Freitag, 7. Februar 2014

Über den Ausbruch des Weltkriegs im Jahre 1914

Vor 100 Jahren begann der erste Weltkrieg. Er hat Europa, ja die Welt verändert. Was zu seinem Ausbruch führte, wird von Historikern, Politikern und vielen andern Personen seither heftig diskutiert. Eng damit verbunden ist die Schuldfrage. Die Antwort, die der Versailler Vertrag dazu gab, verwies einzig und allein auf Deutschland. Außer Adolf Hitler waren auch viele andere Menschen mit dieser Antwort nicht glücklich.

Aus der zeitlichen Distanz von 100 Jahren befasst sich der australische Historiker Christopher Clark (Jahrgang 1960) erneut mit der Frage, wie es zu diesem Krieg kam. Die Schuldfrage beantwortet er jedoch nicht. Seine Schlussfolgerung klingt fast wie ein später Freispruch. ‚Die Quellen lassen keinen Bösewicht erkennen. Der Kriegsausbruch war eher eine Tragödie als ein Verbrechen.‘ Er war auch nicht unausweichlich oder alternativlos  ̶  wie man heute sagt. Mögliche Optionen in Richtung Frieden wurden nicht genutzt. Clarks im September 2013 erschienenes Buch trägt daher den Titel Die Schlafwandler. Dass es 898 Seiten umfasst, ist nicht so schlimm wie es aussieht. Die Länge kommt zum Teil von den 1702 Fußnoten, die ein Laie überspringen darf. Ich kann jedem historisch Interessierten das Buch empfehlen. Ich will nicht versuchen seinen Inhalt wiederzugeben. Stattdessen konzentriere ich mich auf einige Fakten. die ich dazugelernt habe. Obwohl ich selbst kein Historiker bin  ̶  oder gerade deshalb  ̶  drängen sich Vergleiche mit der heutigen Situation auf.

Österreich-Ungarische Monarchie

In Solferino (1859) und Königgrätz (1866) hatte Österreich zwei militärische Niederlagen erlitten, die seinen Schwerpunkt in Richtung Osteuropa verschoben. Es entstand ein etwas seltsames Staatsgebilde. Der Vergleich mit einem Ei mit zwei Dottern wurde benutzt. Österreich-Ungarn war eine Doppelmonarchie mit zwei Parlamenten und elf Nationalitäten. Jeder Landesteil war in sich ein Vielvölkerstaat. Während in der östlichen Landeshälfte eine bewusst betriebene Magyarisierung für ethnische Spannungen sorgte, versuchte man im westlichen Teil, auch Cisleithanien genannt, durch großzügiges Entgegenkommen diesem Problem aus dem Wege zu gehen. Im Wiener Parlament waren alle Sprachen zugelassen, ohne dass jedoch Dolmetscher angeboten wurden.

Das Land erfuhr nach 1880 einen wirtschaftlichen Aufschwung, wobei das hohe Alter des Kaisers Franz Joseph (zuletzt über 80 Jahre) stabilisierend wirkte. Anders gesagt, vom Kaiser gingen keine Anstöße aus, um notwendige Reformen einzuleiten. In dieser Hinsicht lagen alle Hoffnungen bei seinem Neffen, dem zum Thronfolger ernannten Erzherzog Franz Ferdinand. Insbesondere wurde diesem nachgesagt, dass er die Ungarn zurückstutzen wollte und aus den (zu Ungarn gehörenden) Landesteilen Slawonien, Kroatien und Bosnien ein Königreich unter kroatischer Führung schaffen wolle. Mit der Friedenspolitik, die er Serbien gegenüber betrieb, geriet er in Gegensatz zu dem Chef des österreichischen Generalstabs, Conrad von Hötzendorf. Dieser forderte seit 1907 einen Präventivkrieg gegen Serbien. Die Ermordung Franz Ferdinands während eines Besuchs in Bosnien rief natürlich die Falken auf den Plan, was zu dem Krieg führte, vor dem Franz Ferdinand gewarnt hatte.

Serbien und der Balkan

Die Loslösung Serbiens und der übrigen Balkanstaaten vom Joch des Osmanischen Reiches begann mit der Eroberung Belgrads durch Prinz Eugen im Jahre 1717. Der serbische Staat hatte 1878 auf dem Berliner Kongress seine Unabhängigkeit erhalten und sich 1882 als Königreich etabliert. Das Land hat keine großen Städte, keine Industrie und keinen Mittelstand. Die vorwiegend kleinbäuerliche Bevölkerung besaß nur wenige Aufstiegsmöglichkeiten, außer beim Militär.

Im Juni 1903 fiel das serbische Königspaar einer Offiziersverschwörung um Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, zum Opfer. Dieselbe Untergrund-Organisation blieb als Geheimbund ‚Schwarze Hand‘ bestehen, wobei Apis zum Chef des militärischen Geheimdienstes aufrückte. Als Österreich 1908 Bosnien annektierte, löste dies den Zorn derjenigen Serben aus, die von einem Großserbien in den Grenzen von 1389 träumten. In der berühmten Schlacht auf dem Amselfelde (am 23.6.1389) hatte das mittelalterliche Serbien seine Unabhängigkeit an die Osmanen verloren. Der Geheimbund ‚Schwarze Hand‘ verübte 1910 einen Anschlag auf den Gouverneur Bosniens, wobei der Attentäter (Bogdan Žerajić) durch Selbstmord ums Leben kam. Er galt den bosnischen Serben fortan als Held.


Im Jahre 1911 griff Italien die Osmanen in Libyen an, wozu es von England und Frankreich ermuntert wurde. Es war dies der erste militärische Einsatz von Flugzeugen und Luftschiffen. Zeitgleich mit den italienisch-türkischen Friedensverhandlungen im Jahre 1912 begann der erste Balkankrieg. Bulgaren, Griechen, Rumänen und Serben vertrieben die Türken aus Albanien, Mazedonien und Thrakien. In dem unmittelbar darauf folgenden zweiten Balkankrieg gingen drei der vorherigen Verbündeten gegen Bulgarien vor. Das Ergebnis spiegelt sich ungefähr in der heutigen Landkarte des Balkans wieder. Serbien hat dabei sein Staatsgebiet fast verdoppelt. Vor allem erhielt es das von Albanern bewohnte Kosovo (auf Deutsch Amselfeld). Die regulären Truppen Serbiens wurden von zahlreichen Freischärlern unterstützt. Besonders im heutigen Mazedonien soll es zu Gräueltaten gekommen sein.

Das Militär Serbiens und der Geheimbund Schwarze Hand forderten vehement die Wiederherstellung Großserbiens, eine auch als Irredentismus bekannte Bewegung. Sie betrieben die Auflösung Österreich-Ungarns. Die Regierung (unter Nikola Păsić) hielt sich zurück. Nachdem der geplante Besuch des österreichischen Erzherzogs in Sarajewo (am 23.6.1914) bekannt geworden war, schickte die Schwarze Hand sieben mit Pistolen, Sprengladungen und Zyankali-Ampullen ausgerüstete junge Männer dorthin. Einer warf die Sprengladung auf den Begleitwagen des Erzherzogs. Ein zweiter (Gavrilo Princip) konnte Stunden später den Erzherzog und seine Frau aus nächster Nähe erschießen. Sechs von den sieben Selbstmord-Kandidaten und einige der Hintermänner konnten von der Polizei gefasst werden. Sie alle wurden in einem Prozess zum Tode verurteilt, ohne dass sie ihre Hintermänner verrieten.


Die serbische Regierung leugnete ihre Mitwisserschaft, obwohl sie vor dem Attentat versucht hatte, Wien zu warnen. Sie hatte sogar die Offiziere vor dem Attentat zu stoppen versucht, was ihr aber nicht gelang. In einem 48-Stunden-Ultimatum forderte Wien Mitarbeit bei der Aufklärung und eine Distanzierung von irredentistischen Bestrebungen. (Der Autor weist daraufhin, dass das NATO-Ultimatum an Serbien von 1999 wesentlich härtere Forderungen enthielt). Als die serbische Regierung dies mit geschickten Formulierungen ablehnte, befahl der greise Kaiser Franz Joseph am 28.7. die Mobilmachung verbunden mit einer Kriegserklärung an Serbien. Noch am gleichen Tage sprengten die Serben eine Save-Brücke, während österreichische Kanonenboote das Feuer eröffneten.

Russische Monarchie

Die serbischen Politiker waren fest davon überzeugt, dass Russland Serbien helfen würde, sollte es angegriffen werden. Damit lagen sie richtig. Das Interesse des Zaren hatte lange Zeit der russischen Expansion in Asien gegolten. Durch die Niederlagen im Krieg mit Japan musste er zurückstecken. Auch mit England kam es zum Ausgleich, was die Interessensphäre im Raum Persien und Afghanistan betraf. Sowohl Bulgarien wie auch Serbien waren von Interesse, wenn es darum ging die Türkei und Österreich in Schach zu halten. Schon lange liebäugelte Russland mit einem Zugang zu den Dardanellen. Mehr als ein Drittel seiner Exporte benutzte diesen Weg.

Russland wurde von Frankreich (zuletzt bei einem Besuch des französischen Präsidenten Poincaré in St. Petersburg Ende Juli 1914) dazu aufgefordert, sowohl Österreich wie Deutschland gegenüber eine Position der Härte einzunehmen. Beide gingen davon aus, dass Österreich in seiner Politik stark von Deutschland beeinflusst würde. So kam es, dass Russland zeitgleich mit Österreich, also am 28.7. die Mobilmachung verkündete. Angeblich soll es zuerst nur eine Teilmobilmachung für die Front in Galizien gewesen sein. Da dies von den Militärs als technisch nicht durchführbar erklärt wurde, erfolgte zwei Tage später die Generalmobilmachung. Damit knüpfte Russland sein Schicksal an das von Serbien.

Deutsches Kaiserreich

Das von Österreich losgelöste zweite deutsche Kaiserreich war aus dem Krieg 1870/71 mit Frankreich hervorgegangen (Proklamation im Spiegelsaal von Schloss Versailles). Wohlwissend, dass ein erstarktes und vereintes Deutschland von den Nachbarn kritisch gesehen wird, bemühte Bismarck sich erfolgreich um eine Politik des Ausgleichs. Nach seinem Abgang, vor allem aber unter Kaiser Wilhelm II., geriet Deutschland in Isolation. Es kam zwischen 1887 und 1907 zu einer Polarisierung Europas. Der Dreibund bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien sah sich einer Triple Entente gegenüber bestehend aus England, Frankreich und Russland. Der Balance willen hatte Bismarck sich aus dem kolonialen Wettrennen heraus gehalten. Wilhelm II. kollidierte in Marokko mit Frankreichs Interessen und in Südafrika mit England. Vor allem der Aufbau einer Hochsee-Flotte berührte Englands Position. Außerdem stieg Deutschlands Anteil am Welthandel rapide.

Nach der Besetzung Ägyptens durch England wurde Deutschland in Istanbul geradezu hofiert. Der vereinbarte Bau einer Bahnstrecke bis an den Persischen Golf ließ England um mögliche Erdöl-Konzessionen im Irak fürchten. Auf die Spitze getrieben wurde die vermutete Gefahr durch eine 40 Offiziere umfassende deutsche Militärmission in Istanbul, ein Thema, das Wilhelm II. seinen beiden Vettern George (Georg V. von England) und Nicky (Nikolaus II. von Russland) im Mai 1914 bei einer Familienfeier in Hannover (Hochzeit seiner Tochter) ansprach. Beide zeigten sich kühl und reserviert (engl, ‚not amused‘).

Im Streit mit Serbien glaubte die deutsche Diplomatie, dass ein möglicher Konflikt lokal gehalten werden könnte. Kaiser Wilhelm II, selbst war bis zuletzt optimistisch und versuchte beim russischen Zar zu intervenieren, als er von dessen Mobilmachung erfuhr. Er glaubte, Russland sei nicht kriegsbereit. Außerdem könne er sich den Zar nicht an der Seite von Prinzenmördern vorstellen. Sowohl der Zar wie die eigenen Militärs gaben Wilhelm zu verstehen, dass es bereits zu spät sei. Deshalb erklärte er am 1.8. Russland den Krieg.

Französische Republik

Der Verlust Elsass-Lothringens ließ Frankreichs Politiker auf Rache sinnen. Sie lösten alle potentiellen Konflikte mit England, was die Kolonien betraf. Vor allem Raymond Pointcaré (1860-1934), der ab 1913 Staatspräsident wurde, bemühte sich um Russland. Er riet Russland zum Ausbau strategisch wichtiger Eisenbahnstrecken und zur Verstärkung des stehenden Heeres. Den Sarajewo-Mord erklärte er zu einer österreichischen Erfindung.

Vereinigtes Königreich (England)

Im Jahre 1907 einigten sich England und Russland bezüglich ihrer Interessen im Raum Persien, Afghanistan und Indien. Englands Politiker waren mehr besorgt über die Entwicklung Irlands als über die Probleme Kontinentaleuropas. Zu Deutschland bestanden immer noch viele persönliche Beziehungen. Als Prinz Heinrich, der Bruder Wilhelm II, sich am 28.7. von König Georg V. verabschiedete, habe dieser ihm gesagt, England bliebe neutral. Außenminister Edward Grey (1862-1933) präzisierte dies dem deutschen Botschafter gegenüber. Das gelte nur für einen begrenzten Balkankrieg. Grey konnte seine Position jedoch nicht gegen die Mehrheit im Kabinett durchsetzen. Am 1.8. mobilisierte Winston Churchill (1874-1965), der Marineminister (Erster Lord der Admiralität) die britische Flotte. Am 4.8. erfolgt die englische Kriegserklärung. Deutschland war inzwischen in Belgien einmarschiert.

Fortgang und Lehren

Wie die Geschichte weiter ging, ist uns bekannt. Es wurde teilweise als Erleichterung empfunden, das endlich Soldaten statt Diplomaten zu Wort kamen. Alle Länder glaubten, sich verteidigen zu müssen. Noch im August wurde auch mein Vater zum Landwehrdienst einberufen und verbrachte die nächsten vier Jahre im Schützengraben vor Verdun. Die Hoffnung auf einen kurzen Krieg erwies sich als Illusion. Es gab auf allen Seiten Millionen von Toten und Verwundeten. Mein Vater kam zwar körperlich unversehrt wieder nach Hause. Jahrzehnte lang verfolgten ihn die Kriegsereignisse jedoch im Traum.

Der deutsche Kaiser ging ins holländische Asyl. Der Nachfolger des österreichischen Kaisers starb im Asyl auf Madeira. Der russische Zar und seine Familie wurden von Revolutionären erschossen. Alle drei Reiche gingen unten; ebenso das Osmanische Reich. England und Frankreich saßen am Tisch der Sieger. Serbien war der wahre Gewinner, denn der Traum eines Großserbien ging schon 1915 in Erfüllung. Dass er die Wurzel von noch ungelösten Problemen ist, wurde unserer Generation verdeutlicht. Screbenica ist seit 1999 ein weltweites Fanal und liegt nicht sehr weit von Sarajewo entfernt. Dass es sich dabei nicht um eine Besonderheit des Balkans handelt, belegen Ortsnamen wie Oradour-sur-Glane und Auschwitz-Birkenau. Aus jüngerer Zeit fällt mir Ruanda 1994 ein, oder die syrischen Städte Homs und Aleppo in unsern Tagen.

Die wichtigste Lehre wurde von Woodrow Wilson (1856-1924), dem amerikanischen Präsidenten, gezogen. Er setzte die Gründung einer überstaatlichen Organisation durch, die im Falle eines Konflikts vermitteln kann. Dem Völkerbund gelang es noch selten. Ihre Nachfolge-Organisation, die Vereinten Nationen (UN), ist umso häufiger involviert. Ihre Erfolge sind bekanntlich sehr durchwachsen. Bei innerstaatlichen Konflikten ist die UN machtlos. Im Falle Syriens wird das Ideal der staatlichen Souveränität höher bewertet als das der Humanität. 

Leider fällt mir sonst nicht allzu viel ein, was die Menschheit in den letzten 100 Jahren dazu gelernt hat, was die Ideen und die Möglichkeiten der Konfliktlösung ohne Gewalt betrifft. Vielleicht kann mir aber ein Leser auf die Sprünge helfen. Ich lasse mich gerne belehren.

Nachtrag am 10.2.2014:

Ein Beitrag von Dirk Kurbjeweit im SPIEGEL 7/2014 befasst sich mit dem ‚Historiker-Streit‘ über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die Einmaligkeit des Holocausts. Das erste Thema wurde 1961 von dem deutschen Historiker Fritz Fischer angestoßen, das zweite 1986 von Ernst Nolte.

Clark hat nur einige wenige Bemerkungen für den Kollegen Fischer übrig, der bekanntlich die deutsche Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs festgestellt hatte. Der jüngere deutsche Historiker Herfried Münkler, der mit seinem Buch zum Ersten Weltkrieg zwei Plätze hinter Christopher Clark auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste steht, soll Fischers Forschung als ‚hanebüchen‘ bezeichnet haben. Fischer habe nur in deutschen Archiven geforscht. Außerdem habe er Planspiele der Militärs als historisch relevante Entscheidungen angesehen, auch wenn Politiker sie sich nicht zu eigen machten.

Im selben Beitrag steht der schöne Satz „Es gibt keine historische Wahrheiten; es gibt nur den aktuellen Stand der Forschung.“ Was Bethmann Hollweg (der deutsche Reichskanzler) sich im Juli 1914 dachte, wissen wir nicht. Dem möchte ich (BD) hinzufügen: Bei Wilhelm II. wissen wir es schon eher. Der schwätzte drauf los und sehr vieles davon wurde sogar aufgeschrieben.

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