Im April 2014 überschrieb
ich einen Blog-Beitrag mit den Worten Informatik-Folklore,
die man hinterfragen darf. Am Schluss standen ein paar Sätze, an die ich hin
und wieder erinnert werde.
Unsere Branche ist ̶
um Evgenij Morozovs Terminologie
zu verwenden ̶ wie keine andere dem Epochalismus verfallen.
Morozov nennt es auch technologische Amnesie. Immer wieder erscheinen
Heilslehrer, die verkünden alles Alte zu vergessen, denn gerade habe ein neues
Zeitalter begonnen. Nicht die Heilslehrer sind unser Problem, sondern die
vielen (so genannten) Fachexperten, die ihnen glauben und folgen, statt sich
eigene Gedanken zu machen.
Worte zu finden ist
leicht, Werte zu schaffen jedoch nicht
Gerade fand mal wieder eine Diskussion unter Fachkollegen statt über das Übermaß von Hypes und Schlagworten, unter dem unsere Branche zu leiden hat. Angeregt wurde diese Diskussion von dem Kollegen Peter Mertens aus Nürnberg mit einem Beitrag im Informatik-Spektrum 4/2016 (S.301 ff). Er nahm die beiden Schlagworte Digitalisierung und Industrie 4.0 aufs Korn. Der Kollege Ernst Denert aus München reagierte mit einem Leserbrief in Heft 1/2017 (S.119). Er schlussfolgerte, dass die 'Öffentlichkeit Besseres verdient [habe] und die Informatik auch'.
Am 2.3.2017 bemerkte ich dazu:
das von Peter Mertens und Ernst Denert
beklagte Problem von Hype und Schlagworten verfolgt uns Informatiker auf
Schritt und Tritt. Dasselbe Heft des Informatik Spektrums, in dem Denerts
Leserbrief erschien, liefert ein schönes Beispiel. Ich zitiere: ‚Eine Smart
City soll jedoch nicht als Endstation der Stadtentwicklung angesehen werden,
sondern soll sich mithilfe von Cognitive Computing in eine Cognitive City
entwickeln ... Die Fähigkeit, sprachliche Parameter zu berechnen, macht es
möglich, Informationen bewusst, kritisch, logisch, achtsam und aufgrund von
Überlegungen zu verarbeiten‘. (Informatik Spektrum 1/2017, S.55).
Am 3.3. 2017 erwiderte Peter Lockemann aus Karlsruhe:
Am 3.3. 2017 erwiderte Peter Lockemann aus Karlsruhe:
das kann man noch fortsetzen. Eines
dieser Unworte ist "smart". Ein wundervolles Beispiel für die
gedankenlose Verwendung von "smart" findet sich auf Seite 47 als
Abb.1 in dem von Ihnen zitierten Beitrag (s. anbei).
Ein in der Politik beliebtes Anhängsel
ist "4.0" überall dort wo man glaubt, man müsse Aktionismus bekunden.
Aus einer Folie eines unserer Landesministerien: Wirtschaft 4.0, Industrie 4.0,
Handwerk 4.0, Dienstleistungen 4.0, Handel 4.0, Arbeit 4.0, Aus-und
Weiterbildung 4.0, Diversity 4.0, Europa 4.0, Gründung 4.0 (alles auf ein und
derselben Folie!). Ich würde mir gerne erklären lassen, was die Autoren jeweils
damit meinen. Kritik allein ist aber zu wenig. Dahinter steckt eben auch ein
unglücklich artikulierter Bedarf, und mit dem sollten wir Informatiker uns
ernsthaft auseinandersetzen (tun wir ja oftmals auch, aber für die
Öffentlichkeit häufig unverständlich).
Am selben Tage schrieb Jürgen Nehmer aus
Kaiserslautern:
ich habe direkt nach Erscheinen des
Artikels Herrn Mertens geschrieben und ihm erklärt, wie sehr ich seine Ansicht
teile. Als Senator und späterer Vizepräsident der DFG sind unzählige Forschungsanträge
an die DFG aus der Informatik über meinen Tisch gelaufen und ich hatte oft die
Aufgabe, den Inhalt meinen Kollegen aus den Ingenieurwissenschaften, den
Naturwissenschaften und der Mathematik zu erklären. Ich bin mir oft wie ein
Übersetzer vorgekommen, der Texte mit immer neuen Modebegriffen ohne Substanz
in eine klar verständliche Techniksprache übersetzen musste, damit meine
Kollegen im Senat und Präsidium nachvollziehen konnten, was mit einem
Forschungsvorhaben aus der Informatik beabsichtigt war.
Noch ein paar Gedanken dazu. Digital stand für alles, was von der Informatik
berührt wird, also genutzt und verändert werden kann, und smart ersetzte das früher stets überall verwendete Wort intelligent. Beide waren bis zuletzt die
beliebtesten ‚Buzzwords‘ der Branche, die man an alles dranhängte. Genau
genommen waren es Adjektive, die man voransetzte, wollte man überhaupt gehört
werden. Das galt sowohl für die Produktwerbung, als auch für das Einwerben von
Fördergeldern. Allmählich wird man dieser beiden Attribute überdrüssig. Sie
werden daher abgelöst von ‚kognitiv‘
(anstatt smart) und Welt 4.0 (für alles,
was schon digitalisiert ist).
Worte sind wie Verpackungen. Wer etwas verkaufen will weiß, dass er auf die Verpackung achten muss. Nur darf sie nicht
übertrieben sein oder mehr vortäuschen, als in ihr ist. Dass auch andere Wissenschaften
sich plötzlich das Attribut ‚digital‘ oder ‚smart‘ geben, hängt vielleicht
damit zusammen, dass sie gerne ähnliche Fortschritte erreichen möchten wie die
Informatik. Bei ihnen reichen dafür Worte ebenfalls nicht aus.
Alt ist von Übel, nur neu ist geil
Selbst in den besten
Informatiker-Kreisen besteht ein äußerst seltsames Verhältnis zu allen in der
Praxis existierenden Software-Systemen – selbst den gut eingeführten. Entsprechen sie, was ihre externen
Merkmale anbetrifft, nicht der neuesten Mode, erhalten sie schnell das Prädikat
Altsystem. Wie über alles Gestrige, so rümpft man die Nase. Man tut so, als ob man
sich damit verunreinige. In Wahrheit gäbe es ohne bewährte Software unsere
Branche überhaupt nicht, ohne sie liefen 90% der heutigen Anwendungen nicht. Die
Definition bei Wikipedia ist ziemlich zutreffend.
Der Begriff Altsystem (engl. legacy system) bezeichnet in der Informatik
eine etablierte, historisch gewachsene Anwendung im Bereich
Unternehmenssoftware. Legacy ist hierbei das englische Wort für Vermächtnis,
Hinterlassenschaft, Erbschaft, auch Altlast.
Fast immer wird auf Altsysteme
herabgesehen, ja geschimpft. Das geschieht nicht nur in der Wissenschaft,
sondern auch in der Praxis. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein möglicher
Grund wird in Wikipedia gleich mitgeliefert.
Innerhalb der Anwendungslandschaft eines
Unternehmens sind es zumeist großrechnerbasierte Individualentwicklungen, die
sich oft durch unzureichende Dokumentation, veraltete Betriebs- und
Entwicklungsumgebungen, zahlreiche Schnittstellen und hohe Komplexität
auszeichnen. Die dort anzutreffende zentrale Daten- und Funktionshaltung galt
seit der Client/Server-Euphorie als überholt.
Diese Definition ist garantiert schon
mehrere Jahre alt. Sie müsste längst überarbeitet werden, da die Client/Server-Euphorie
inzwischen der Cloud/App-Euphorie gewichen ist. Natürlich gibt es immer etwas
Neues, das per se besser ist als der letzte Schrei von gestern. Nur so schafft
man sich als Software-Entwickler neue Aufträge. Wie alle Betroffenen wissen,
erfolgte die technische Entwicklung der Hardware exponentiell nach dem
Mooreschen Gesetz. Jede Generation eines Systems war um eine Größenordnung
besser, was Speicherkapazität und Rechnerleistung betrifft. Das zog den Umfang
und die Breite der Software nach sich.
Es ist wichtig drauf hinzuweisen, dass
es nicht der Fortschritt der Hardware ist, der Software ‚veralten‘ lässt. Ändert
sich die Anwendungslogik inklusive Datenstrukturen, dann sind Änderungen der
Software unvermeidbar. Anders muss man die vielen Änderungen der
Softwaretechnik bewerten. Neue Entwurfsverfahren, neue Sprachen, neue
Testmethoden und dgl. haben an sich nur Konsequenzen für neu zu entwickelnde
Anwendungen. Ihre Übernahme durch das Entwicklerteam produziert jedoch
Legacy-Code, d.h. Altsysteme, für deren Pflege bald keine Kompetenz mehr
vorhanden ist. Dieser Preis wird sehr oft nicht in Betracht gezogen. Man muss
nämlich über die einzelne Anwendung hinausdenken. Interessant sind noch die folgenden
Bemerkungen zum Thema Altsysteme. Da wird einerseits betriebswirtschaftlich
argumentiert, andererseits auf mögliche Probleme hingewiesen.
Sowohl in wirtschaftlichen Aufschwung-
wie in Abschwungphasen wird oft repriorisiert, um die mit einer Ablösung
verbundenen hohen Ausfallrisiken bzw. Umstellkosten zu umgehen, zumal der bloße
Ersatz eines Legacy-Systems nicht mit einem direkten Mehrwert, sondern meist
nur mit der Einsparung von kalkulatorischen Kosten (Kosten für temporären oder
dauerhaften Ausfall) oder Opportunitätskosten (entgangene Umsätze wegen begrenzter
Leistungsfähigkeit des Legacy-Systems) verbunden ist.
Es wird zugestanden, dass manchmal die
Ablösung keinen ‚direkten Mehrwert‘ ergibt oder dass die Kosten des Altsystem
keine echten Kosten sind. Man fordert dennoch dessen Ablösung. Die Frage ist nur,
wer es wann macht. Wer sich auf eine Umstellung einlässt, läuft Gefahr in nicht
erwartete Probleme zu rennen, für die es keine einfache Lösung gibt. Deshalb
kann es sein, dass eine ‚Einkapslung‘ der Ausweg der Wahl ist. Das erinnert an
den havarierten Kernreaktor von Tschernobyl, ist aber etwas weniger schlimm. Es
gibt mehrere Gründe, sich von der Vergangenheit der eigenen Branche zu
distanzieren. Ich liste einige auf:
- Alles was man jetzt macht, erscheint größer als es in Wirklichkeit ist. Es werden weniger Vergleiche gemacht.
- Man braucht weniger zu wissen, also zu lernen, um als Experte zu gelten. Man braucht sich nicht mit den Methoden und Werkzeugen zu befassen, mit denen vorhandene Produkte entwickelt wurden.
- Probleme, die bei jedem Produkt erst bei der Nutzung auftreten, gehen einen nichts an.
- Die Befassung mit Vorhandenem bindet Mittel, die man nicht für die Neugestaltung der Zukunft verwenden kann.
So lange es genug neue Systeme zu
entwickeln gibt, kann man die Wartung und Pflege alter Systeme wegdelegieren.
Diese Tätigkeiten werden daher ‚outgesourced‘, und zwar möglichst an Kollegen
mit Standortnachteilen, z.B. in Entwicklungsländern wie Indien und Vietnam. Die
dürfen sich dann mit den ‚alten‘ Methoden und Werkzeugen befassen. So
existieren einige Hundert Milliarden Zeilen Programmcode in COBOL oder Fortran,
den beiden früheren Standardsprachen der Branche. So wie die Literatur des
Westens ein Jahrtausend lang sich des Griechischen und Lateinischen bediente,
so entstanden viele Programme, die noch heute eine Rolle spielen, in
Programmiersprachen, die man inzwischen als historisch bezeichnen kann. Von den
rückwärts blickenden Geisteswissenschaftlern sondern sich die nach vorne
gerichteten Ingenieure gerne ab. Dummerweise schafft die Informatik auch
Bleibendes.
Es ist zweifellos so, dass immer noch zu
viel Individual-Software entwickelt wird, auch da wo Standard-Software möglich
ist. Leider entspricht es mehr der Natur vieler Menschen, lieber etwas Neues zu
schaffen als etwas Vorhandenes zu pflegen. Das ist nicht nur in der Software-Branche
der Fall. Um das Alte in nutzbarem Zustand zu halten, ist Aufmerksamkeit
erforderlich. Seine Pflege muss gewährleistet sein. Da Software nicht durch Nutzung
verbraucht wird, muss sie immer wieder angepasst werden. Je umfangreicher sie
ist, umso seltener ist die Ablösung und Neuimplementierung ein gangbarer Weg.
Jede Generation von Programmieren hofft, dass dieser Zeitpunkt doch bitte nicht
in ihre Lebenszeit fällt. Anders ist es, wenn er für Firmen wie Alphabet, Amazon,
Apple oder Facebook arbeitet. Deren Software wird nicht sobald ersetzt werden.
Sie ist schon heute viel zu umfangreich.
Strategien sind wichtiger und schöner als Lösungen
Manchmal
bedienen sich Informatiker auch gerne der Begriffe, die anderswo ihren Ruhm
erlangt haben. Ein Beispiel ist das Wort Governance. Es
stammt aus dem Französischen und bedeutet Regierungs-, Amts- oder
Unternehmensführung. Bezeichnet wird damit das Steuerungs- und Regelungssystem
im Sinn von Strukturen (Aufbau- und Ablauforganisation) einer
politisch-gesellschaftlichen Einheit wie Staat, Verwaltung, Gemeinde, privater
oder öffentlicher Organisation. Häufig wird es auch im Sinne von Steuerung oder
Regelung einer jeglichen Organisation (etwa einer Gesellschaft oder eines
Betriebes) verwendet. Davon abgeleitet wird die IT-Governance. Es geht dabei darum,
die
Anforderungen an die IT sowie die strategische Bedeutung von IT aus Sicht der
Kern- und Führungsprozesse im Unternehmen zu verstehen, um den optimalen
Betrieb zur Erreichung der Unternehmensziele sicherzustellen und Strategien für
die zukünftige Erweiterung des Geschäftsbetriebes zu schaffen.
Governance
schafft also Strategien. Aus Strategien werden irgendwann dokumentierte Pläne,
aus Plänen endlich Produkte und Dienste. Als Teil der Informatik- oder
IT-Strategie kann es eine eigene Software-Strategie geben. Wie jeder General im
Kriege gelernt hat, gehören zwei Dinge immer zusammen. Man muss nicht nur eine
Strategie haben ̶ nicht irgendeine, sondern eine gute ̶ man muss sie auch umsetzen können und wollen.
Wenn immer ich das Wort Governance oder Strategie bei unsern Kollegen höre, so
frage ich mich, ob wirklich an mehr als nur das Erstellen von Dokumenten
gedacht wird. Manchmal müssen Lösungen gefunden werden, auch ohne dass es eine Strategie gibt.
Manchmal lasse ich mich von klugen Worten beeindrucken. Sie sind dieses Mal in Englisch. Darin steht CS für Computer Science. Das entspricht in etwa unserer Informatik.
AntwortenLöschen'In much of the computing engineering has preceded the science. ... The early CS shaped the world we find ourselves in today. Our history showed us what worked and what does not. ... Let us not let others oversell our field. Let us foster expectations we can fulfill.' (Peter Denning, CACM 3/2017, S. 33)
Das Heft 1/2017 des Informatik-Spektrums, aus dem obiges Bild stammt, führte zu einigen Diskussionen. Das Informatik-Spektrum ist zwar langsam, wird aber allen etwa 20.000 Mitgliedern der GI zugesandt. Diese haben nicht die Möglichkeit ein einzelnes Heft oder gar einen Beitrag abzuwählen. Sie können jedoch das gesamte Heft nach Erhalt in den Papierkorb werfen.
AntwortenLöschenAnders ist es mit dem E-Mail-Verteiler der GI-Fellows. Über den erhalten etwa 100 Leute elektronische Post, d.h. schnell und unkompliziert. Für einige seiner Empfänger werden dort Themen diskutiert, die sie nicht interessieren. Sie beschweren sich dann. Wieder anders ist dieser Blog. Niemand muss ihn lesen. Deshalb hat sich auch noch nie jemand bei mir beschwert. Er ist wie eine Echokammer oder eine Filterblase. Filterblasen führen ‚zur Isolation gegenüber Informationen, die nicht dem Standpunkt des Benutzers entsprechen‘. Nur Leute, die wissen was sie von mir erwarten können, machen sich die Mühe überhaupt hineinzusehen. Mir dann noch zu widersprechen, kostet zusätzliche Mühe, evtl. sogar andere Unbequemlichkeiten.