Es ist bezeichnend, dass es heute kaum noch Katastrophen gibt, die
ohne einen Spendenaufruf in den Medien davonkommen. Die meist sehr starke
Resonanz, vor allem in Deutschland, zeigt, dass die Empathie für Notleidende
sehr ausgeprägt zu sein scheint. Empathie (engl. empathy) ist die
Rückübersetzung aus dem Englischen des deutschen Worts ‚Einfühlen‘. Barack Obama
soll noch gesagt haben, dass es im Volk zu wenig Empathie gäbe. Donald Trump sieht
die Dinge offensichtlich ganz anders. Sein Erfolg regte viele zum Nachdenken an. So bewog es den Literatur-, Kultur- und Kognitionswissenschaftler
Fritz Breithaupt (*1967) ein Buch zu veröffentlichen, das Beachtung fand, unter anderem
durch eine Rezension in SPIEGEL 9/2017. Es heißt: Die dunklen
Seiten der Empathie und
erschien 2017.
Autor und Buch
Nicht nur lehrt sein in Meersburg geborener Autor heute an einer Universität des amerikanischen Mittelwestens (Indiana University in Bloomington), er kennt auch Leute, die
Trump gewählt haben. ‚Fly-over country‘
heißt diese Region bei vielen Amerikanern. Alles, was er zu sagen hat, steht in
den ersten 40 Seiten. Man braucht also das eBuch gar nicht zu kaufen und ganz
zu lesen. Bevor ich näher auf dieses Buch eingehe, hier eine Definition des
Begriffs Empathie, natürlich aus Wikipedia.
Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen und zu verstehen. Zur Empathie wird gemeinhin auch die Fähigkeit zu angemessenen Reaktionen auf Gefühle anderer Menschen, wie zum Beispiel Mitleid, Trauer, Schmerz und Hilfsbereitschaft aus Mitgefühl gezählt. Die neuere Hirnforschung legt allerdings eine deutliche Unterscheidbarkeit des empathischen Vermögens vom Mitgefühl nahe. Grundlage der Empathie ist die Selbstwahrnehmung; je offener eine Person für ihre eigenen Emotionen ist, desto besser kann sie auch die Gefühle anderer deuten.
Diese Definition reicht für den normalen
Bedarf eigentlich völlig aus. Sie geht sogar über das Buch hinaus, indem sie
zwischen ‚empathischen Vermögen‘ und Mitgefühl unterscheidet. Der Autor macht
hier keinen Unterschied. Breithaupt erweckt den Eindruck, als ob er das Thema systematisch
nach vier methodischen Strängen abhandeln würde, nämlich aus Sicht der
Evolution, nach dem ‚Theory
of Mind`-Ansatz, empirisch (d.h. aufgrund von MRI-Untersuchungen) und
phänomenologisch. Leider bleibt es bei dieser Ankündigung. Es wird mal nach
hier, mal nach dort gesprungen.
Geschichte eines Begriffes
Empathie muss gegen Ende des 18.
Jahrhunderts in der westlichen Welt ihre gesellschaftlich relevante Rolle
erlangt haben. Sie ging mit dem Aufkommen des Individuums einher, sowie der
Abschaffung der Leibeigenschaft und der Sklaverei und der Einführung der
Menschenrechte. Ausführlich wird erklärt, was Nietzsche und Schopenhauer zu dem
Thema zu sagen hatten. Von da geht es zu Umfragen an amerikanischen
Universitäten, aus denen hervorging, dass die Fähigkeit zur Empathie im Abnehmen begriffen sei. Dass
die Umfrage-Ergebnisse möglicherweise dadurch beeinflusst wurden, dass Worte
verwandt wurden, die früheren Studenten geläufiger waren als heutigen, wird
eingeräumt. Dass Asiaten eher an eine Landschaft als an Menschen denken, wenn
von Einfühlen die Rede ist, zeigt, dass wir es mit einem typisch westlichen
Thema zu tun haben.
Helle Seiten der Empathie
Empathie bewirkt ein Mit-Erleben. Wie in
einem früheren Blog-Beitrag
beschrieben, wurde vor Jahren entdeckt, dass Primaten hierfür besonders
befähigt sind. Sie verfügen über spezielle Nervenzellen, die so genannten Spiegelneuronen.
Diese ermöglichen es, Absichten, Gedanken
und Gefühle anderer Individuen mitzuerleben. Wir werden in die Situation des
andern transportiert und haben dabei oft einen klareren Blick als der Betroffene
selbst. Der Betroffene mag verwirrt, ja verstört sein, während wir seine ganze
Situation sehen und berücksichtigen können.
Empathie benötigt eine gewisse Kultur, um
überhaupt in Erscheinung zu treten. Es ist eine Eigenschaft, die durch
Erziehung gefördert werden muss. Sie bereichert die eigene Erlebniswelt, erfordert
aber eine gewisse Lebenserfahrung. Empathie kostet viel Energie im Gehirn, oder
anders herum, sie setzt ein hochentwickeltes Gehirn voraus. Ein Autist besitzt
die Fähigkeit der Empathie nicht. Er kann sie bis zu einem bestimmten Grade
durch Alltagswissen ausgleichen.
Dunkle Seiten der Empathie
Breithaupts Zielrichtung ist es zu
zeigen, dass der Begriff Empathie auch
Schattenseiten hat. Er ist vielleicht zu sehr hochgejubelt worden. Manches, was
im Buch gesagt wird, ist nicht neu, jedoch beachtenswert.
Die Empathie schafft kein akkurates
Verstehen des anderen. Sie festigt eher ein vorschnelles Urteil. Sie führt
nicht notwendigerweise zu einem moralischen Verhalten. Sie ist im Grunde eine
Form von Resonanzsuche. Urteilt man nach Prinzipien wie Fairness und
Gerechtigkeit, führt dies meist zu andern Ergebnissen als die Empathie.
Die Empathie kann leicht zu
problematischen Verhaltensweisen führen. Das Mitempfinden des Leidens beschert manchen
Menschen eine Art von Befriedigung. Man spricht dann von Sadismus oder gar
Vampirismus. Das Opfer mag ganz überraschend Sympathie für den Täter entwickeln
und mit ihm kooperieren. Nach einem Vorfall 1973 in der deutschen Botschaft kennt man das so genannte Stockholm-Syndrom. Oft
identifiziert man sich mit den Helfern anstatt mit dem Notleidenden. Die Nazis
pervertierten die Dinge, indem sie zum Mitleid mit den Tätern aufriefen.
Obsessive Formen der Empathie kommen zum
Ausdruck beim Fan, der zum Stalker wird. Auch die so genannten Helikopter-Eltern
lassen ihren Kindern keine Freiheit. Sie schweben quasi über ihnen, wo auch
immer diese sind. Es ist dies eine Form emotionaler Instabilität der Eltern.
Nach Breithaupt kann Empathie sogar zur Ursache von Radikalisierung werden. Der
Islamist fühlt sich zu einer Gruppe von Menschen hingezogen, für die er bereit
ist zu kämpfen, ja zu töten. Die Empathie verschärft die Konflikte. Es geht dabei
immer um ‚wir gegen andere‘, selbst in Form des Terrorismus.
Zwei gewagte Erklärungsversuche
Seine Aktualität gewinnt das Buch, indem
es versucht zu zwei Ereignissen der jüngeren Geschichte eine eigene Erklärung
beizusteuern: Angela Merkels Flüchtlingspolitik und Donald Trumps präsidiale
Eskapaden. Ich will sie kommentarlos wiedergeben.
Deutschland sei 2015 die Empathie-Nation
Nr. 1 geworden dank Merkel. Es sei nicht allein das Erbe der Schuld, das uns
dazu machte. Angela Merkel sei im Sommer 2015 durch ein Wechselbad der Gefühle
gegangen. Es begann Mitte Juli in Rostock. Eine Palästinenserin aus dem Libanon,
etwa 13 Jahre alt, fragte Merkel, ob sie nicht dafür sorgen könnte, dass ihre
Familie eine dauernde Aufenthaltserlaubnis bekommen kann. Sie möchte gerne in
Deutschland studieren. Merkel erklärte dann, dass es so viele Flüchtlinge gäbe,
die nicht aus sicheren Drittländern kämen, die man nicht abweisen könnte. Als
Merkel später sah, dass das Mädchen weinte, ging sie zu ihm und sagte: ‚Weine
nicht, Du hast alles prima gemacht‘. Darauf sagte der Moderator: ‚Frau
Merkel, damit helfen Sie dem Mädchen nicht‘. Sie erschien mal wieder als die
kalte, gefühlslose Vernunftfrau. Als eine Woche später Flüchtlinge im
Budapester Bahnhof durch die Medien gingen, zeigte Merkel Empathie und lud sie
ein, nach Deutschland zu kommen. Seither ist das Land gespalten und Angela
Merkels Position wackelt. ‚2015 wird sich nicht wiederholen‘ sagt Seehofer.
Donald Trump binde seine Anhänger durch
Empathie. Er setze voll auf Emotionen. Er sei wie ein großes Baby, dem viele
helfen wollen. Auch er (Breithaupt) hatte bereits Trumps Niederlage emotional
durchgespielt, wissend, dass Trump sich dagegen sträuben würde. Nach erfolgreichem
Wahlausgang erweise sich Trump als ein Meister der Empathie. Er wisse, dass er einen
narzisstischen Charakter habe. Er versuche daher alles durchzusetzen, was er
versprochen habe. Von seinen Anhängern erhalte er Zustimmung für die Art, wie
er Angriffe abwehrt mittels eines Gegenangriffs – selbst dann, wenn sie
berechtigt sind. Seine Fehlerhaftigkeit mache ihn zum Modell für andere.
Peter Hiemann aus Grasse schrieb:
AntwortenLöschenBreithaupt betreibt ein „Experimental Humanities Lab“ und versucht mittels Analyse vielfältiger Erzählungen die vielschichtigen Aspekte menschlicher Kommunikation zu erklären. Zitat: „We orient ourselves in the world by means of stories, gossip, and narrative thinking. Guided by narratives, we form our identities, join groups, make decisions concerning belief, act, love, and experience emotions.„
Es ist sicher nicht leicht, unterschiedliche Bewusstseinsperspektiven bei vielschichtigen menschlichen Kommunikationen zu beachten. Breithaupts Aussagen, dass auch angeborene emphatische Fähigkeiten für 'dunkle Seiten' menschlicher Denk- und Verhaltensweisen 'verantwortlich' gemacht werden können, halten professionellen neurologischen Vorstellungen nicht stand. Der Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt“ muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er mit seinen publikumswirksamen Behauptungen keine aufklärerischen Ziele verfolgt. Er trägt zu der derzeit viel diskutierten Ansicht bei, dass Eliten eher eigene Interessen als gesellschaftliche Anliegen vertreten.
Hartmut Wedekind aus Darmstadt schrieb:
AntwortenLöschenMan nennt Empathie theologisch auch Charisma. Beide Wörter sind ungefähr synonym (https://de.wikipedia.org/wiki/Charisma).
Siehe auch: https://blogs.fau.de/wedekind/sind-alle-notleidenden-unsere-naechsten/
Der Unterschied ist schon erstaunlich. Charisma geht auf den Apostel Paulus oder Max Weber zurück, bei Empathie denkt man an Barack Obama oder Donald (Duck) Trump.
LöschenPeter Hiemann aus Grasse schrieb:
AntwortenLöschenDonald Trumps Denk- und Verhaltensweise mag für Viele charismatische Züge aufweisen, sie wird jedoch vor allem als narzisstisch eingeschätzt. Sein narzisstisches Verhalten scheint eine wesentliche Quelle seiner Selbstbestätigung zu sein. Er hat die Erfahrung gemacht, dass er damit viele Menschen beeindrucken und für seine Ziele gewinnen kann.
Empathisches Verhalten ist in diesem Sinn nicht 'zielgerichtet'. Es bezieht sich auf unterschiedliche emotionale, kognitive und soziale Bewusstseinsperspektiven. Emotionale Empathie ist die individuelle Fähigkeit, das Gleiche zu empfinden wie andere Menschen (z.B. Emotionen wie Trauer, Schmerz, Angst, Freude). Kognitive Empathie ist die Fähigkeit, Gedanken und Absichten anderer Menschen zu verstehen und daraus korrekte Schlussfolgerungen zu ihrem Verhalten abzuleiten. Bei der sozialen Empathie handelt es sich um die Fähigkeit, komplexe soziale Situationen (Systeme) mit Menschen unterschiedlicher Kulturen, Charaktereigenschaften und Werthaltungen zu verstehen, um mit ihnen konstruktiv kommunizieren zu können.