Dienstag, 29. Mai 2018

Das also war die k. und k. Welt (erzählt von Pieter Judson)

Pieter M. Judson (*1956) ist ein in Utrecht geborener amerikanischer Historiker, der in Florenz lebt. In seinem Buch Habsburg, Geschichte eines Imperiums 1740-1918 (2. A. 2017, 667 S.) erzählt er die Geschichte der k.u.k.-Monarchie. Gemeint ist damit die Doppelmonarchie, die das österreichische Kaiserhaus mit dem ungarischen Königshaus verband. Zwei Gründe bewogen mich, dieses Buch zu lesen. Meine Bitburger und Luxemburger Verwandten schwärmen noch heute von der Doppeladler-Zeit. Das war die gute alte Feudalzeit, bevor die französischen Revolutionstruppen kamen und bevor wir Preußen wurden. Andererseits war das Habsburger Reich ein Vielvölkerstaat. Es war quasi ein Vorläufer der EU. Nicht nur äußere auch innere Kräfte führten sein Scheitern herbei. Dazu erwartete ich mehr Information von dem Buch, als im preußisch-deutschen Geschichtsunterricht vermittelt wird.

Kaiserin Maria Theresia [1745-1780]

Praktisch an dem Tag, als Maria Theresia (1717-1780) im Jahre 1745 Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs wurde, fiel Friedrich der Große in Schlesien ein. Weder er noch Frankreichs Ludwig XIV. wollten akzeptieren, dass eine Frau im zentralen Staat des christlichen Abendlandes das Sagen hat. Maria Theresa verlor Schlesien, gewann aber Frankreich zum Verbündeten. Ihre Tochter Marie-Antoinette heiratete 1770 den französischen Thronfolger, der später als Ludwig XVI. König wurde.

Maria Theresa war sehr bemüht, ihr Mammutreich in den Griff zu bekommen. Es umfasste ein nahezu zusammenhängendes Gebiet von Brüssel bis Lemberg, von Prag bis Florenz. Es gab 14 Sprachen, 7 Religionen und rund 300 lokale Herrscher. Diese nahmen die Besteuerung vor und hoben zum Militärdienst aus. Sie hatte, um zentrale Aufgaben zu erledigen, einen steigenden Bedarf an Beamten. Dabei verließ sie sich auf den Adel, soweit sie konnte. Sie nobilierte aber auch viele Nicht-Adelige, sofern sie qualifiziert waren.

Sie führte 1774 im ganzen Reiche eine 6-jährige Schulpflicht ein (in Ungarn 1777). Die Lehrer wurden weitestgehend vom Klerus gestellt. Der Unterricht erfolgte in der Volkssprache. Die Maßnahme, mit der sie Spuren bis in die heutige Zeit hinterließ, ist die erste genaue Erhebung von Häusern und Grundbesitz. Das Maria-Theresien-Kataster von 1775 ist eine sehr verlässliche Quelle historischer Verhältnisse auch in meiner Heimat, den damaligen österreichischen Niederlande. Weil mit der Bestandsaufname und der gleichzeitigen Volkszählung das Militär beauftragt wurde, entstand ein neues Band zwischen Zentralstaat und dem gemeinen Volk. Die Soldaten, die nach den Lebensverhältnissen (der Condition) fragten, sammelten unbeabsichtigt jede Menge Klagen über den lokalen Adel. Maria Theresia errichtete eine Zollunion zwischen den deutschsprachigen Erblanden und Böhmen und entwickelte Triest und Rijeka zu Häfen in Richtung Mittelmeer.

Joseph II. und Leopold II [1780-1792]

Maria Theresas Sohn Joseph II. war ab 1764 Mitregent. Er nutzte diese Zeit, um durch Reisen das Reich kennenzulernen. Er übernahm 1780 die Alleinherrschaft, also nach dem Tod der Mutter. Er regierte bis 1790. Darauf folgte sein Bruder Leopold II. bis 1792. Joseph war ein von den Ideen der Aufklärung beseelter Freigeist. Überall im Lande förderte er die politische Diskussion und Weiterbildung, sei es durch die Gründung von Zeitungen, landwirtschaftlichen Vereinigungen oder Kaffeehäusern. Auch Freimaurerlogen entstanden in vielen Städten. Joseph gab mittels eines Toleranzedikts für Juden, Protestanten und Orthodoxe diesen Glaubensgruppen Zugang zu Schulen, Universtäten und Militär. Seine Beamten trieb er zur Leistung an.

Seine epochale Leistung bestand in der 1781 verfügten Abschaffung der Leibeigenschaft. Die Befreiung der Bauern sollte deren Steueraufkommen erhöhen. Sie sollten mehr eigenes Einkommen haben und weniger Frondienste leisten müssen. In Provinzen wie Galizien und Ungarn waren Bauern oft 3-4 Tage pro Woche im Dienst des Grundherrn (Robot genannt) tätig gewesen.

Der Staat nahm der Kirche alle Aufgaben bezüglich der Personenstandsführung ab. Man reduzierte die Anzahl der Feiertage und verbot Prozessionen und öffentliche Bekundungen. Alle rein kontemplativen Orden wurden verboten und aufgelöst. Besonders diese Maßnahmen führten 1782 in der belgischen Provinz, also in den so genannten Österreichischen Niederlanden, zu heftigem Widerstand. Er wurde mit Waffengewalt niedergeworfen. Nach Josephs Tod sah sich sein Bruder Leopold veranlasst, einen großen Teil der Maßnahmen Josephs rückgängig zu machen.

Ungarn, Galizien und Bukowina

Ungarn und das heutige Siebenbürgen wurden zwischen 1526 und 1674 von den Osmanen befreit. Der ungarische Adel wählte darauf die Habsburger zu ihrem König, war aber gleichzeitig bemüht, seine eigenen Rechte zu sichern. Im Gegensatz zu andern Landesteilen nahm der Adel weiterhin alle Verwaltungsaufgaben wahr, ohne damit Beamte zu beauftragen. Die Sympathie Maria Theresas gewannen die Ungarn, indem sie 1745 dabei halfen, die Einfälle der Bayern und Franzosen zurückzuschlagen.

Galizien hieß das Gebiet um die Städte Lemberg und Brody in der heutigen Ukraine. Es wurde anlässlich der Teilung Polens 1772 erworben. Das Gebiet war von polnischen Adeligen beherrscht. Die Bevölkerung bestand vorwiegend aus Ukrainern, damals Ruthenen genannt, und Juden. Die Bevölkerung setzte große Hoffnungen auf die österreichische Zentralverwaltung, die sich aber längst von dem Geist Josephs II. verabschiedet hatte.

Die Bukowina mit der Hauptstadt Czernowitz war recht dünn besiedelt und lockte daher deutsche Kolonisten an. Gregor von Rezzori (1914-1993), dem ein früherer Blog-Beitrag gewidmet war, stammte von dort. Weder Ungarn, Galizien noch die Bukowina waren Teil des Heiligen Römischen Reiches.

Kaiser Franz I. [1792-1835] und Ferdinand I. [1835-1848]

Franz I löste 1804 auf Drängen Napoléons das Heilige Römische Reich auf und nannte sich fortan Kaiser von Österreich. Er erließ 1811 das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB). Zusammen mit Kanzler Klemens von Metternich (1753-1859) war es sein Hauptbemühen sich gegen Reformen aller Art zu sperren. Sein Nachfolger Ferdinand l. galt als  entscheidungsarm. Das Reich verlor an Ausstrahlung und Macht, da sich die Zentralregierung kaum noch engagierte.

Statt der Regierung waren es jetzt einzelne reiche Adelige, vorwiegend in Böhmen und Niederösterreich, die in eine Modernisierung von Landwirtschaft und Industrie investierten. Private Firmen bauten die ersten Eisenbahnen, so 1824 die Strecke Linz-Budweis, 1839 Wien-Brünn und 1849 Wien-Laibach. Auf Drängen des Bankiers Rothschild und des Militärs wurde das Bahnsystem 1850 verstaatlicht.

Die aufblühende Industrie lockte Bürger vom Land in die Städte. So wuchs die Einwohnerzahl Wiens von 1817 bis 1848 von 226k auf 357k, die Prags von 65k auf 115k. Ähnliches passierte in Brünn und Budapest. In Triest entstand eine Schifffahrtslinie, Österreichischer Lloyd genannt, die das gesamte östliche Mittelmeer bediente. Es entstanden private Museen und Bibliotheken, Kaffeehäuser und Lesevereine, in denen auch Frauen zugelassen waren. Diese Zeit hat auch die Bezeichnung Biedermeier bekommen. Ein kapitalistischer Mittelstand machte sich breit, dem es politisch nur um die Bewahrung des Bestehenden ging. Die Schaffung eines neuen Ideals und einer neuen Gesellschaft war verpönt. Der Staat sah seine Aufgabe darin, für Ruhe und Sicherheit zu sorgen. Auf polizeiliche Kontrolle wurde höchster Wert gelegt.

Unruhen von 1848 und Kaiser Franz Joseph [1848-1916]

Die aufgestauten Reformen drängten 1848 zum Ausbruch. Angeregt von den Unruhen in Paris und anderswo kam es auch im Habsburger Reich zu mehreren ‚Revolutionen‘. Im März 1848 kam es in Wien zu Demonstrationen. Verlangt wurden mehr Rechte für die Bürger. Das Militär schoss in die Menge. Die Regierung zog schließlich das Militär ab und erlaubte die Bewaffnung der Bürger in Form einer Nationalgarde. Kanzler Metternich wurde abgesetzt und floh nach England. Es waren größtenteils Adelige gewesen, die sich gegen die ‚Kamarilla‘ am Hof auflehnten. Der Kaiser blieb vorerst verschont.

In Budapest verlangten Aufständische eine Verfassung, desgleichen in Linz, Graz, Prag, Mailand und Venedig. Der Kaiser versprach sie. In Galizien und anderswo wurde die Abschaffung der Fronarbeit verlangt. Im Juni 1848 besetzte das Militär, angeführt von Alfred von Windisch-Graetz (1787-1862), die Stadt Prag. Joseph Graf Radetzky (1766-1858) besiegte die italienischen Freischärler und eroberte Mailand zurück. Im Oktober zog Windisch-Graetz in Wien ein und ersetzte den schwachen Ferdinand durch dessen Neffen Franz Joseph. Dieser oktroyierte als Erstes eine neue Verfassung. Franz Joseph setzte Ende 1851 die von ihm erlassene Verfassung jedoch wieder außer Kraft. Erhalten blieb die Bauernbefreiung. Er führte die von Metternich aufgebaute Zensur wieder ein. Im Übrigen zeigte er sich als Befürworter der Aufklärung, indem er Denkmäler Maria Theresias und Josephs II. errichten ließ.

Österreichs Finanzlage war, gelinde gesagt, desaströs. Mit Schuld daran waren die lang andauernden Kämpfe gegen Piemont um die Lombardei sowie der Krimkrieg (1853-1856). Obwohl Österreich damals von direkten Kampfhandlungen verschont blieb, trieb Russland es zur vollen Aufrüstung und Mobilmachung. Schließlich wurde es von Preußen nach der Schlacht bei Königgrätz 1866 aus ganz Norddeutschland herausgedrängt.

Sich aufladende Spannungen

Obwohl auch andere Staaten wie England und Russland vor dem Problem standen, diverse nationale Minderheiten integrieren zu müssen, erwies sich dies als Österreichs Standardthema. Es war das Problem, an dem Staat und Reich schließlich zugrunde gingen.

Die ethnische Vielfalt des Reiches drückte sich in erster Linie in den aktuell gesprochenen Sprachen und Dialekten aus. Dabei muss geklärt werden, worin die Grenze liegt zwischen Dialekt und Sprache. Was ist, wenn jemand mehrere Sprachen gleich gut spricht? Außerdem stellt sich die Frage, was außer der Sprache eine Nationalität ausmacht. Da taucht dann immer der Begriff der Kultur auf. Eine gemeinsame Kultur setzt eine gleiche Geschichte und Religion voraus. Ist es sinnvoll von einer einheitlichen Kultur zu sprechen, auch wenn die Bildungsgrade sehr unterschiedlich sind? Über die Verbreitung der Sprachen innerhalb der k.u.k. Monarchie gab eine umfassende Ethnographie der österreichischen Monarchie von Karl Czoernig (1804-1889) Auskunft. Der tschechische Historiker Frantisek Palacky (1798-1876) schlug insgesamt acht nach Sprachen getrennte Regionen vor. Dabei waren Böhmen und das Sudetenland getrennt.

Das Verhältnis zwischen dem Kernland Österreich mit seiner vorwiegend deutsch-sprechenden Bevölkerung einerseits und dem Königreich Ungarn andererseits fand sehr früh zu einer Art von musterhafter Lösung. Sie bestand in der Erhebung Ungarns zu einem gleichberechtigten Partner in einer Doppelmonarchie. Aus Österreich wurde Österreich-Ungarn. Die Verbindung bestand primär in der Person und Familie des Herrschers. Jeder Teil hatte seine eigene Verfassung, sein eigenes Parlament. Gemeinsam waren Militär und Außenpolitik. Außerdem gab es gemeinsame Ausschüsse (Delegationen genannt) der Parlamente. Einen hohen Symbolwert erhielt die Krönung als ungarischer König in Budapest. Die Kaiserin Sissi kam dem 1853 mit offen gezeigtem Vergnügen entgegen. Anschließend lernte sie Ungarisch von ihren Hofdamen.

Mit den Maigesetzen von 1867 verfolgte Franz Joseph ähnliche Ziele wie Bismarck in Preußen. Er schloss ein Konkordat mit dem Papst, entzog jedoch den Kirchen die Familienstands- und Personenverwaltung. Viele der 1848er passten sich den Umständen an und landeten sogar in hohen Staatsämtern. Ein Beispiel war der zum Innenminister aufgestiegene Carl Giskra (1820-1879). Er lehnte die Beteiligung von Sozialisten an Österreichs Regierung kategorisch ab. ‚Österreich wird doch keine Pöbelherrschaft einführen‘ waren seine Worte. Kritischer ist das Zitat des Arztes und Politikers Adolf Fischhof (1816-1893): ‚Österreich hat ein stehendes Herr von Soldaten, ein kniendes von Anbetern, und ein kriechendes von Informanten‘. Ein Frauenwahlrecht war teilweise eingeführt worden, wurde aber wieder abgeschafft, so in Kärnten 1884 und der Steiermark 1904.

Nationale Ausgleichsbemühungen

Trotz erheblicher Schwierigkeiten gelang es der k.u.k-Verwaltung mit den wichtigsten Teilländern einen pragmatischen Ausgleich zu erreichen. Gegen Ende des 19. Jahrhundert stellte sich in allen Landesteilen das Sprach- bzw. Kulturproblem als immer wichtiger heraus. Überall wurden Schulvereine gegründet mit dem Ziel, den jeweils als unterdrückt geltenden Sprachen zu ihrem Recht zu verhelfen. Das konnte Deutsch sein, Italienisch, Rumänisch oder Slowenisch. Besonders von der in Ungarn betriebenen Ungarisierung (oder Magyarisierung) konnten Rumänen, Juden oder Deutsche nachteilig betroffen sein.

In Böhmen gelang es 1897 dem Minister Kasimir von Badeni (1846-1909), dass Tschechisch dem Deutschen gleichgesetzt wurde. Das betraf nicht nur die Schulen und Universiäten, sondern das gesamte öffentliche Leben, den Verkehr mit Behörden und das Angebot von Theatern und Bibliotheken. Nach demselben Muster erfolgte 1905 der Mährische Ausgleich, 1910 der für die  Bukowina und 1914 für Galizien. Im Jahre 1873 gab es eine Weltausstellung in Wien und einen Börsenkrach. In einem 4-bändigen Kronprinzenwerk stellte sich zwischen 1885-1907 die Monarchie in Wort und Bild dar. Überall im Land planten die Architekten Fellner & Helmer Theater und Konzertsäle. Fünfzig davon wurden errichtet.

Nach 1890 wurden sowohl in den Städten wie in der Landespolitik die bislang dominierenden Liberalen (Bankiers, Fabrikanten) nach und nach von Personengruppen aus dem gemeinen Volke (Arbeiter, Handwerker) verdrängt. Ab 1900 fanden Frauen immer häufiger eigene berufliche Möglichkeiten, zum Beispiel als Lehrerinnen und Postangestellte.

Weltkrieg 1914-1918

Der erste Weltkrieg wurde bekanntlich durch einen politisch motivierten Mord in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo ausgelöst. Im Jahre 2014 hatte ich dieses Thema bereits in diesem Blog behandelt. Bosnien war seit 1908 von Österreich besetzt. Erzherzog Franz Ferdinand sah in ihm den Kern eines zukünftigen südslawischen Staates. Der sich abzeichnende Krieg wurde von seltsamen Erwartungen begleitet. Der österreichische Adel, vertreten durch Franz Conrad von Hötzendorf (1852-1925), hoffte, dass wieder mehr Zucht und Ordnung einkehren würde. Die Sozialisten erhofften mehr Macht, die Nationalisten mehr Souveränität. Das Ergebnis waren 1,5 Mio. Gefallene und 3,6 Mio. Verwundete, allein auf österreichischer Seite.

Um die Lebensmittelversorgung zu sichern, wurden die Überwachungsmaßnahmen verstärkt und Sozialleistungen eingeschränkt. Das Militär setzte sich gegenüber der Zivilverwaltung durch. Es erhielten zwar mehr Frauen Jobs in der Wirtschaft, weil die Männer an der Front standen.

Sehr früh gingen Galizien und die Bukowina an Russland verloren. Heere von Flüchtlingen ergossen sich ins Kernland. Als Russland 1917 Frieden schloss, begann der Westen (USA, England) damit, Druck auf Österreich auszuüben, damit es seine Völkerschaften in die Freiheit entließe. Es kam zu Streiks in Graz, Szeged, Pula und anderswo. Schließlich brach die Front zusammen.

Implosion des Reiches

Im Oktober 1918 implodierte das Reich. Die Regionen übernahmen. In Prag, Zagreb, und Budapest bildeten sich neue Regierungen, die sich von Österreich unabhängig erklärten. Da Kaiser Franz Joseph bereits im November 1916 gestorben war, und sein Neffe Karl I. ihm gefolgt war, nahm dieser im November 1918 den Waffenstillstand an und trat zurück. Der Sozialist Karl Renner (1870-1950) wurde Staatskanzler und rief die Republik Österreich aus. Das unabhängige Ungarn wurde zunächst von Bela Kun (1886-1938) als Räterepublik geleitet. Er wurde von General Miklos Horthy (1868-1957) vertrieben, der sich Reichsverweser nannte. In Lemberg entstand die Westukrainische Republik. Diese begann sofort Krieg mit Polen. Es kam zu einen Pogrom, bei dem 73 Juden starben. Aus Böhmen, Mähren und der Slowakei schuf Tomas Masaryk (1850-1937) die Tschechoslowakische Republik (CSSR), die sich in unserer Zeit in die Staaten Tschechien und Slowakei aufteilte.

Es fand ein großer Austausch von Bewohnern statt. 540k Deutsche aus den ehemaligen Kronländern erhielten die österreichische Staatsangehörigkeit, 75k Juden dagegen nicht. Alle Nachfolger-Staaten des Habsburger Reiches waren ihrerseits Vielvölkerstaaten. Sie erbten die damit verbundenen Probleme. Karl I. starb im April 1922 auf Madeira.

Donnerstag, 17. Mai 2018

Krieg der Welten − 120 Jahre nach H. G. Wells

Das 1898 erschienene Buch Der Krieg der Welten von Herbert George Wells (1866-1946) gilt als ein Klassiker der Zukunftsromane. Eine Neuübersetzung erschien im Jahre 2017. Ich las sie dieser Tage mit großem Vergnügen. Der Plot ist schnell erzählt. Er regt allerdings zum Nachdenken an. Bekanntlich wurde das Buch 1938 von Orson Welles als Hörspiel in Form einer fiktiven Reportage des Radiosenders CBS ausgestrahlt, was zu heftigen Reaktionen in der Bevölkerung führte. Später gab es mehrere Verfilmungen.

Zeitraum und Umgebung der Geschehnisse

Die Handlung umfasst knapp zwei Wochen. Sie spielt im Westen und Süden von London. Die Hauptorte sind Woking, Byfleet, Weybridge und Leatherhead, aber auch Kensington und Wimbledon. Da die Verbreitung von Nachrichten auf Fernschreiben, Zeitungen und Zugreisende beschränkt war, wurde das Ereignis zunächst nur lokal beachtet. Je weiter weg, umso ungläubiger reagierten die Leute. Sie führten zunächst ihr gewohntes Leben fort. Am Schluss preist der Autor London als die ‚großartige Mutter aller Städte‘ und freut sich, dass sie überlebte.

Physikalische Grundlagen und Auslöser

Auf dem Planeten Mars werden an zehn aufeinanderfolgenden Tagen je eine Explosion in einem seiner Krater beobachtet. Einige Tage später zischten seltsame Meteoriten am Himmel und schlugen auf der Erde ein. Sie bildeten einen großen Einschlagtrichter, in dem ein großes zylinder-förmiges Geschoss mit Brandspuren zu erkennen war. Als es sich abgekühlt hat, entstiegen aus jedem Geschoss mehrere bärengroße unförmige Gestalten. Sie hatten weder Kinn noch Hals. Auffallend an ihnen waren große Augen, ein unförmiger Mund und eine Vielzahl von Tentakeln. Mit diesen konnten sie geschickter umgehen als wir mit unsern Fingern.

Es fehlte der bei irdischen Lebewesen abwärts der Schultern anzutreffende Körperteil vollkommen. Anstatt pflanzliche oder tierische Produkte zu zerkleinern und zu verdauen, ernährten sie sich nämlich von Blut [heute würde man Infusionen oder elektrische Ladungen sagen]. Mit andern Worten: Sie konnten auf Magen und Darm verzichten [also auf Chemie und Physik], dafür waren Gehirn und Hände weiter entwickelt als beim Menschen. Sie kommunizierten untereinander, auch ohne sich zu sehen [also per Telepathie oder Mikrowellen].


Marsianer in der Stadt

Im Vergleich zur Erde gilt der Mars als älter und früher erkaltet. Er hat weniger Masse und daher weniger Atmosphäre und Nahrungsquellen als die Erde. Seine Bewohner, im Buch Marsianer genannt, wissen dies und sehen die Erde als mögliche Kolonie an, auf der sie länger existieren könnten als auf dem Mars. Allerdings wiegen sie auf der Erde das Dreifache als auf ihrem Heimatplaneten, ihre Muskelkraft ist aber die gleiche. Sie können sich also nur mit Hilfsmitteln bewegen. Jeder der gelandeten Marsianer baute sich daher eine auf 10 Meter langen Spinnenbeinen ruhende Kampfmaschine. Räder gab es auf dem Mars keine [gab es auf der Erde auch nicht überall].

Waffen und taktische Vorgehensweise

Jeder Marsianer verfügte über einen handgroßen Parabolspiegel, mit dessen Hilfe er unsichtbare Blitze aussenden konnten [Laserstrahlen würden wir heute sagen]. Damit brachten sie Blei und Glas zum Schmelzen, verdampften Wasser und töteten Menschen und andere Lebewesen. Ferner verteilten sie tödliche Rauchschwaden [eine Art von Giftgas]. Mit ihrer Hilfe konnten sie einzelne Menschen oder Gruppen einschließen oder Flächen unbewohnbar machen.

Reaktion der Behörden und der Bevölkerung

Die englische Regierung schickte zuerst Husaren [also Kavallerie] vor Ort, danach Artillerie. Dieser gelang es einen der Marsianer beim Überqueren der Themse zu treffen. Er wurde von seinen Kollegen abtransportiert und die ganze Artillerie-Einheit mittels Giftgas ausradiert.

Als nach 10 Tagen alle Zylinder [sprich Raketen] im Umkreis von London gelandet waren und immer größere Landstriche in Beschlag genommen waren, breitete sich Panik aus. Die Bevölkerung der Stadt floh mit Kutschen, Pferdewagen oder Eisenbahnen in Richtung Norden. Andere, die es sich leisten konnten, flohen auf Schiffen in Richtung Holland und Frankreich. Es kam zu abscheulichen Szenen zwischen den Fliehenden.


Marsianer an der See

Die Angst und Verwirrung erreichten einen Höhepunkt, als die Marsianer damit begannen Fluggeräte zu bauen. Wohin soll man da noch fliehen?

Individuelle Reaktionen und Rettung

An zwei Romanfiguren veranschaulicht der Autor zwei extreme Reaktionsweisen von Menschen. Das eine ist ein Vikar, mit dem zusammen der Erzähler in einem eingestürzten Gebäude mehrere Tage lang gefangen war. Er sah die Ereignisse als Strafe Gottes an und isst und trinkt sich zu Tode. Eine andere Haltung vertritt ein Artillerist, der überlebt hatte. Der meinte, die Menschen sollen sich geschlagen geben und sich der fremden Macht unterwerfen. Sie könnten dann die Techniken der Marsianer lernen und selbst Kampfmaschinen bauen. Wenn sich genug Mutige fänden, könnte man die Marsianer irgendwann bezwingen.

Das Buch hat ein Happyend, und zwar ein ganz überraschendes. Wo immer die Marsianer waren, breitet sich anschließend eine Art von Efeu aus mit roten Blättern. Nach wenigen Tagen wird das rote Unkraut von Bakterien befallen und verdorrt. Unsere Erde ist nämlich voll von Mikroorganismen, die es auf dem Mars nicht gibt. Auch die gelandeten Marsianer werden von Bakterien befallen, gegen die sie keine Abwehrkräfte haben. In der zweiten Woche nach ihrer Landung sind alle getötet.

Nachgedanken und heutige Lehren

Wells kämpfte gegen Zeitgenossen an, die außerirdisches Leben für undenkbar hielten. Diese Meinung wird auch heute noch vielfach vertreten. Sollte es fremdes Leben doch geben, wie würden wir heute auf eine Begegnung reagieren? Es ist mein Eindruck, dass wir Menschen im Nachdenken nicht viel weiter gekommen sind als einst H. G. Wells. Wir haben alle Mond- und Marsbrocken, die zur Erde gelangten, einer Quarantäne unterzogen. Unsere Weltraumboten, etwa die beiden Voyager-Sonden, sind so gut immunisiert, wie wir dies können. Die Frage ist, ob dies reicht.

Freitag, 11. Mai 2018

Erkläre uns bitte die Welt, Opa! (von Peter Hiemann)

Auf meinen Freund und Ex-Kollegen Peter Hiemann ist immer Verlass. Nach Beiträgen im Juli 2016 und Dezember 2016 hatte er sein letztes Essay zum Jahreswechsel 2017/2018 zur Verfügung gestellt. Überschrieben war es mit ‚Einsicht ins Ich‘ und umfasste 99 Seiten. Sein neuestes Essay ist kürzer. Es umfasst nur zehn Seiten. Es ist überschrieben mit ‚Eine Interpretation der Welt des 21. Jahrhunderts‘.

Auch dieses Mal richtet er sich wohl unbewusst auch an seine Enkel. Bei vielen meiner Beiträge ist es jedenfalls so. Hiemann will aber nicht nur den nachfolgenden Generationen helfen, die Welt besser zu verstehen. Wir alle können davon profitieren zu erfahren, warum das aktuelle Geschehen so verwirrend erscheint und warum es so wichtig ist, zu berücksichtigen, wer was sagt. Damit schließt er sich natürlich selbst mit ein. Jeder ist geprägt von seiner Erfahrung, seiner Sozialisation. Er warnt vor Leuten, die glauben, eine ‚heile‘ Welt zu bauen oder sie nur herbeiwünschen. Augen auf für China und BlackRock!

Klicken Sie bitte  hier. Ich wünsche viel Spaß und Nachdenken beim Lesen.

Mittwoch, 9. Mai 2018

Karl Marx und die Digitalisierung

Am 5. Mai 1818, also vor 200 Jahren, wurde Karl Marx geboren. Alle Zeitungen sind derzeit voll von ihm. Mario Adorf durfte ihn im Fernsehen spielen. Als sein Trierer Landsmann habe ich meine eigene Sicht auf ihn. Sie mag etwas aus der Reihe fallen. Viele der aktuellen Veröffentlichungen fragen sich, was ein Denker von der Qualität eines Karl Marx wohl zum heutigen Hauptthema zu sagen gehabt hätte. Vielleicht hätte er uns erklärt, wie wir mit der Digitalisierung umgehen sollten. Die Not scheint wirklich groß zu sein. Möge uns doch der Himmel endlich einen Erleuchteten herabregnen. So lautet mein Stoßgebet.  

Biografisches     

Karl Marx wurde anfangs der Preußenzeit in Trier in eine von jüdischen Rabbinern abstammende Familie geboren, die zum Christentum konvertierte. Er absolvierte ein Studium von Jura und Philosophie in Bonn. Er wurde in Jena in Abwesenheit mit einer Arbeit über alt-griechische Philosophie promoviert. Er exponierte sich als Redakteur einer liberalen Zeitung in Köln, musste sich aber 1843 vor der preußischen Obrigkeit in Sicherheit bringen. Er ging mit der Familie (inkl. deutscher Dienstmagd) nach Paris und anschließend nach Brüssel. Der Wuppertaler Fabrikantensohn Friedrich Engels, den er aus seiner Studienzeit kannte, besuchte ihn dort mehrmals und inspirierte ihn zum Schreiben. Im Revolutionsjahr 1848 erschien in Brüssel das ‚Kommunistische Manifest‘, eine von ihm und Engels gemeinsam verfasste Streitschrift. 

Er kam kurz zurück nach Köln, floh jedoch wieder nach Paris, und endete schließlich in London. Er überlebte mühsam in Soho und sah das dortige Elend. Sein Freund Engels unterstützte ihn finanziell. In seiner Londoner Zeit erschien 1867 sein Hauptwerk. Es heißt Das Kapital, umfasst über 800 Seiten und sollte der erste Band eines mehrbändigen Werks werden. Vier seiner Kinder starben früh. Marx starb mit 64 Jahren relativ vereinsamt und liegt neben seiner Frau in London begraben. Drei Töchter überlebten ihn.    

Ausgelöste Bewegungen  

Während Marx und Engels den internationalen Charakter der kommunistischen Bewegung hervorhoben, gab es sehr bald in England, Frankreich und Deutschland kommunistische Parteien. Marx wollte jedoch mit ihnen nichts zu tun haben. Die folgten nämlich nicht seiner Theorie. Noch schlimmer waren die Sozialisten, die glaubten ganz ohne Revolution auszukommen. Später haben Lenin und Mao sich auf seine Lehre berufen, gingen aber völlig andere Wege. Die Lehre von Marx hat seine Adepten darin bestärkt, mit Gewalt eine Veränderung der Gesellschaft herbeizuführen. Er hat seine Leser in die Irre geführt, indem er vorhersagte, dass der Kapitalismus sich selbst zerstören würde.  

Wie wir wissen, kam es ganz anders. Der Kapitalismus passte sich an und bewies, dass er als Wirtschaftssystem dem Kommunismus haushoch überlegen ist. Seine dezentrale Planung kann Fehler vermeiden, an denen jede zentrale Planung hängen bleibt. Vor allem gibt der Kapitalismus vielen Menschen ein Gefühl von Freiheit. Sie dürfen selber planen und Dinge tun, die sie interessieren. Manchmal lässt sich sogar davon leben. Es ist eine bewusste Täuschung zu behaupten, dass mindestens die Hälfte der Menschheit nur dadurch überleben kann, dass sie ihre Muskelkraft anderen Menschen zur Verfügung stellt. Auf diesen gravierenden Beobachtungsfehler fallen auch heute noch viele Ökonomen und Gewerkschaftler herein.  

Meine Sicht des Wirtschaftens  

Kein Mensch ist verpflichtet, andere Menschen zu beschäftigen. Auch nicht die bösen Kapitalisten, selbst wenn sie in Geld schwimmen. Wer sein Vermögen schützt oder vermehrt, ohne andere Menschen auszunutzen oder zu übervorteilen, darf dies tun. Niemand sollte gezwungen sein, Almosen zu verteilen. Es ist aber gut, wenn Vermögende es tun. Vor allem aber müssen sie sich an den Aufgaben der Gemeinschaft (Katastrophenschutz, Verbrechensbekämpfung, Landesverteidigung und dgl.) beteiligen. Einzelne können reicher werden, ohne dass dafür andere etwas abgeben müssen. Der zur Verteilung anstehende wirtschaftliche Kuchen kann insgesamt anwachsen. Das scheint für viele Leute, z. B. für Sozialdemokraten und Gewerkschaften, undenkbar zu sein.

Kein Mensch muss arbeiten, erst recht nicht für andere Menschen. Niemand muss seine Arbeitskraft jemandem opfern, um zu überleben. Jeder Mensch muss sich jedoch ernähren. Das tun Jäger, Fischer und Sammler (oder Tahitianer), indem sie sich in der Natur bedienen. Bauern tun es, indem sie ein Feld oder einen Garten bearbeiten. Niemand sollte daran gehindert werden, sich selbst zu versorgen. Wieweit Fensterbänke oder Dachgärten hierfür ausreichen, sollte alsbald geklärt werden. Man darf auch betteln gehen (wie die buddhistischen Mönche), oder eine (Gratis-) Tafel besuchen. Wer stattdessen ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert (wie der zurzeit sehr bekannte Philosoph Richard David Precht), soll auch sagen, wer die dafür erforderlichen Summen aufbringen müsste. Das wird meist unterschlagen. Vielleicht denkt man an die Schöpfung von Kaufkraft per Bitcoins.

Nochmals Digitalisierung, diesmal aus Marxscher Sicht

Das Gespenst der Digitalisierung geht um. So modifizierte mein Kollege Hartmut Wedekind den ersten Satz des Kommunistischen Manifest in seinem Blog-Beitrag mit dem Titel Marx heute. Er schließt nicht aus, dass demnächst die Betroffenen unsere Digitalsysteme stürmen und demolieren werden. Wer wie die Marxisten glaubt, dass die Wirtschaft vorwiegend wegen der abhängig-beschäftigten Lohnarbeiter existiert, muss sich Sorgen machen über das Wegfallen toller von Unternehmern bisher nicht selbst wahrgenommener Aufgaben. Das beginnt mit dem Baumfällen, setzt sich fort in chemischen Fabriken, die Faservlies produzieren, dem Transport großer Rollen zu Druckereien, dem Bedrucken von Papier mit variablen Metallstücken (Typen genannt), der Belieferung von Buchläden per Lastwagen, usw. Dank des technischen Fortschritts, hier Digitalisierung genannt, können dutzendweise Arbeiten entfallen, die ein Unternehmer ohne Lohnarbeiten vergeben zu müssen, einfach ignorieren kann. Dies erweist sich für die Jünger von Karl Marx als unverkraftbar und darf daher nicht vorkommen.

Bekanntlich haben die ehemaligen Heizer auf Dampfloks es in einigen Ländern geschafft, auch auf E-Loks mitfahren zu dürfen. Da auch jetzt nach der gleichen Logik verfahren werden könnte, muss man den starken Arm zeigen. Büchermacher aller Länder vereinigt euch. So würde ich den Schluss des Kommunistischen Manifests verändern, wollte ich mich in die Marxsche Denkweise versetzen. Gemeint sind hier natürlich Setzer, Binder und Händler, nicht die Autoren. Nicht der kreative Originator zählt, sondern die Handlanger und die Abstauber. Ich habe Büchermacher gesagt, weil das Wort Buchmacher nicht ganz passt. Buchmacher leben nämlich davon, dass sie anderen Leuten Wetten verkaufen. Das ist Kapitalismus der schlimmsten Art.

Digitalisierung in Zahlen  

Die Digitalisierung begann vor etwa 50 Jahren und steigert sich gerade in die Phase einer Massenanwendung. Ihr Potential wird von immer mehr Menschen erkannt. Auch einige Warner sind plötzlich aufgewacht. 
                 
                
              Ausgewählte Zahlen   
 
Wie jeder Fachmann weiß, ist der technische Fortschritt bestimmend für unser Fachgebiet, die Informatik. Fortschritt lässt sich meist gut in Zahlen darstellen. In unserem Fach kommt man nicht umhin Werte zu verwenden, die sich über mehrere Größenordnungen verändern. So habe ich selbst erlebt, dass die Speicherkapazität von der Lochkarte bis hin zur SD-Karte (mit 2 Terabyte) um den Faktor von 25 Milliarden gewachsen ist. Diese Vervielfachung hat die meisten Menschen erst in den letzten 30 Jahren erreicht. In der obigen Tabelle habe ich das Jahr 2038 abgeschätzt, indem ich zuerst einen Vergleich der Jahre 1998 und 2018 vornahm. Dazu benutzte ich öffentlich zugängliche Datenquellen. Zitiert sind marktübliche Endnutzerpreise. Für die Netzübertragung habe ich den neuesten in Schweden angebotenen Preis (30 Euro für 10 Gigabit/Sekunde/Monat) gewählt.    

Für die beiden letzten Zeilen muss man wissen, dass die Bevölkerung Deutschlands mit 80 Millionen nahezu konstant blieb. Die Weltbevölkerung ist weiterhin steigend, und zwar mit den folgenden Werten: 1998: 5 Mrd., 2018: 7 Mrd., 2038: 11 Mrd. Außerdem ist angenommen, dass die Medienkapazität von 2 Terabyte, über die jeder Internet-Nutzer heute verfügt, sich im Laufe der nächsten 20 Jahre verzehnfachen wird.    

Neue Schreckensmeldungen    

Der SPIEGEL hat in Heft 19/2018 mal wieder einige Leute zu Wort kommen lassen, die die Digitalisierung in Grund und Boden verteufeln. Sie potenziere die Ausbeutung und Ungleichheit der Menschen, sie führe zum Anhäufen von Vermögen, sie mache es leichter den Einzelnen durch Roboter und Algorithmen zu ersetzen, sie mache ihn manipulierbar und ausnutzbar. Ich erspare es mir, die Leute namentlich zu benennen, die dies von sich gaben. Sie haben es nicht verdient.  

Der Haus-Philosoph des SPIEGEL hat sogar einen Hoffnungsschimmer entdeckt. Vielleicht sei es gar nicht so schlimm, wenn Robbies die körperliche Arbeit übernehmen, die im alten Griechenland ohnehin Frauen und Sklaven machten. Das erlaubte es Männern damals sich in Cafés zu treffen und Philosophie zu betreiben. Die Schlussfolgerung der SPIEGEL-Redaktion lautet: Wir brauchen neue Geschichten, um den bevorstehenden Wandel zu erklären und vorzubereiten. Ich möchte hinzufügen, dass dies bessere Geschichten sein müssen, als die Karl Marx erzählte oder die seine Adepten bis heute nachbeten.

Samstag, 5. Mai 2018

Liberale und konservative Politik frei nach Carsten Linnemann

Carsten Linnemann (* 1977) ist ein Politiker der jüngeren Generation und promovierter Volkswirt. Er ist Vorsitzender der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der CDU/CSU und Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Bei den Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017 gewann er das Direktmandat im Wahlkreis Paderborn mit einem Spitzenergebnis. In einem Buch mit dem Titel Die machen eh, was sie wollen (2017, 168 S.) gibt er Antworten zu den Fragen, die ihm häufig von Wählern gestellt wurden. Da sie sich wohltuend von dem abheben, was sozialistische oder nationalistische Zeitgenossen bekunden, soll hier eine Auswahl wiedergegeben werden.

Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung

Die durch unser Grundgesetz festgelegte Gesellschaftsordnung ist die repräsentative Demokratie. Dass diese Form gewählt wurde hängt mit der Geschichte unseres Landes zusammen und mit seiner Größe. Kleinere Länder, wie etwa die Schweiz, haben mehr Elemente einer direkten Demokratie als wir. Auf kommunaler und regionaler Ebene ist dies auch bei uns möglich und erstrebenswert.

Unsere Wirtschaftsordnung basiert auf dem Ordo-Liberalismus. Dieser wurde in den 1930er Jahren von Walter Eucken gelehrt und ist auch als Freiburger Schule bekannt. Von Ludwig Erhardt wurde er in die deutsche Politik eingeführt und als soziale Marktwirtschaft bezeichnet und beworben. Seine konstituierenden Prinzipien sind offene Märkte mit frei ausgehandelten Preisen, Privateigentum, Vertragsfreiheit, persönliche und unternehmerische Haftung sowie ein stabiler und verlässlicher staatlicher Rahmen.

Der Staat darf sich zwar wirtschaftlich engagieren, soll sich aber zurückhalten. Wieweit er korrigierend eingreifen muss, ist umstritten. Oft wird der Ordo-Liberalismus als Neo-Liberalismus verhöhnt. Das beruht meist auf einer Verwechslung mit dem Monetarismus, auch als Chicago-Schule bekannt.

Europäische Union und Euro

Die nationale Politik tut gut daran, die EU als Realität und Chance zu akzeptieren. Es gibt viele Dinge, die sie besser kann als ein Nationalstaat. Ein Beispiel ist die Auseinandersetzung mit international aktiven Monopolisten wie Google und Facebook. Die EU und der Euro haben auch Schwächen, die ausgebügelt werden müssen. Die einzelnen Länder treiben zurzeit eher auseinander als dass sie zusammenwachsen. So gibt es Dissensen mit Ungarn und Polen wegen ihrer Flüchtlingspolitik und wegen Verfassungsfragen. Die Europäische Zentralbank (EZB) versucht den Südländern Krediterleichterungen zu verschaffen, die zu Lasten der Nordländer gehen. Es fehlt auch eine Insolvenzordnung für Euroländer. Der Weg vorwärts mag zwar schwierig erscheinen, ein Zurück ist jedoch wenig sinnvoll. Der Brexit möge eine Ausnahme bleiben. Eine Warnung ist er auf jeden Fall.

Migranten und Flüchtlinge

Im Jahre 2015 hat eine Flüchtlingswelle von Afrika und Asien ganz Europa erschüttert. Nach geltendem Recht hatten 60-70% der Zugereisten keinen Anspruch auf einen Bleibestatus. Es waren dies Migranten, die ein besseres Leben suchten, aber keine Flüchtlinge, die einer Bedrohung entkommen waren und daher Schutz benötigten. Diese Gruppe von Menschen schafft uns das Problem, dass wir nur einen Teil zur freiwilligen Rückreise bewegen können. Die illegal Eingewanderten abzuschieben, ist fast immer mit Schwierigkeiten verbunden.

Es war eine Illusion anzunehmen, dass durch Flüchtlinge oder Migranten sich der Mangel an Fachkräften entspannen könnte. Dafür werden ganz andere Personengruppen benötigt. Um diese müssen wir gezielt werben.

Energiewende und Digitalisierung

Im Vergleich zu andern Ländern Europas ist bei uns die Energiewende besonders radikal. Mit dem Ausstieg aus den fossilen Energiequellen verbinden wir den Ausstieg aus der Kernenergie. Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) haben wir nicht nur das Preissystem des Strommarkts zerstört, wir machten uns auch von volatilen Stromquellen abhängig, die keine sichere Versorgung auf lange Sicht darstellen. Nicht nur der Verkehr, auch die Weiterentwicklung unserer Industrie verlangen eine wettbewerbsfähige und stabile Stromversorgung. Auch hier hat eine europäische Lösung bessere Chancen als rein nationale Bemühungen.

Bei der Frage der Digitalisierung räumt Linnemann ein, dass wir in Deutschland diesem Thema wegen Euro, Flüchtlingen und Energiewende zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Heute hänge Deutschland zurück, was den Ausbau eines Gigabit-Glasfasernetzes betrifft. In vielen Gesprächen mit Mittelständlern spiele dieses Thema eine Rolle. Einem Juwelier, der fragte, ob er auch davon betroffen sei, sagte Linnemann, er solle sich beraten lassen. Was ich dem Juwelier (und jedem Mittelständler) sagen würde, ist Folgendes: Er muss dafür sorgen, dass sein Angebot einzigartig wird und dass es im Netz bekannt wird. Dort muss er sehr schnell und verlässlich liefern und ein einfaches Abrechnungssystem zur Verfügung stellen. Mit anderen Worten. Er muss die ‚Amazonisierung‘ des Marktes akzeptieren, falls er nicht untergehen will.

Renten und Sozialstaat

Politiker müssen heute die Altersgruppe der Rentner besonders ernst nehmen. Diese stellen derzeit 40% der Wähler dar, mit steigender Tendenz. Das heißt aber nicht, dass sie Rentner bevorzugen müssen, und zwar zu Lasten jüngerer Menschen. Rentner haben dafür Verständnis. Es muss ihnen aber erklärt werden.

Das generelle Vorziehen des Renteneintrittsalters von 65 auf 63 sieht Linnemann als Fehler an. Er kenne keinen einzigen Dachdecker, der mit 64 Jahren noch seinen Beruf ausübte, aber mehrere Senioren, die an Marathonläufen teilnahmen. Deshalb habe er für eine Flexibilisierung gekämpft und auch durchgesetzt. Die so genannte ‚Schweigende Mitte‘ ist es, die wenig politische Forderungen stelle. Wenn sie es doch tut, dann fordert sie eine Reduzierung der Sozialabgaben. Linnemann hält nichts von einer Alters- und Krankenversicherung aus einem Topf. Er fände es aber gut, wenn der Staat Rückstellungen bilden würde für Beamtenpensionen und diese nicht der nachfolgenden Generation von Steuerzahlern aufbürden würde. Mit Wolfgang Clement, einem früheren SPD-Politiker, ist er sich einig: ‚Alle rufen nach dem Staat, ... selbst die Gewerkschaften‘. Für Konservative und Liberale soll der Staat mehr Schiedsrichter als Mitspieler sein. Als Alleinunterhalter ist er unerwünscht.

Politische Teilnahme und Demokratie-Stil

Nicht nur Politiker hätten einen Reputationsverlust erlitten. Genauso betroffen seien  Manager, Journalisten und Gewerkschaftler. Das Phänomen existiere aber nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und den USA. Es artikuliere sich oft als Kampf gegen das Establishment. Dass Abgeordnete als ‚die da oben‘ bezeichnet werden, sei nichts Neues. Das habe ihm der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert gesagt, der über 30 Jahre im Parlament war.

Leider sind rund 40 % der Abgeordneten des deutschen Bundestages Juristen, Politologen und Soziologen. Es fehlten Selbständige und Ingenieure. Bezüglich der Frage, ob es Volksabstimmungen auf Bundesebene geben sollte, ist er derselben Meinung wie die Väter und Mütter des Grundgesetzes. Sie hatten Angst vor und schlechte Erfahrungen mit Demagogen und Manipulatoren.

Für politische Bildung mehr zu tun, ist zweifellos sinnvoll. Ob dazu gehört, dass Zeitungslesen als Schulfach eingeführt wird, wie dies Renate Köcher vorschlägt, ist sehr fraglich. Eine große Koalition (Groko) fördert das Gefühl der Alternativlosigkeit. Das hilft der AfD. Politiker könnten sich ruhig etwas zurücknehmen. Sie dürfen eingestehen, dass sie nicht alles wissen. Sie sollten daher Gesetze mit Verfallsdatum vorsehen. Sie sollten nichts schönreden, aber auch nicht schwarzmalen. Von Franz-Josef Strauß stamme der Satz: ‘Ein Politiker muss dem Volk aufs Maul schauen, aber er darf ihm nicht nach dem Mund reden‘.

PS. Wer sagt, die CDU sei nichts als ein Kanzlerwahlverein, der hört vermutlich nicht genug hin.