mit der Einsparung von kalkulatorischen Kosten (Kosten für temporären oder dauerhaften Ausfall) oder Opportunitätskosten (entgangene Umsätze wegen begrenzter Leistungsfähigkeit des Legacy-Systems) verbunden ist.

Es wird zugestanden, dass manchmal die Ablösung keinen ‚direkten Mehrwert‘ ergibt oder dass die Kosten des Altsystem keine echten Kosten sind. Man fordert dennoch dessen Ablösung. Die Frage ist nur, wer es wann macht. Wer sich auf eine Umstellung einlässt, läuft Gefahr in nicht erwartete Probleme zu rennen, für die es keine einfache Lösung gibt. Deshalb kann es sein, dass eine ‚Einkapslung‘ der Ausweg der Wahl ist. Das erinnert an den havarierten Kernreaktor von Tschernobyl, ist aber etwas weniger schlimm. Es gibt mehrere Gründe, sich von der Vergangenheit der eigenen Branche zu distanzieren. Ich liste einige auf:

  • Alles was man jetzt macht, erscheint größer als es in Wirklichkeit ist. Es werden weniger Vergleiche gemacht.
  • Man braucht weniger zu wissen, also zu lernen, um als Experte zu gelten. Man braucht sich nicht mit den Methoden und Werkzeugen zu befassen, mit denen vorhandene Produkte entwickelt wurden.
  • Probleme, die bei jedem Produkt erst bei der Nutzung auftreten, gehen einen nichts an.
  • Die Befassung mit Vorhandenem bindet Mittel, die man nicht für die Neugestaltung der Zukunft verwenden kann.

So lange es genug neue Systeme zu entwickeln gibt, kann man die Wartung und Pflege alter Systeme wegdelegieren. Diese Tätigkeiten werden daher ‚outgesourced‘, und zwar möglichst an Kollegen mit Standortnachteilen, z.B. in Entwicklungsländern wie Indien und Vietnam. Die dürfen sich dann mit den ‚alten‘ Methoden und Werkzeugen befassen. So existieren einige Hundert Milliarden Zeilen Programmcode in COBOL oder Fortran, den beiden früheren Standardsprachen der Branche. So wie die Literatur des Westens ein Jahrtausend lang sich des Griechischen und Lateinischen bediente, so entstanden viele Programme, die noch heute eine Rolle spielen, in Programmiersprachen, die man inzwischen als historisch bezeichnen kann. Von den rückwärts blickenden Geisteswissenschaftlern sondern sich die nach vorne gerichteten Ingenieure gerne ab. Dummerweise schafft die Informatik auch Bleibendes.

Es ist zweifellos so, dass immer noch zu viel Individual-Software entwickelt wird, auch da wo Standard-Software möglich ist. Leider entspricht es mehr der Natur vieler Menschen, lieber etwas Neues zu schaffen als etwas Vorhandenes zu pflegen. Das ist nicht nur in der Software-Branche der Fall. Um das Alte in nutzbarem Zustand zu halten, ist Aufmerksamkeit erforderlich. Seine Pflege muss gewährleistet sein. Da Software nicht durch Nutzung verbraucht wird, muss sie immer wieder angepasst werden. Je umfangreicher sie ist, umso seltener ist die Ablösung und Neuimplementierung ein gangbarer Weg. Jede Generation von Programmieren hofft, dass dieser Zeitpunkt doch bitte nicht in ihre Lebenszeit fällt. Anders ist es, wenn er für Firmen wie Alphabet, Amazon, Apple oder Facebook arbeitet. Deren Software wird nicht sobald ersetzt werden. Sie ist schon heute viel zu umfangreich.

Strategien sind wichtiger und schöner als Lösungen

Manchmal bedienen sich Informatiker auch gerne der Begriffe, die anderswo ihren Ruhm erlangt haben. Ein Beispiel ist das Wort Governance. Es stammt aus dem Französischen und bedeutet Regierungs-, Amts- oder Unternehmensführung. Bezeichnet wird damit das Steuerungs- und Regelungssystem im Sinn von Strukturen (Aufbau- und Ablauforganisation) einer politisch-gesellschaftlichen Einheit wie Staat, Verwaltung, Gemeinde, privater oder öffentlicher Organisation. Häufig wird es auch im Sinne von Steuerung oder Regelung einer jeglichen Organisation (etwa einer Gesellschaft oder eines Betriebes) verwendet. Davon abgeleitet wird die IT-Governance.  Es geht dabei darum,

die Anforderungen an die IT sowie die strategische Bedeutung von IT aus Sicht der Kern- und Führungsprozesse im Unternehmen zu verstehen, um den optimalen Betrieb zur Erreichung der Unternehmensziele sicherzustellen und Strategien für die zukünftige Erweiterung des Geschäftsbetriebes zu schaffen.

Governance schafft also Strategien. Aus Strategien werden irgendwann dokumentierte Pläne, aus Plänen endlich Produkte und Dienste. Als Teil der Informatik- oder IT-Strategie kann es eine eigene Software-Strategie geben. Wie jeder General im Kriege gelernt hat, gehören zwei Dinge immer zusammen. Man muss nicht nur eine Strategie haben  ̶  nicht irgendeine, sondern eine gute  ̶  man muss sie auch umsetzen können und wollen. Wenn immer ich das Wort Governance oder Strategie bei unsern Kollegen höre, so frage ich mich, ob wirklich an mehr als nur das Erstellen von Dokumenten gedacht wird. Manchmal müssen Lösungen gefunden werden, auch ohne dass es eine Strategie gibt.