Vor 100 Jahren begann der erste Weltkrieg. Er hat Europa, ja
die Welt verändert. Was zu seinem Ausbruch führte, wird von Historikern,
Politikern und vielen andern Personen seither heftig diskutiert. Eng damit
verbunden ist die Schuldfrage. Die Antwort, die der Versailler Vertrag dazu
gab, verwies einzig und allein auf Deutschland. Außer Adolf Hitler waren auch
viele andere Menschen mit dieser Antwort nicht glücklich.
Aus der zeitlichen Distanz von 100 Jahren befasst sich der australische Historiker Christopher Clark (Jahrgang 1960) erneut mit der Frage, wie es zu diesem Krieg kam. Die Schuldfrage beantwortet er jedoch nicht. Seine Schlussfolgerung klingt fast wie ein später Freispruch. ‚Die Quellen lassen keinen Bösewicht erkennen. Der Kriegsausbruch war eher eine Tragödie als ein Verbrechen.‘ Er war auch nicht unausweichlich oder alternativlos ̶ wie man heute sagt. Mögliche Optionen in Richtung Frieden wurden nicht genutzt. Clarks im September 2013 erschienenes Buch trägt daher den Titel Die Schlafwandler. Dass es 898 Seiten umfasst, ist nicht so schlimm wie es aussieht. Die Länge kommt zum Teil von den 1702 Fußnoten, die ein Laie überspringen darf. Ich kann jedem historisch Interessierten das Buch empfehlen. Ich will nicht versuchen seinen Inhalt wiederzugeben. Stattdessen konzentriere ich mich auf einige Fakten. die ich dazugelernt habe. Obwohl ich selbst kein Historiker bin ̶ oder gerade deshalb ̶ drängen sich Vergleiche mit der heutigen Situation auf.
Österreich-Ungarische Monarchie
In Solferino (1859) und Königgrätz (1866) hatte Österreich zwei militärische Niederlagen erlitten, die seinen Schwerpunkt in Richtung Osteuropa verschoben. Es entstand ein etwas seltsames Staatsgebilde. Der Vergleich mit einem Ei mit zwei Dottern wurde benutzt. Österreich-Ungarn war eine Doppelmonarchie mit zwei Parlamenten und elf Nationalitäten. Jeder Landesteil war in sich ein Vielvölkerstaat. Während in der östlichen Landeshälfte eine bewusst betriebene Magyarisierung für ethnische Spannungen sorgte, versuchte man im westlichen Teil, auch Cisleithanien genannt, durch großzügiges Entgegenkommen diesem Problem aus dem Wege zu gehen. Im Wiener Parlament waren alle Sprachen zugelassen, ohne dass jedoch Dolmetscher angeboten wurden.
Das Land erfuhr nach 1880 einen wirtschaftlichen Aufschwung, wobei das hohe Alter des Kaisers Franz Joseph (zuletzt über 80 Jahre) stabilisierend wirkte. Anders gesagt, vom Kaiser gingen keine Anstöße aus, um notwendige Reformen einzuleiten. In dieser Hinsicht lagen alle Hoffnungen bei seinem Neffen, dem zum Thronfolger ernannten Erzherzog Franz Ferdinand. Insbesondere wurde diesem nachgesagt, dass er die Ungarn zurückstutzen wollte und aus den (zu Ungarn gehörenden) Landesteilen Slawonien, Kroatien und Bosnien ein Königreich unter kroatischer Führung schaffen wolle. Mit der Friedenspolitik, die er Serbien gegenüber betrieb, geriet er in Gegensatz zu dem Chef des österreichischen Generalstabs, Conrad von Hötzendorf. Dieser forderte seit 1907 einen Präventivkrieg gegen Serbien. Die Ermordung Franz Ferdinands während eines Besuchs in Bosnien rief natürlich die Falken auf den Plan, was zu dem Krieg führte, vor dem Franz Ferdinand gewarnt hatte.
Serbien und der Balkan
Die Loslösung Serbiens und der übrigen Balkanstaaten vom
Joch des Osmanischen Reiches begann mit der Eroberung Belgrads durch Prinz
Eugen im Jahre 1717. Der serbische Staat hatte 1878 auf dem Berliner Kongress
seine Unabhängigkeit erhalten und sich 1882 als Königreich etabliert. Das Land
hat keine großen Städte, keine Industrie und keinen Mittelstand. Die vorwiegend
kleinbäuerliche Bevölkerung besaß nur wenige Aufstiegsmöglichkeiten, außer beim
Militär.
Im Juni 1903 fiel das serbische Königspaar einer
Offiziersverschwörung um Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, zum Opfer. Dieselbe
Untergrund-Organisation blieb als Geheimbund ‚Schwarze Hand‘ bestehen, wobei
Apis zum Chef des militärischen Geheimdienstes aufrückte. Als Österreich 1908
Bosnien annektierte, löste dies den Zorn derjenigen Serben aus, die von einem
Großserbien in den Grenzen von 1389 träumten. In der berühmten Schlacht auf dem
Amselfelde (am 23.6.1389) hatte das mittelalterliche Serbien seine
Unabhängigkeit an die Osmanen verloren. Der Geheimbund ‚Schwarze Hand‘ verübte
1910 einen Anschlag auf den Gouverneur Bosniens, wobei der Attentäter (Bogdan Žerajić) durch Selbstmord
ums Leben kam. Er galt den bosnischen Serben fortan als Held.
Im Jahre 1911 griff Italien die
Osmanen in Libyen an, wozu es von England und Frankreich ermuntert wurde. Es
war dies der erste militärische Einsatz von Flugzeugen und Luftschiffen.
Zeitgleich mit den italienisch-türkischen Friedensverhandlungen im Jahre 1912
begann der erste Balkankrieg. Bulgaren, Griechen, Rumänen und Serben vertrieben
die Türken aus Albanien, Mazedonien und Thrakien. In dem unmittelbar darauf
folgenden zweiten Balkankrieg gingen drei der vorherigen Verbündeten gegen
Bulgarien vor. Das Ergebnis spiegelt sich ungefähr in der heutigen Landkarte
des Balkans wieder. Serbien hat dabei sein Staatsgebiet fast verdoppelt. Vor
allem erhielt es das von Albanern bewohnte Kosovo (auf Deutsch Amselfeld). Die
regulären Truppen Serbiens wurden von zahlreichen Freischärlern unterstützt.
Besonders im heutigen Mazedonien soll es zu Gräueltaten gekommen sein.
Das Militär Serbiens und der Geheimbund Schwarze Hand forderten
vehement die Wiederherstellung Großserbiens, eine auch als Irredentismus bekannte
Bewegung. Sie betrieben die Auflösung Österreich-Ungarns. Die Regierung (unter Nikola
Păsić)
hielt sich zurück. Nachdem der geplante Besuch des österreichischen Erzherzogs
in Sarajewo (am 23.6.1914) bekannt geworden war, schickte die Schwarze Hand
sieben mit Pistolen, Sprengladungen und Zyankali-Ampullen ausgerüstete junge
Männer dorthin. Einer warf die Sprengladung auf den Begleitwagen des Erzherzogs.
Ein zweiter (Gavrilo Princip) konnte Stunden später den Erzherzog und seine
Frau aus nächster Nähe erschießen. Sechs von den sieben Selbstmord-Kandidaten
und einige der Hintermänner konnten von der Polizei gefasst werden. Sie alle
wurden in einem Prozess zum Tode verurteilt, ohne dass sie ihre Hintermänner
verrieten.
Die serbische Regierung leugnete ihre Mitwisserschaft,
obwohl sie vor dem Attentat versucht hatte, Wien zu warnen. Sie hatte sogar die
Offiziere vor dem Attentat zu stoppen versucht, was ihr aber nicht gelang. In
einem 48-Stunden-Ultimatum forderte Wien Mitarbeit bei der Aufklärung und eine
Distanzierung von irredentistischen Bestrebungen. (Der Autor weist daraufhin,
dass das NATO-Ultimatum an Serbien von 1999 wesentlich härtere Forderungen
enthielt). Als die serbische Regierung dies mit geschickten Formulierungen
ablehnte, befahl der greise Kaiser Franz Joseph am 28.7. die Mobilmachung
verbunden mit einer Kriegserklärung an Serbien. Noch am gleichen Tage sprengten
die Serben eine Save-Brücke, während österreichische Kanonenboote das Feuer eröffneten.
Russische Monarchie
Die serbischen Politiker waren fest davon überzeugt, dass Russland
Serbien helfen würde, sollte es angegriffen werden. Damit lagen sie richtig. Das
Interesse des Zaren hatte lange Zeit der russischen Expansion in Asien
gegolten. Durch die Niederlagen im Krieg mit Japan musste er zurückstecken.
Auch mit England kam es zum Ausgleich, was die Interessensphäre im Raum Persien
und Afghanistan betraf. Sowohl Bulgarien wie auch Serbien waren von Interesse,
wenn es darum ging die Türkei und Österreich in Schach zu halten. Schon lange
liebäugelte Russland mit einem Zugang zu den Dardanellen. Mehr als ein Drittel
seiner Exporte benutzte diesen Weg.
Russland wurde von Frankreich (zuletzt bei einem Besuch des
französischen Präsidenten Poincaré in St. Petersburg Ende Juli 1914) dazu
aufgefordert, sowohl Österreich wie Deutschland gegenüber eine Position der
Härte einzunehmen. Beide gingen davon aus, dass Österreich in seiner Politik
stark von Deutschland beeinflusst würde. So kam es, dass Russland zeitgleich
mit Österreich, also am 28.7. die Mobilmachung verkündete. Angeblich soll es
zuerst nur eine Teilmobilmachung für die Front in Galizien gewesen sein. Da
dies von den Militärs als technisch nicht durchführbar erklärt wurde, erfolgte
zwei Tage später die Generalmobilmachung. Damit knüpfte Russland sein Schicksal
an das von Serbien.
Deutsches Kaiserreich
Das von Österreich losgelöste zweite deutsche Kaiserreich
war aus dem Krieg 1870/71 mit Frankreich hervorgegangen (Proklamation im
Spiegelsaal von Schloss Versailles). Wohlwissend, dass ein erstarktes und
vereintes Deutschland von den Nachbarn kritisch gesehen wird, bemühte Bismarck sich
erfolgreich um eine Politik des Ausgleichs. Nach seinem Abgang, vor allem aber
unter Kaiser Wilhelm II., geriet Deutschland in Isolation. Es kam zwischen 1887
und 1907 zu einer Polarisierung Europas. Der Dreibund bestehend aus
Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien sah sich einer Triple Entente gegenüber
bestehend aus England, Frankreich und Russland. Der Balance willen hatte
Bismarck sich aus dem kolonialen Wettrennen heraus gehalten. Wilhelm II. kollidierte
in Marokko mit Frankreichs Interessen und in Südafrika mit England. Vor allem der
Aufbau einer Hochsee-Flotte berührte Englands Position. Außerdem stieg
Deutschlands Anteil am Welthandel rapide.
Nach der Besetzung Ägyptens durch England wurde Deutschland
in Istanbul geradezu hofiert. Der vereinbarte Bau einer Bahnstrecke bis an den
Persischen Golf ließ England um mögliche Erdöl-Konzessionen im Irak fürchten. Auf
die Spitze getrieben wurde die vermutete Gefahr durch eine 40 Offiziere
umfassende deutsche Militärmission in Istanbul, ein Thema, das Wilhelm II.
seinen beiden Vettern George (Georg V. von England) und Nicky (Nikolaus II. von
Russland) im Mai 1914 bei einer Familienfeier in Hannover (Hochzeit seiner
Tochter) ansprach. Beide zeigten sich kühl und reserviert (engl, ‚not amused‘).
Im Streit mit Serbien glaubte die deutsche Diplomatie, dass
ein möglicher Konflikt lokal gehalten werden könnte. Kaiser Wilhelm II, selbst
war bis zuletzt optimistisch und versuchte beim russischen Zar zu
intervenieren, als er von dessen Mobilmachung erfuhr. Er glaubte, Russland sei
nicht kriegsbereit. Außerdem könne er sich den Zar nicht an der Seite von
Prinzenmördern vorstellen. Sowohl der Zar wie die eigenen Militärs gaben
Wilhelm zu verstehen, dass es bereits zu spät sei. Deshalb erklärte er am 1.8.
Russland den Krieg.
Französische Republik
Der Verlust Elsass-Lothringens ließ Frankreichs Politiker
auf Rache sinnen. Sie lösten alle potentiellen Konflikte mit England, was die
Kolonien betraf. Vor allem Raymond Pointcaré
(1860-1934), der ab 1913 Staatspräsident wurde, bemühte sich um Russland. Er
riet Russland zum Ausbau strategisch wichtiger Eisenbahnstrecken und zur Verstärkung
des stehenden Heeres. Den Sarajewo-Mord erklärte er zu einer österreichischen
Erfindung.
Vereinigtes Königreich (England)
Im Jahre 1907 einigten sich England und Russland bezüglich
ihrer Interessen im Raum Persien, Afghanistan und Indien. Englands Politiker
waren mehr besorgt über die Entwicklung Irlands als über die Probleme Kontinentaleuropas.
Zu Deutschland bestanden immer noch viele persönliche Beziehungen. Als Prinz
Heinrich, der Bruder Wilhelm II, sich am 28.7. von König Georg V. verabschiedete,
habe dieser ihm gesagt, England bliebe neutral. Außenminister Edward Grey (1862-1933) präzisierte
dies dem deutschen Botschafter gegenüber. Das gelte nur für einen begrenzten
Balkankrieg. Grey konnte seine Position jedoch nicht gegen die Mehrheit im
Kabinett durchsetzen. Am 1.8. mobilisierte Winston Churchill
(1874-1965), der Marineminister (Erster Lord der Admiralität) die britische
Flotte. Am 4.8. erfolgt die englische Kriegserklärung. Deutschland war
inzwischen in Belgien einmarschiert.
Fortgang und Lehren
Wie die Geschichte weiter ging, ist uns bekannt. Es wurde
teilweise als Erleichterung empfunden, das endlich Soldaten statt Diplomaten zu
Wort kamen. Alle Länder glaubten, sich verteidigen zu müssen. Noch im August
wurde auch mein Vater zum Landwehrdienst einberufen und verbrachte die nächsten
vier Jahre im Schützengraben vor Verdun. Die Hoffnung auf einen kurzen Krieg erwies
sich als Illusion. Es gab auf allen Seiten Millionen von Toten und Verwundeten.
Mein Vater kam zwar körperlich unversehrt wieder nach Hause. Jahrzehnte lang
verfolgten ihn die Kriegsereignisse jedoch im Traum.
Der deutsche Kaiser ging ins holländische Asyl. Der
Nachfolger des österreichischen Kaisers starb im Asyl auf Madeira. Der
russische Zar und seine Familie wurden von Revolutionären erschossen. Alle drei
Reiche gingen unten; ebenso das Osmanische Reich. England und Frankreich saßen
am Tisch der Sieger. Serbien war der wahre Gewinner, denn der Traum eines Großserbien ging schon
1915 in Erfüllung. Dass er die Wurzel von noch ungelösten Problemen ist, wurde
unserer Generation verdeutlicht. Screbenica ist seit
1999 ein weltweites Fanal und liegt nicht sehr weit von Sarajewo entfernt. Dass
es sich dabei nicht um eine Besonderheit des Balkans handelt, belegen Ortsnamen
wie Oradour-sur-Glane
und Auschwitz-Birkenau. Aus jüngerer Zeit fällt mir Ruanda 1994 ein,
oder die syrischen Städte Homs und Aleppo in unsern Tagen.
Die wichtigste Lehre wurde von Woodrow Wilson
(1856-1924), dem amerikanischen Präsidenten, gezogen. Er setzte die Gründung
einer überstaatlichen Organisation durch, die im Falle eines Konflikts
vermitteln kann. Dem Völkerbund gelang es noch selten. Ihre Nachfolge-Organisation, die Vereinten Nationen
(UN), ist umso häufiger involviert. Ihre Erfolge sind bekanntlich sehr durchwachsen.
Bei innerstaatlichen Konflikten ist die UN machtlos. Im Falle Syriens
wird das Ideal der staatlichen Souveränität höher bewertet als das der
Humanität.
Leider fällt mir sonst nicht allzu viel ein, was die Menschheit in den letzten 100 Jahren dazu gelernt hat, was die Ideen und die Möglichkeiten der Konfliktlösung ohne Gewalt betrifft. Vielleicht kann mir aber ein Leser auf die Sprünge helfen. Ich lasse mich gerne belehren.
Leider fällt mir sonst nicht allzu viel ein, was die Menschheit in den letzten 100 Jahren dazu gelernt hat, was die Ideen und die Möglichkeiten der Konfliktlösung ohne Gewalt betrifft. Vielleicht kann mir aber ein Leser auf die Sprünge helfen. Ich lasse mich gerne belehren.
Nachtrag am 10.2.2014:
Ein Beitrag von Dirk Kurbjeweit im SPIEGEL 7/2014 befasst
sich mit dem ‚Historiker-Streit‘ über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und
die Einmaligkeit des Holocausts. Das erste Thema wurde 1961 von dem deutschen
Historiker Fritz Fischer angestoßen, das zweite 1986 von Ernst Nolte.
Clark hat nur einige wenige Bemerkungen für den Kollegen
Fischer übrig, der bekanntlich die deutsche Alleinschuld am Ausbruch des Ersten
Weltkriegs festgestellt hatte. Der jüngere deutsche Historiker Herfried Münkler,
der mit seinem Buch zum Ersten Weltkrieg zwei Plätze hinter Christopher Clark
auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste steht, soll Fischers Forschung als ‚hanebüchen‘
bezeichnet haben. Fischer habe nur in deutschen Archiven geforscht. Außerdem
habe er Planspiele der Militärs als historisch relevante Entscheidungen angesehen,
auch wenn Politiker sie sich nicht zu eigen machten.
Im selben Beitrag steht der schöne Satz „Es gibt keine historische
Wahrheiten; es gibt nur den aktuellen Stand der Forschung.“ Was Bethmann
Hollweg (der deutsche Reichskanzler) sich im Juli 1914 dachte, wissen wir
nicht. Dem möchte ich (BD) hinzufügen: Bei Wilhelm II. wissen wir es schon
eher. Der schwätzte drauf los und sehr vieles davon wurde sogar aufgeschrieben.
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