Sonntag, 29. Juli 2012

New York, New York – Leben und Arbeiten in einer Millionenstadt

Ein Jahrzehnt nach meinem Studienaufenthalt in Ohio konnte ich noch ein zweites Mal über ein Jahr in den USA verbringen. Dies und die vielen Reisen, die ich später noch unternahm, bewirkten, dass ich eine besondere Beziehung zu diesem Lande entwickelte. So fühle ich mich sehr oft angesprochen, wenn das Land kritisiert wird oder Amerikaner etwas pauschal beurteilt werden. Der Unterschied zwischen einem Studienaufenthalt und dem Leben in Beruf und mit Familie ist signifikant. Wir lebten in New York von Oktober 1963 bis Juli 1964, d.h. meine Frau, unsere sechs Monate alte Tochter und ich.

Wie in einem früheren Beitrag näher beschrieben, verbrachten meine Frau und ich unser erstes Ehejahr im sonnigen Nizza. Dieser Aufenthalt neigte sich im Sommer 1963 seinem Ende zu, als mein Projekt auslief. Ich plante zunächst in das deutsche Labor der IBM in Böblingen bei Stuttgart überzuwechseln. Während ich zur Abwicklung meiner letzten Geschäfte wieder in Nizza war, traf ich dort  zwei Kollegen (Nat Rochester, Pete Sheridan) aus New York, die gerade in La Gaude ihr Projekt vorstellten, nämlich Fortran so zu erweitern, dass man auch kommerzielle Programme in dieser Sprache schreiben konnte. Als sie erfuhren, dass ich mit Algol, COBOL und Fortran gearbeitet hatte, und dazu noch mit ECMA die europäische Standardisierung von COBOL betrieben hatte, machten sie mir das Angebot, nach New York zu kommen. Im Weiteren zitiere ich wieder aus früheren Aufzeichnungen [1].


Rockefeller Center und Central Park

Vor die Wahl zwischen Weltstadt und schwäbischer Provinz gestellt, brauchte ich meine Frau kaum zu überreden. Anders war es mit dem Chef (damals Horst Remus), der mich in Böblingen erwartete. Nachdem ich ihm klargemacht hatte, dass das Projekt in New York für die Zukunft seiner Gruppe von großer Bedeutung sei, ließ er mich gehen. Ich suchte und fand in Böblingen ein Zimmer, in das ich alle unsere Möbel abstellen konnte. Meine Frau und unsere Tochter, die inzwischen ein halbes Jahr alt war, flogen von Nizza ins Ruhrgebiet zu meiner Schwiegermutter. Ich flog nach New York. Nach einer Woche kamen beide nach. Wir wohnten noch einige Wochen in einem Hotel, ehe wir eine Wohnung bezogen. Da das Hotel nicht weit vom Central Park entfernt lag, wollte meine Frau dort gerne mit unserer Tochter im Kinderwagen spazieren fahren. Sie wurde etwas ungnädig, als ich ihr ans Herz legte, dies nur dann zu tun, wenn auch andere Leute in der Nähe seien. Meine frühere Amerika-Erfahrung wirkte bereits bremsend.

Wohnen in New York City

Eine Wohnung in New York City zu finden, ist eine besondere Herausforderung. Erscheint die Stadt einem Touristen als riesige Ansammlung von Häusern und Wolkenkratzern, so bekommt sie für den Wohnungssuchenden eine ganz eigene Struktur. Da ich den Vorteil hatte, in eine Gruppe zu kommen, die hauptsächlich aus New Yorkern bestand, ließ ich mich beraten. Ich nahm schließlich die Kopie eines Stadtplans und markierte die einzelnen Viertel entsprechend. Als Wohngebiet für Leute, die in Manhattan arbeiten, erstreckt sich die Stadt nach Osten bis weit auf Long Island hinaus, nach Norden bis ins Westchester County und nach Westen weit nach New Jersey hinein. Ein deutscher Kollege, der gleichzeitig mit mir in New York tätig war, wohnte in New Jersey. Er wohnte jenseits des Hudson River und fuhr täglich per U-Bahn unter dem Hudson hindurch. Ein amerikanischer Kollege wohnte auf der Westseite des Hudson im Staat New York und benötigte für jede Strecke täglich mehr als eine Stunde mit der Bahn. Sehr beliebt war offensichtlich ganz Long Island bei Familien mit Kindern. Hier gab es eine lockere Bebauung mit Einfamilienhäusern und die Bahnve­rbindungen waren ausgezeichnet.

Mindestens so wichtig war es zu wissen, wo einer wie ich nicht wohnen sollte. Hier schieden zunächst ganze Stadtteile fast völlig aus, so Harlem und die Bronx, aber auch große Teile von Brooklyn. In Manhattan selbst könne man nur als Single oder als kinderloses Ehepaar wohnen, hieß es. Aber auch dafür gab es noch diverse Einschränkungen. Als akzeptabel aber teuer galt die Upper East Side, d.h. die Gegend östlich des Central Parks. Für Hippies, aber nicht für seriöse Geschäftsleute, käme noch die Südspitze in Frage, also die Battery und das Greenwich Village. Ein Makler bot uns auch eine Wohnung unweit der Grand Central Station an, also südlich der 42. Straße. An die Besichtigung dieser Wohnung erinnere ich mich noch heute. Sie lag in einem Hochhaus (Crescent City genannt), etwa im 20. Stockwerk. Das Haus hatte den Grundriss eines Halbmonds (daher der Name). Das Wohnzimmer hatte ein breites, nach Norden gerichtetes Fenster, in das die Wolkenkratzer des Rockefeller Centers wie Personen auf einem Gemälde hereinschauten. Am Abend muss dieser Blick überwältigend sein. Obwohl die von meiner Firma für die Wohnungsmiete vorgesehene Vergütung (Living Allowance) nicht knapp bemessen war, war diese Wohnung uns doch zu teuer.


In Jackson Heights

Wir entschlossen uns schließlich für ein Reihenhaus im Stadtteil Jackson Heights. Das ist in Queens, einem nördlich von Brooklyn gelegenen Stadtteil auf Long Island. Jackson Heights ist bekannt für den La Guardia Flugplatz und das Ausstellungsgelände von Flushing Meadows. In Flushing Meadows fand damals die Weltausstellung (Expo 64) statt. Bis heute gibt es dort das Tennisturnier US Open. Unsere Wohnung lag in der 73. Straße. Nicht allzu weit davon gab es eine U-Bahnstation (Northern Boulevard). Auf beiden Seiten der Straße gab es gleich aussehende Reihenhäuser aus rotem Backstein, soweit man blicken konnte. Sie hatten jeweils zwei Stockwerke. Eine Freitreppe führte zu der oberen Wohnung, die wir mieteten. Unter uns wohnten zwei junge Frauen, die auf dem Flughafen La Guardia beschäftigt waren. An sich fühlten wir uns in dieser Wohnung sehr wohl, da wir glück­licherweise nicht in der Einflugschneise von La Guardia lagen. Katastrophenalarm brach aus, als eines Tages meine Frau feststellte, dass sie in der Küche kleine Mitbewohner hatte. „Das sind Kakerlaken“ rief sie. Meine Frau putzte noch intensiver als bisher, besonders am Herd und unter dem Kühlschrank und so wurden wir sie alsbald los. Das seien die Kubaner schuld, die vorher hier wohnten, meinte der Hausbesitzer.

Der Eigentümer des Hauses wohnte einige Straßen weiter. Er war von seiner Abstammung her polnischer Jude und arbeitete als Schneider in der New Yorker Textilindustrie. Dass die Textilindustrie in New York City eine sehr bedeutende und traditionsreiche Rolle spielte, erfuhren wir von ihm. Noch mehr überraschte es uns, dass er am Ende jeder Saison entlassen wurde, und zu Beginn einer Saison neu angestellt wurde, obwohl er schon fast 30 Jahre dort tätig war. Er und seine Frau besaßen mehrere Häuser, die ihre finanzielle Existenz sicherten. So wie unser Vermieter als polnischer Jude so stellten sich auch alle Nachbarn mit ihrer ethnischen Herkunft vor. Ich bin Ire, ich Italiener, ich Deutscher, hieß es dann. Irgendwann konnte ich es mir nicht mehr verkneifen zu fragen, ob es denn hier keine Amerikaner gäbe.

An zwei Episoden aus Jackson Heights erinnern meine Frau und ich uns heute noch. Unser Haus war zwar außen mit Backsteinen verkleidet, bestand aber zu großen Teilen aus Holz. Deshalb standen überall Brandwarnungen. Besonders eingeschärft wurde dabei, nie Babys und Kleinkinder allein im Hause zu lassen. Deshalb war auch der Hintergrund klar, der hinter der Frage einer Nachbarin steckte, als sie meine Frau einmal allein in einem Einkaufszentrum antraf. „Where is the baby?“ fragte sie. „She is fine“, war die Antwort (auf Deutsch: Wo ist das Baby? – Ihm geht es gut). In Flushing Meadows fand, wie bereits erwähnt, 1964 die Weltausstellung statt. An einem Wochenende nahmen wir uns vor, dieses Spektakel zu besuchen. Wir luden unsere einjährige Tochter in ihren Sportwagen und marschierten zu Fuß zur nächsten U-Bahnstation und fuhren dann eine Station weiter zur etwa drei Kilometer entfernten Expo. Wir durchstreifen den ganzen Tag das Ausstellungsgelände und bewunderten die vielen technischen Neuerungen. Am Schluss des Tages ging es zurück zur U-Bahnstation. Die Beobachtung eines Amerikaners, mit der er sein Mitgefühl zum Ausdruck bringen wollte, war zwar gut gemeint, aber nicht ganz richtig. „He looks great, but his father is very tired“ (auf Deutsch: Er sieht großartig aus, aber der Vater ist sehr müde). Da unsere Tochter damals sehr dünne Haare hatte, wurde sie manchmal als Junge angesehen.


In Atlantic City

Meine früheren Erfahrungen in den USA bewogen mich dazu, alsbald ein Auto zu erwerben. Diesmal wurde es ein Oldsmobile. Ein deutschstämmiger Händler hatte mich überzeugt, dass dies ein guter Kauf sei. Er behielt im Prinzip auch recht. Nur konnte ich das Auto kaum nutzen, solange ich in New York City wohnte. Nach Manhattan hinein zu fahren, machte keinen Sinn. Nur am Wochenende konnte ich mit der Familie Ausflüge in die weitere Umgebung machen. So ging es mehrmals zu den Stränden auf Long Island (Coney Island, Rockaway Beach) und einmal nach Atlantic City an der Küste von New Jersey. Sobald es Winter wurde und der Schnee einbrach, stand das Auto wochenlang ungenutzt vor unserem Haus, oft mit einer 30-40 cm dicken Schneedecke bedeckt.

Arbeiten in New York City

Mein Arbeitsplatz in New York City lag in einem Hochhaus in Manhattan. Das Gebäude, in dem die Firma IBM eine Etage gemietet hatte, gehörte dem Zeitschriftenverlag Time/Life. Es liegt an der „Avenue of the Americas“ (nach der numerischen Zählung ist dies die 6th Avenue), etwa auf der Höhe der 54. Straße. Die Fassade war zwar aus Glas, dennoch besaßen die Büros nur künstliches Licht. Selbst an der Außenseite des Gebäudes kam nur wenig Licht herein, einerseits waren die Glasscheiben blau getönt, andererseits stand das nächste Hochhaus so nah, dass kein direktes Sonnenlicht einfallen konnte.


Time-Life-Hochhaus

Von Jackson Heights (Station Northern Boulevard) fuhr ich täglich ohne Umsteigen per U-Bahn direkt bis ins Rockefeller-Zentrum. Ohne ans Tageslicht aufsteigen zu müssen, gelangte ich von dort direkt zu den Fahrstühlen des Time/Life-Hochhauses. Erst wenn ich abends in Jackson Heights wieder der U-Bahn entstieg, konnte ich sehen, wie das Wetter an diesem Tage gewesen war. Sehr eingeprägt haben sich die Wintermonate Dezember bis Februar. Oft musste ich die Strecke von unserer Wohnung bis zur U-Bahn durch hohen Schnee stapfen oder bei klirrender Kälte zurücklegen. Hatte ich die U-Bahn erreicht, brachten mich die Winterkleidung und Überstiefel ganz schön ins Schwitzen. Befreien konnte ich mich erst von den schweren Sachen, nachdem ich meinen klimatisierten Arbeitsplatz erreicht hatte.


‚Pastrami on rye‘-Sandwich (Foto Katz)

Über eine Kantine verfügte meine Arbeitsumgebung nicht. Wir haben sie auch nicht vermisst. Meist gingen wir im Untergeschoss unsers Hochhauses oder in der Nähe der U-Bahnstation in einen der vielen Sandwichläden. In dieser Zeit lernte ich einige New Yorker Spezialitäten schätzen. Ganz hoch auf meiner Liste der Wunschgerichte stand „Pastrami on Rye“ (eine Art Rindfleischbraten auf Roggenbrot). Andere beliebte Sandwichs waren „Egg Salad or Liver on Whole Wheat“ (auf Deutsch: Eiersalat oder Leberwurst auf Weizenvollkornbrot). Die Sandwichs, die es hier gab, enthielten nicht nur eine Scheibe Wurst, sondern deren fünf bis sechs. Ein Glas eiskalte Milch oder eine Tasse Kaffee ergänzten die Mahlzeit. An den vielen Sorten von Speiseeis konnte man sich sattsehen, auch ohne sie alle zu probieren. Übrigens gab es im Büro laufend Kaffee, Milch oder einen Schokoladentrunk aus einem Automaten. Manche Kollegen schienen gar nicht anders arbeiten zu können, als von einer Tasse Kaffee angetrieben. Wollte man einmal nichts essen, so konnte man die Mittagspause auch sehr gut anders verbringen. In unmittelbarer Nähe des Gebäudes gab es mehrere gute Buchläden. Selbst bis zur berühmten Fifth Avenue konnte man sehr gut zu Fuß laufen. Saks, Bloomingdales und Tiffany’s haben hier ihre Hauptläden.

Bei meinen Kollegen in New York handelte es sich um eine etwas ungewöhnliche Gruppe. Einige von ihnen waren Teil des Teams gewesen, das in den Jahren von 1955 bis 1958 mit John Backus zusammen den ersten Fortran-Übersetzer der Welt entwickelt hatte (so Harlan Herrick, Lois Haibt und Irv Ziller). Sie waren überzeugte New Yorker, die sich einen andern Job in New York gesucht hätten, wenn IBM sie nicht weiter hier beschäftigt hätte. Andere wären bereit gewesen, den Einsatzort zu wechseln, vorausgesetzt, sie konnten auf ihrem Spezialgebiet, dem Übersetzerbau, weiterarbeiten. Natürlich gab es auch den flexiblen und jüngeren Mitarbeiter, der sich an jedem andern Ort der Firma auf jedem anderen Gebiet einsetzen ließ. Er oder sie waren eher die Ausnahme. Der Anteil an Frauen, auch in Management-Positionen, war für damalige Verhältnisse recht hoch.

Die Abteilung, der ich zugeordnet war, leistete Unterstützung bei der Definition der neuen Programmiersprache. Diese änderte mehrmals den Namen. Als ich kam, hieß sie Fortran VI. Dann wurde New Programming Language (NPL) daraus. Geblieben ist der Name Programming Language I (PL/I). Für die Sprachdefinition im engeren Sinne war ein Gremium bestehend aus drei IBMern (George Radin, C. W. Medlock und Bernice Weitzenhofer) und drei Kundenvertretern zuständig. Die übrigen Mitglieder unserer Abteilung bewerteten die Sprachvorschläge, etwa im Hinblick darauf, ob man existierende COBOL-Programme auch vollständig mechanisch umwandeln konnte. Neben mir gab es noch einen weiteren Europäer im Team (Louis Bolliet von der Universität Grenoble). Unser Abteilungsleiter (Dr. Paul Comba) war gebürtiger Italiener und stammte aus Turin. Vor allem zu George Radin hatte ich auch später immer wieder Kontakt. Über die Bedeutung und das Schicksal von PL/I zu berichten, würde hier zu weit führen.


Südeingang des Time/Life-Gebäudes

Wenige Wochen nach unserer Ankunft gab es ein Abendessen in einem New Yorker Hotel für alle Mitarbeiter und deren Angehörige. Es gab eine Vorspeise, ein dickes Steak (New York Cut Sirlain) und einen Nachtisch. Es gab während oder nach dem Essen die übliche Rede eines höheren Managers, in der er sich bei den Mitarbeitern und ihren Angehörigen bedankte. Schon vor Beginn der Rede hatten mehrere Frauen ihr Strickzeug hervorgeholt und betätigten sich mit Handarbeiten. Da wir gerade aus Frankreich kamen, kam uns das Essen als grober Stilbruch vor. Zu dem sehr guten Gericht gab es lediglich Eiswasser zu trinken. Wein oder Bier zu servieren hätte gegen damals geltende Firmenregeln verstoßen.

Dass die New Yorker ein etwas gestresster Menschenschlag sind, hat Woody Allen in seinen Filmen immer wieder herauszustellen versucht. Man erwartete eine Großstadt voll von Neurotikern. Aufgrund meiner Erfahrung mit New Yorkern hielt ich dies für reichlich übertrieben. Ein kleines Erlebnis, das ich hatte, schien jedoch Woody Allen Recht zu geben. Eines Sonntags ging ich im Stadtteil Riverdale im Norden der Stadt mit Frau und Kleinkind spazieren. Es ist dies der Stadtteil New Yorks, in dem sich auch die berühmte Columbia University befindet. Plötzlich stießen wir auf unserem Bürgersteig auf zwei etwa 5-6 Jahre alte Kinder, die sich heftig stritten. „I guess you are crazy; you better look up your psychiatrist“, schrie das eine Kind (zu Deutsch: Ich glaube Du bist verrückt. Du solltest Deinen Psychiater aufsuchen). Der Kleine muss diese Beschimpfung von Erwachsenen aufgeschnappt haben, dachte ich mir. Deutsche Kinder beschimpften sich (damals noch) anders.

Immer, wenn wir abends in New York ausgingen, wurde ein Baby Sitter engagiert. Verreisten wir außerhalb der Stadt, brachten wir unsere Tochter auch schon mal zu Kollegen. Sowohl für den Kunstfreund wie für den Theaterliebhaber ist New York ein Eldorado. Das Guggenheim Museum oder das Museum of Modern Art (Moma) sollte man mehr als nur einmal gesehen haben. Die Carnegie Music Hall, die Metropolitan Opera und die Theater des Broadway bieten das ganze Jahr über einen Höhepunkt nach dem andern. An einen Opernabend in der Met denke ich heute noch, wenn ich den Namen des Sängers Franco Corelli höre. Wie im Rausch schrie die Menge nach seiner Vorstellung „Da capo, da capo!“. Eine große Ent­täuschung dagegen war der Besuch des berühmtesten Restaurants mit deutscher Küche in New York (Luchow’s). Das Essen war nicht besonders gut, die Atmosphäre wirkte angestaubt und fremdartig, vielleicht war es das Berlin der zwanziger Jahre, an das erinnert werden sollte.

Die ganzen Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft wurden deutlich, als am 3. November 1963 die Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys durch die Medien ging. Bei IBM in New York hat an diesem Nachmittag niemand mehr gearbeitet. Alle Kollegen waren niedergeschlagen und konsterniert.

Nach einem Dreivierteljahr meinten meine Oberen, es wäre für das Böblinger Labor besser, wenn ich statt in New York City in einem der traditionellen Labors der Firma säße. So kam es Mitte 1964 zum Umzug nach Poughkeepsie, einer Kleinstadt im Hudson-Tal, etwa 100 km nördlich von New York.

Die zweifache Nennung des Namens New York im Titel dieses Beitrags hat zwei Gründe. Einerseits ruft er damit die Erinnerung an ein auch von Frank Sinatra gesungenes Lied hervor. Es enthält den berühmten Refrain: If you can make it there, you'll make it anywhere  (zu Deutsch: Wenn Du dort Erfolg hast, hast Du ihn überall). Anderseits ist dies der offizielle Name der Stadt, nämlich New York im Staat New York.

 

1. Reiseberichte enthalten auf der CD Gunst und Kunst des Reisens aus dem Jahre 2009. Die CD ist auf der Homepage ihres Autors im Abschnitt Media beschrieben

Donnerstag, 26. Juli 2012

Anzio und Monte Cassino, Tragödien im Frühjahr 1944

Gestern war ein sehr schöner Sommertag, aber leider zu heiß, um ihn auf dem Balkon zu verbringen. Ich schaute mir deshalb auf meinem Tablet bei arte die sechste Folge einer 14-teiligen Serie über den Zweiten Weltkrieg an. Diese Folge erinnerte an zwei Schlachten des Frühjahrs 1944, die von Anzio und Monte Cassino. Für mich hat das Wort Schlachten immer eine doppelte Bedeutung. Es ist da, wo Heldensagen entstehen, und da, wo Haustiere und Vieh ihr Leben lassen. Aus der Distanz von nahezu 70 Jahren muss ich sagen,  ̶  auf die Gefahr hin, als Pazifist beschimpft zu werden  ̶  es war an beiden Stellen ein grausames Abschlachten, ein Verheizen von Menschenleben.

Mit beiden Schlachtorten hatte ich mich zum ersten Mal beschäftigt, ehe meine Frau und ich im September 2002 eine Reise durch die Provinz Latium machten. Ich zitiere wieder aus meinen Reiseberichten [1]. Wir waren in Rom gelandet, hatten einen Leihwagen übernommen…

… und fuhren in Richtung Ostia los. Wir wunderten uns, dass hier kaum noch Leute am Strand waren, und fuhren gleich weiter bis Anzio. Erst bei der Vorbereitung der Reise war ich darauf gestoßen, dass dieser Ort eine große historische Bedeutung erlangt hat, und zwar während des zweiten Weltkriegs.


Hafen von Anzio

Seit der Landung der alliierten Truppen in Salerno im September 1943 verfolgte Churchill die Idee, eine zweite Front in Italien zu eröffnen. Am 22. Januar 1944 gingen deshalb amerikanische und englische Streitkräfte bei Anzio und Nettuno hinter den deutschen Linien an Land. Den deutschen Verteidigern gelang es jedoch den Brückenkopf abzuriegeln. Der Kampf dauerte vier Monate und endete mit dem Rückzug der Alliierten am 23. Mai 1944. Churchill geriet wegen dieses Unternehmens in scharfe Kritik. Einer der beteiligten Offiziere (General Lucas) meinte: ‚Das Ganze riecht stark nach Gallipoli‘. Bereits 1914 hatte Churchill dieselbe Idee propagiert, und zwar diesmal am Bosporus eine zweite Front zu eröffnen, und erlitt fürchterlichen Schiffbruch.


Rathaus von Anzio

Anzio war aus alliierter Sicht ein einziges Desaster gewesen. Es gab über 10.000 Tote und etwa 30.000 Verwundete. Fast die gleiche Anzahl von Soldaten hatte psychische Verletzungen erlitten. Die deutschen Verluste waren relativ gering. Den amerikanischen Kommandierenden wird der Vorwurf gemacht, zu vorsichtig gewesen zu sein. Wären sie gleich nach der Landung weiter vorgestoßen, statt sich einzubuddeln, wären sie vermutlich auf wenig deutschen Widerstand gestoßen. So jedoch gaben sie der deutschen Verteidigung Gelegenheit, sich zu reorganisieren.

Churchill lag im Januar 1944 im Krankenhaus in Marrakesch. Auf dem Weg zurück von der Konferenz von Teheran hatte er sich eine Lungenentzündung zugezogen. In seinen Memoiren schreibt er später. ‚Anzio war mein schlimmster Augenblick des Krieges‘.

Meine Frau und ich fuhren damals an der Küste entlang nach Süden und besuchten Terracina und Gaeta. Den südlichsten Punkt dieser Reise erreichten wir in der Stadt Cassino.

Berühmter als die Stadt Cassino ist Berg Monte Cassino, der 520 Meter über der Stadt aufragt. Dieser ist Teil eines nördlich der Stadt endenden Ausläufers der Abruzzen. Hier gründete Benedikt von Nursia im Jahre 529 an der Stelle einer früheren römischen Befestigungsanlage das erste Kloster des nach ihm benannten Ordens. Die Gebeine des Gründers liegen in der Krypta des Klosters begraben. Das Kloster wurde zuerst von den Langobarden (577) und später von den Sarazenen (883) zerstört, aber jedes Mal wieder aufgebaut.


Monte Cassino vom Tal aus

Neben der frühmittelalterlichen Mönchtumsgeschichte verbinden wir heute eher ein anderes, sehr dramatisches Ereignis aus dem Zweiten Weltkrieg mit diesem Berg. Ende 1943 kam der alliierte Vormarsch in Italien an der von der deutschen Wehrmacht quer durch das Land gezogenen Verteidigungslinie (Gustav-Linie) zum Stehen. Im Westen ging es besonders darum, den Vorstoß der Alliierten durch das Liri-Tal nach Rom zu verhindern. Mit Rücksicht auf die historische Bedeutung des Kulturdenkmals hatte der deutsche Oberbefehlshaber in Italien, General Kesselring, die Miteinbeziehung des Klosters in die Verteidigungsstellungen zunächst verboten.


Blick auf Stadt Cassino

Am 17. Januar 1944 begann der erste der drei erfolglosen alliierten Frontalangriffe auf die deutschen Stellungen um die Stadt Cassino und den Berggipfel. Die verbissenen Grabenkämpfe kosteten Verteidiger wie Angreifer unzählige Opfer. Zum Auftakt der zweiten Angriffswelle verlangte ihr Kommandeur (der neuseeländische General Freyberg) daher die massive Bombardierung der Verteidigungsstellungen und des Klosters, hinter dessen Mauern er eine deutsche Funk- und Aufklärungsstation vermutete. Durch den Angriff amerikanischen Bomber am 15. Februar 1944 wurde das Kloster schwer beschädigt. Bei diesem Angriff kamen 250 Menschen ums Leben, zum großen Teil Flüchtlinge, die Schutz im Kloster gesucht hatten.


Hinterlassenes Kriegsgerät im Stadtgebiet

Erst nach der Bombardierung bezogen deutsche Fallschirmjäger die Ruinen des Klosters in ihre Verteidigungsstellungen mit ein, die auch in den nächsten Monaten für die Angreifer uneinnehmbar blieben. Erst angesichts der prekären militärischen Situation in Italien gab General Kesselring am 17. Mai den Rückzugsbefehl. Dies ermöglichte exilpolnischen Verbänden einen Tag später die Einnahme des Klosters. Die viermonatige Schlacht um Monte Cassino kostete rund 20.000 deutschen und 12.000 alliierten Soldaten das Leben. Im Waffenmuseum des Klosters fiel mir auf, dass die Polen den Tag des Sieges um zwei Monate (auf den 18. März) vorverlegt hatten. In der Stadt Cassino stehen an einer zentralen Kreuzung sowohl ein deutscher Panzer wie eine Panzerabwehrkanone. Auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Caira (5 km von Cassino entfernt) liegen genau 20.059 Gefallene.


Deutscher Soldaten-Friedhof von Caira

Im Archäologischen Museum von Cassino gibt es Spuren sowohl der Volsker wie der Römer. Das Amphitheater hat eine über zwei Meter lange Außenmauer. So wie die Alliierten Ende Mai 1944 bewegten wir uns anschließend zügig durch das Liri-Tal in Richtung Rom. In dem Ort Aquino, dem Geburtsort des Scholastikers Thomas, versuchten wir gar nicht erst zu halten.


Polnischer Kriegerfriedhof am Monte Cassino

Am Monte Cassino traf es neben Franzosen und Polen hauptsächlich Australier und Neuseeländer. Das Kloster wurde vollständig wieder aufgebaut und wird als Weltkulturerbe von Pilgern und Touristen besucht. Im Frühjahr 1944 war Monte Cassino ein Eckpfeiler der Verteidigungslinie, die zwischen Adria und Tyrrhenischem Meer den Vormarsch der Alliierten aufhalten sollte. Nachdem dieses Hindernis gefallen war, gab es ein Wettrennen der Alliierten auf Rom. Rom fiel kampflos am 4. Juni 1944.

Die beiden Gemetzel fanden nur Wochen vor der Invasion in der Normandie (6. Juni) und dem Attentat auf Hitler (20. Juli) statt. Im Hinblick auf diese Ereignisse war der deutsche Widerstand in Italien erst recht sinnlos. Die elfmonatige Agonie des Nazi-Regimes hatte Ian Kershaw kürzlich noch einmal wissenschaflich analysiert.

In dem gezeigten Film werden persönliche Schicksale eingebunden. Im Falle der Schlacht von Anzio ist es das Schicksal eines italienisch-stämmigen Soldaten aus Connecticut. Er hatte gehofft, an seinem 21. Geburtstag in Rom einzuziehen. Leider wurde er eines von etwa 900 Todesopfern, die sein Regiment bei Anzio erlitt. Ich finde es sehr gut, auch diesen Aspekt des Krieges zu zeigen. Es gibt keine Kriege ohne persönliches Leid. Das sehen wir gerade in Syrien, und sahen es vorher in Afghanistan und im Irak.

1.      Reiseberichte enthalten auf der CD Gunst und Kunst des Reisens aus dem Jahre 2009. Die CD ist auf der Homepage ihres Autors im Abschnitt Media beschrieben

Dienstag, 24. Juli 2012

Leben ist nicht gleich Leben, dennoch ist die Erde einzigartig

Mit diesen Worten lässt sich der Inhalt eines Buches zusammenfassen, auf das Hans Diel in einem der letzten Beiträge zu diesem Blog verwies. Es geht um das Buch mit dem Titel "Unsere einsame Erde"  von P.D. Ward und D. Brownlee. Die englische Version erschien im Jahre 2000. Ich habe es inzwischen auch gelesen. Was meine bisherigen Vorstellungen des Phänomens Leben betrifft, hat das Buch einige Dinge etwas zurechtgerückt. Es gibt nicht das Leben, sondern eine Unzahl von Lebensformen. Man muss zumindest zwei Gruppen klar unterscheiden. Der Einfachheit halber nennt man sie die primitiven und die höheren Formen. Genauso gut könnte man sagen Leben 1 (L1) und Leben 2 (L2).

Zu L1 gehören vor allem Bakterien und Viren. Das eine ist pflanzliches, das andere tierisches Leben. Beide sind enorm widerstandsfähig. Sie können monate-, wenn nicht jahrelang ohne Stoffwechsel auskommen. Sie sind immun gegen Kälte und Hitze, innerhalb sehr großer Grenzen. Sie benötigen keinen Sauerstoff zum Leben. Auch hohen Druck oder Bestrahlung aus dem Kosmos halten sie aus. Es gäbe keinen Grund anzunehmen, dass es L1 nicht überall im Weltall gibt. Dass es auch so ist, daran darf noch gezweifelt werden.

Einzelliges L1 gab es schon sehr früh auf der Erde, etwa nach 400 Mio. Jahren nach ihrer Entstehung. Es basiert auch auf dem Kopieren von DNA-Strängen. Nur liegen diese ungeschützt in der Zelle herum. Darüber wie die DNA entstand, wird immer noch gerätselt. Die Vermehrung ist ungeschlechtlich. Ein sehr interessanter Stamm sind die Archaeen. Sie leben auf so genannten Schwarzen Rauchern. Das sind Thermalquellen in der Tiefsee. Mikroorganismen, auch Mikroben genannt, gibt es millionenfach in jedem Klumpen Erde, mehrere Kilometer tief.


Meteorit ALH84001  ̶   Mikroskop-Ausschnitt

Jährlich landen etwa ein halbes Dutzend Brocken schwerer als 500 Gramm auf der Erde, die vom Mars stammen. Man glaubt, versteinerte Formen von L1 auf ihnen entdeckt zu haben, ist sich aber nicht ganz sicher. Den ersten solchen Brocken (ALH84001), der 1996 auf dem Grönlandeis gefunden wurde, habe ich im Smithsonian Museum in Washington, DC, gesehen.

Die Form L2, also höheres Leben, gäbe es nur auf der Erde. Davon sind die Autoren überzeugt. Wir Menschen und die Geschöpfe um uns herum seien einmalig im Universum! Man kann dies als neo-ptolemäische, geozentrische Weltsicht auffassen. Bei Claudius Ptolemäus war die Erde das physikalische Zentrum der Welt. Dieser Teil der Theorie ist wesentlich gewagter. Er ist auch am wenigsten durchdacht.

L2 entstand auf der Erde erst nach 3,4 Mrd. Jahren. Es benötigte Sauerstoff, flüssiges Wasser und passable Temperaturen. Sauerstoff gab es erst nach 2 Mrd. Jahren in signifikanten Mengen auf der Erde, erzeugt von Lebewesen der Form L1. Woher das viele Wasser kam, das auf der Erde ist, ist noch ungeklärt. L2 startete mehrmals und wurde mehrfach zerstört. Man schätzt heute, dass es in der Erdgeschichte 15 Katastrophen gab, die ein Massensterben zur Folge hatten. Am bekanntes sind das Perm-Trias- und das Kreide-Tertiär-Ereignis, abgekürzt  P/T- bzw. K/T- Ereignis.

Den Durchbruch erhielt das L2 durch die so genannte Kambrische Explosion vor 600 Mio. Jahren. Was alles dabei eine Rolle spielte, ist noch unbekannt. Die Anzahl der Arten, Familien und Stämme hat sich seither eher verkleinert als vergrößert. Ein Beispiel einer im Kambrium allgegenwärtigen, aber danach verschwundenen Klasse von Lebewesen sind die Triboliten. Den Dinosauriern und Säbeltigern ging es bei dem K/T-Ereignis an den Kragen. Nur kleine Tiere blieben übrig, darunter die Säugetiere. Man stellt sich heute das Ereignis als Einschlag eines Asteroiden auf der Halbinsel Yukatan vor. Er muss einen Durchmesser von mehreren Kilometern gehabt haben und traf die Erde vor etwa 65 Mio. Jahren. Das aufgeworfene Material umkreiste mehrmals die Erde und kam monatelang in der Form von Meteoriten herunter. Der Himmel war verdunkelt, die Temperaturen sanken. Dass L2 heute existiert, sei reine Glückssache.

Die Evolution kann zu komplexen Lebensformen führen, muss aber nicht. Auf jeden Fall wirkt sie ungleichmäßig und in Sprüngen. Die Entwicklung von Schalen, Skeletten und Kiefern aus Kalk erwies sich für L 2 vorteilhaft. [Ich bin geneigt hinzufügen: Ob die Hervorbringung von Intelligenz diesen Effekt aus Sicht der Erde auch hat, muss sich noch herausstellen]

Um L2 zu ermöglichen, verfügt die Erde über besonders günstige Bedingungen. Sie ist nicht zu kalt und nicht zu warm. Die tödlichen Bombardements haben aufgehört. Die kosmische Strahlung hält sich im Rahmen. Das Verhältnis von Ozeanen zu Landmassen schafft ein stabiles irdisches Klima. Als einziger uns bekannter Himmelskörper verfügt nur die Erde über eine nennenswerte Plattentektonik. Diese fördert neues Material nach oben und begünstigt die Entstehung der Artenvielfalt (Diversität). Dadurch verbessern sich die Überlebenschancen für L2. Wir Menschen stellen in dieser Hinsicht eine Gefahr dar. Nicht nur verschlechtern wir die Lebensbedingungen für einige Arten. Wir haben sogar schon einige eliminiert und treiben es weiter. L1 zu eliminieren, dazu haben wir keine Chance. Es könnte jederzeit aus dem Weltall zurückkehren.

Der von Frank Drake 1961 angegebenen Formel für die Wahrscheinlichkeit von Zivilisationen im Weltall wird eine verbesserte Formel gegenübergestellt. Da die Autoren der Meinung sind, dass es kein L2 außerhalb der Erde gibt, ist das Ganze etwas witzlos. Obwohl zugestanden wird, dass sowohl L1 wie L2 anderswo ganz andere Eigenschaften haben könnten als auf der Erde, werden nur die Bedingungen als relevant angesehen, die auf der Erde eine Rolle gespielt haben mögen. Oder anders gesagt: Da wir nicht wissen, welche Formen von Leben möglich sind, wieso können wir angeben, welche Bedingungen zu seiner Entstehung beitragen oder nicht? Diese Ungewissheit verfolgte mich während des ganzen Buches.

Nach Ansicht der Autoren zielten neuere Untersuchungen und Weltraumprojekte darauf, die beiden Theorien des Buches (L1 überall, L2 nur auf der Erde) zu bestätigen oder zu widerlegen. Das Projekt SETI sucht seit 1990 nach Nachrichten von intelligenten Wesen (also L2) im Weltall. Es wurden bisher keine Signale festgestellt, also auch kein Widerspruch zur Theorie. Die Mondgesteine, die Apollo 11 zur Erde brachte, waren steril. Die Viking-Sonden auf Mars fanden auch nichts, nicht einmal Mikroben. Außer Mond und Mars gibt es noch viele zu untersuchende Himmelskörper. Es darf also weiter spekuliert werden.
                                                                                     
Außer den beiden erwähnten Theorien müsste noch eine dritte Möglichkeit in Betracht gezogen werden. Sie wird von den Autoren im Schlusskapitel angedeutet. Vertreter von außerirdischem L2 könnten die Erde entdeckt haben. Sie fanden sie so einmalig, dass sie beschlossen, sie wie einen Zoo zu behandeln. Sie halten nicht nur sich selbst versteckt, sondern sorgen auch dafür, dass kein fremdes L1 oder L2 zu uns gelangt. Diese Theorie ist nur dann widerlegbar, wenn den Außerirdischen ein Fehler unterlaufen würde. Auf den Absturz eines UFOs wartet man schon lange.

Samstag, 21. Juli 2012

Nizza – da arbeiten, wo andere Urlaub machen

Was hätte ich mir Schöneres wünschen können, als frisch verheiratetet an die Côte d‘ Azur versetzt zu werden. Von April 1962 bis September 1963 traf es mich. Anfang 1962 erfuhr ich, dass Mitarbeiter gesucht würden für ein Projekt im französischen Labor der Firma in La Gaude bei Nizza. Ich meldete mich und wurde kurz darauf von dem englischen Projektleiter (Ken Hanford) in Stuttgart interviewt. Er fand, dass meine Qualifikation ausreichte und er machte mir ein Angebot.

Für das Drum und Dran der Abordnung gäbe es jemanden in der deutschen Personalabteilung, der dafür zuständig sei. Dieser Herr erklärte mir, welche Umzugskosten die Firma übernimmt und wie hoch die Ausgleichszahlungen für die höhere Miete und die Lebenshaltungskosten seien. Da sich dies alles sehr gut anhörte, beschlossen meine Frau und ich, dieses Experiment zu wagen. Wir wussten, dass meiner Frau das größere Opfer zugemutet wurde. Sie musste ihre berufliche Tätigkeit in Deutschland aufgeben und es war wenig wahrscheinlich, dass sie in Frankreich etwas Gleichwertiges finden könnte. Wir machten uns also auf nach Nizza. Dort lief alles wie am Schnürchen. Wir wohnten zunächst im einzigen Hotel der Stadt mit einem Schwimmbecken auf dem Dach (dem Hotel Splendid), bis dass wir eine Wohnung gefunden hatten.

Anfänge der Programmiersprachen

In meiner Düsseldorfer Zeit von 1959 bis 1962 hatte ich die Anfänge höherer Programmiersprachen kennen gelernt. Ich hatte sowohl mit COBOL gearbeitet als auch mit Fortran. Das gab mir sehr wichtige Vorkenntnisse für die in der Fachwelt jetzt anstehenden Fragen. Fortran war von einem Team entwickelt worden, das für einen bestimmten Hersteller (IBM) arbeitete. Außerdem hatten die Entwickler sich bemüht, für die Sprache einen Kompromiss zu finden zwischen guter Lesbarkeit durch den Menschen und effizienter Übersetzbarkeit durch die Maschine. Da höhere Sprachen sich erst noch durchsetzen mussten gegenüber der Programmierung in Maschinensprache wurde im Zweifelsfalle der Effizienz Vorzug gegeben. Dass dies richtig war, bewies der unglaubliche Siegeszug für Fortran, der heute nach 50 Jahren noch nicht beendet ist. Gegen beide Aspekte, Herstellerabhängigkeit und Effizienzrücksicht, entstand eine Gegenbewegung. Sie wurde nicht von Ingenieuren sondern von mathematisch inspirierten Kollegen getragen.

Es entstand der Vorschlag für eine Programmiersprache, die praktische Mathematiker besonders ansprechen sollte. Nach mehreren Iterationen erhielt sie den Namen Algol 60. Algol ist eine Abkürzung für ‚Algorithmic Language‘; die Zahl 60 steht für 1960, das Entstehungsjahr der Sprachdefinition. Gegenüber Fortran erschienen mir zwei Eigenschaften wesentlich, die Groß- und Kleinschreibung von Variablennamen und die Rekursion. Für Ingenieure und theoretisch arbeitende Mathematiker sind beides keine weltbewegenden Aspekte.

Die Groß- und Kleinschreibung von Variablennamen setzt einen größeren Zeichensatz voraus, als normalerweise bei Lochkartengeräten zur Verfügung steht. Programme wurden damals fast nur über Lochkarten in die Rechner eingegeben, zumindest bei IBM. Unter Rekursion versteht man in der Mathematik, wenn für eine Definition einer Funktion die Definition selbst benutzt wird. Manche Leute werden schon stutzig, wenn sie dies hören. Es gestattet dies in manchen Fällen sehr elegante Definitionen, wenn dadurch die Benutzung von Iterationen vermieden werden kann. Der Preis, der für diese mathematische Raffinesse von einem Übersetzerbauer bezahlt werden muss, steht in keinem Verhältnis zum Nutzen.

Die Sprache COBOL hat da ihre Stärken, wo Fortran (und natürlich auch Algol) schwach sind. Im Mittelpunkt stand bei COBOL die Frage, wie Datenelemente, Sätze und Dateien beschrieben werden können. Dafür gab es einen Programmteil, Data Division genannt, der nur einmal geschrieben werden musste für alle Programme, die dieselben Daten verwandten. Diese Beschreibungen bildeten die Basis für so genannte Datenverzeichnisse (engl. ‚data dictionaries‘). Außerdem gab es sehr ausgefeilte Möglichkeiten, um das Erscheinungsbild festzulegen, wie Daten in einem Druckformular oder auf dem Bildschirm aussehen sollten. Erst durch die Sprache Pascal wurde ähnliche Konzepte auch anderswo bekannt gemacht.

Projekt Algol und das französische Labor der IBM

Bei dem Projekt ging es darum, einen Algol-Übersetzer für einen schon länger im Markt befindlichen Rechner (IBM 7090) zu entwickeln. Unsere Projektgruppe umfasste Mitglieder aus verschiedenen europäischen Ländern. Neben dem Projektleiter gab es einem weiteren Engländer, je einen Franzosen, Holländer, Österreicher und Schweden und drei Deutsche. Während ich aus Düsseldorf dazu stieß, kamen die beiden andern deutschen Kollegen aus dem Stuttgarter Raum und waren beides Schwaben. Einer von ihnen war Junggeselle; der andere war verheiratet und hatte einen dreijährigen Sohn. Mit einer Ausnahme (Peter Lucas aus Wien) waren alle Beteiligten Neulinge auf dem Gebiet des Übersetzerbaus.


IBM Labor in La Gaude (Foto IBM)

Auf die technischen Aspekte des Algol-Projekts will ich hier nicht weiter eingehen. Das Projekt wurde Anfang 1963 (genau am 1. April) abgebrochen, da IBM sich verstärkt auf die nächste Generation von Rechnern (das spätere System/360) konzen­trieren wollte. Erwähnen möchte ich noch, dass ich aufgrund meiner COBOL-Kenntnisse damit beauftragt wurde, die Firma IBM bei den Bemühungen zu vertreten, die darauf zielten für COBOL in Europa einem offiziellen Standard festzulegen. Federführend war dafür ein Zusammenschluss aller europäischen Rechnerhersteller, ECMA genannt (engl. European Computer Manufacturers‘ Association). ECMA hatte seinen Sitz in Genf. Um die Standardisierung zu unterstützen, sollte auch eine Übersetzung der COBOL-Sprachelemente in Deutsch, Französisch und Spanisch vorgenommen werden. Über das Schicksal dieses Teilprojekts berichtete ich in meinen Erinnerungen an Heinz Schappert.

NB: Später erfuhr ich, dass ein Versuch, für dieselbe Maschine einen Algol-Übersetzer zu entwickeln, an der University of Illinois unter dem Namen ALCOR Illinois unternommen worden war. Es war dort, wo zwei Münchner Kollegen, die ich später sehr gut kennenlernte (Manfred Paul und Rüdiger Wiehle) ihre beruflichen Sporen verdienten. Ab 1964 wurde ein Algol 60 Compiler für die neue Rechnergeneration der IBM, das System/360, im Böblinger Labor von Hans-Jürgen Hoffmann und seinen Mitarbeitern entwickelt. Als dieses Projekt von Deutschland nach Schweden transferiert wurde, verließ Hoffmann die IBM, um Professor in Darmstadt zu werden.

Für die übrigen meist in Hardware-Projekten engagierten französischen Mitarbeiter des Labors waren wir eine Exotengruppe. Die Atmosphäre des Labors, vor allem das Essen, gefiel uns sehr gut. Das Labor in La Gaude hatte einen deutsch sprechenden Mitarbeiter damit betraut, uns Dreien bei der Wohnungssuche und bei Behördengängen zur Verfügung zu stehen. La Gaude ist eine Kleinstadt nordwestlich von Nizza auf halber Höhe. Wie ihre Nachbarstadt Vence ist La Gaude direkt an die Ausläufer der Seealpen gepresst. Über der Stadt ragt ein hoher Tafelberg. Das IBM Labor wurde von einem bekannten Architekten als großes X und auf Stelzen stehend in die Landschaft gesetzt. Es war erst, kurz bevor ich dorthin kam, bezogen worden.

Als junge Familie in einer Ferienumgebung

Wir fanden innerhalb von wenigen Tagen eine Wohnung in einer modernen Wohnanlage nicht weit von der Uferpromenade, der Promenade des Anglais. Der Stadtteil von Nizza heißt La Californie. Die Miete war zwar höher als wir es erwartet hatten, aber diese Art Wohnungen, so hieß es, hat halt ihren Preis. Sie werden meist nur für kurze Perioden als Ferienwohnungen vermietet. In unserem Falle war der Eigentümer ein Franzose, der in Algerien lebte. Da wegen der politischen Entwicklung in Algerien der Eigentümer plötzlich die Wohnung selber benötigte, mussten wir nach etwa einem Jahr umziehen. Wir fanden zum Glück in derselben Wohnanlage eine ähnlich schöne Wohnung, die sogar vom Balkon aus einen Blick auf die Altstadt und die Bucht von Nizza bot.


Blick vom Balkon unserer Wohnung

In meiner ganzen beruflichen Laufbahn hielt ich mich nie so exakt an die tägliche Arbeitszeit wie hier. Da alle drei deutschen Projektmitarbeiter im Stadtgebiet von Nizza wohnten, bildeten wir eine Fahrgemeinschaft. Jeder von uns fuhr nur jeden dritten Tag im eigenen Auto die etwa 10 Km zum Labor. Im Falle der beiden verheirateten Männer brachten uns unsere Ehefrauen morgens zum vereinbarten Treffpunkt. Am selben Treffpunkt warteten sie bereits nachmittags gegen 17 Uhr. Im Sommer hatten sie dann meist die Badesachen dabei, so dass wir den Rest des Tages am Strand verbringen konnten.

Meist zog es uns dann in die westlichen Vororte von Nizza wie Cagnes und Antibes. Am Wochenende ging es schon einmal etwas weiter, sei es nach Cannes oder ins Estérel. Alle Freunde und Verwandte, die immer einmal nach Nizza wollten, hatten nun einen Grund mehr dies zu tun. Dass Nizza außer im Sommer auch im Winter attraktiv sein kann, war für uns neu. Ich unternahm meine ersten Ausflüge auf Skiern in uns bis dahin unbekannten Skiorten in den nahen Seealpen, so in Auron und Valberg.

Nachwuchsglück im Ausland

Während dieser Zeit lebten meine Frau und ich „wie Gott in Frankreich“. Meine Frau nahm Französisch-Kurse in der Berlitz-Schule und studierte die französische Kochkunst, sei es durch eigene Experimente oder den Besuch einheimischer Restaurants. Ein gewisses Unsicherheitsgefühl trat auf, als sich nach einem halben Jahr die Geburt unseres ersten Kindes ankündigte. Sollte man sich für die Geburt nicht lieber in eine deutsch sprechende Umgebung begeben, dachten wir. Wir taten es nicht. Die Geburt verlief ohne Komplikationen. 

Die Schwangerschaft meiner Frau stieß auf Interesse des französischen Staates. Er war bereit, finanzielle Zuwendungen zu zahlen, wenn meine Frau sich einer Reihe frühzeitiger Untersuchungen und ausführlichen Beratungen unterzog. Obwohl hier gewisse Grundkenntnisse der französischen Sprache erforderlich waren, ließ sie alles tapfer über sich ergehen. Als wir nach der Geburt wissen wollten, ob wir auch für die hohe Prämie in Frage kämen, von der manche französische Frauen während der Schwangerschaftskurse schwärmten („im Bauch ist meine neue Waschmaschine“), erhielten wir eine Absage. Die Prämie erhalten nur Eltern, deren Kinder die französische Staatsangehörigkeit besitzen. Dies können wir für unser Kind nur beantragen, wenn wir fünf Jahre im Lande gelebt haben.

Für die Geburt hatten wir eine private Kinderklinik (Sainte Hélène) ausgesucht. Ich hatte meine Frau mittags hingebracht. Zwei Stunden später erhielt ich den Anruf, dass die Geburt abgeschlossen sei. Als ich wieder am Eingang der Klinik erschien, wurde ich mit folgenden Worten begrüßt: „Congratulation! Vous avez une petite jolie fille“. Unter der wissenschaftlich gut fundierten Pflege von Mutter und Großmutter gedieh unsere Tochter prächtig.

Erwähnen möchte ich noch, dass meine Frau fast in den Ruf kam, keinen Ehemann zu besitzen. Als ich mal wieder in Genf zu tun hatte, streikte das Personal von Air France, so dass ich die Rückreise per Bahn antreten musste. Die neue Zimmernachbarin meiner Frau machte große Augen, als nach vier Tagen doch ein Mann erschien. Dass das erste Kind etwas Besonderes ist, sei am Beispiel der Baby-Waage erklärt. Beim ersten Kind in Nizza hatten wir eine Waage gemietet und sie wurde jeden Tag zweimal benutzt. Beim zweiten Kind in den USA mieteten wir wieder eine Waage, benutzten sie jedoch nicht. Beim dritten Kind mieteten wir keine Waage mehr.

Leben und Erlebtes an der Côte d‘Azur

Es gehört zu den weit verbreiteten Meinungen über Nizza, dass es hier weder Frost noch Schnee gibt. Unsere Wohnung in Nizza war nicht nur im Sommer, sondern auch im Winter bewohnbar. Sie verfügte über eine Fußbodenheizung. Nicht so gut dran war ein Kollege, der direkt im Ort La Gaude wohnte. Seine Wohnung hatte keine Heizung. Dafür besaß sie einen Wassertank, der in Dachhöhe neben dem Haus montiert war. Als plötzlich nicht nur Schnee fiel, sondern es auch einige Nächte fror, hatte der gute Kollege weder Heizung noch fließendes Wasser. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als für einige Tage in ein Hotel umzuziehen.

Dass Schnee sehr ungewöhnlich war, wusste auch die Leitung des IBM Labors. Einmal fielen schon tagsüber drei Millimeter Schnee. Gegen Mittag verkündete daher die Laborleitung, dass das Labor um 15 Uhr schließen würde, damit alle Mitarbeiter sicher nach Hause kämen. Mehrere französische Mitarbeiter trauten sich dennoch nicht, im eigenen Auto die kurvenreiche Strecke von La Gaude nach Nizza zu fahren. Deshalb bot sich einer unserer drei deutschen Mitarbeiter an, die Wagen einiger französischer Kollegen den Berg hinunter zu fahren. Wer ihn wieder nach oben brachte, um seinen eigenen Wagen zu holen, weiß ich nicht mehr. Von den französischen Kollegen im Labor haben wir natürlich auch einiges gelernt. Dazu gehört die im Süden Frankreichs übliche Form des Boule- oder Boccia-Spiels. Es heißt hier Petanque. In jeder Mittagspause wurden im Umfeld des Labors mehrere Partien ausgetragen, an denen wir teilnehmen konnten.

Die Küche von Nizza besitzt einige Besonderheiten. Den Salat aus Nizza (Salade niçoise) kennt man auch bei uns und er enthält keine Überraschungen. Anders ist es mit Ratatouille und Tripes. Beim Ersteren handelt es sich um ein undefinierbares Gemüse (bestehend aus Tomaten, Kürbis und Auberginen). Tripes kennt der Schwabe unter der Bezeichnung Innereien. Ich habe diese nur einmal bestellt, meine schwäbischen Kollegen schon mal öfters. Gab es besonders schöne Fleischstücke in der Kantine des Labors, konnte man fast sicher sein, dass es sich um Pferdefleisch handelte. Ich hatte in diesem Falle nicht die geringsten Hemmungen, wissend, dass Pferde zu den heikelsten Haustieren gehören, was ihr Futter betrifft. Die Fischsuppe Bouillabaisse wird zwar eher mit Marseille in Verbindung gebracht als mit Nizza. Als ein Kollege und ich sie einmal bestellten, aß ich davon nur die wenigen mir erkennbaren Fischteile. Mein Kollege aß die ganze Terrine leer, so als ob es eine Erbsensuppe wäre. Am nächsten Tag kam er nicht zur Arbeit.


Wochenende am Strand von Cannes

Im Hafen von Nizza gab es eine Besonderheit, die am offenen Straßenfenster verkauft wurde. Es war dies eine Art Pfannkuchen aus Hirsemehl (den Namen habe ich vergessen). Er schmeckte ausgezeichnet, besonders gut, mit einem Glas Rotwein dazu. In den Selbstbedienungsläden (im Supermarché) in der Californie war Rotwein billiger als Milch. Es gab Zweiliterflaschen für weniger als zwei Franken (etwa eine D-Mark). Mineralwasser kostete je nach Marke weniger oder mehr. Wenn Ebbe in der Kasse war, konnte man zur Not von Tomaten, Brot und Wein leben. Manche Einheimische sollen davon gelebt haben, und nicht nur in Notzeiten.

Mit dem Brot gab es allerdings ein Problem. Nur ganz am Anfang gaben wir uns der Illusion hin, dass man bei einem Bäcker immer Brot bekommt. Es gab dies nämlich nur dreimal am Tage, morgens um 8 Uhr, mittags um 12 Uhr und abends um 18 Uhr. Sobald das frisch gebackene Brot verkauft war, konnte man bestenfalls noch ein paar Zwiebacke bekommen, die in einer versiegelten Packung angeboten wurden. Als Abschiedsgeschenk kaufte ich meiner Frau ein dickes buntes französisches Kochbuch. Erst bei dem detaillierten Studium einiger Rezepte stellten wir fest, dass die dort benutzten Mengenangaben nicht für den Privathaushalt, sondern nur für große Betriebs- oder Hotelküchen geeignet waren.

In der Firma hatte ich nie ein Sprachproblem. Immer gab es jemand, der mir mit Englisch weiterhalf, sollte mein Versuch eine Konversation in Französisch zu beginnen, scheitern. Anders war es im privaten Umgang. Gingen wir zum Einkaufen, gaben wir immer einem Selbstbedienungsladen den Vorzug. War das Geschäft darauf nicht eingerichtet, haben wir es einfach umfunktioniert. Man zeigte mit den Fingern auf das, was man haben wollte, und hielt dem Verkäufer einen möglichst großen Geldschein hin. Manchmal versagte auch diese Methode.

Als ich von einem Frisör, auf dessen Stuhl ich bereits saß, gefragt wurde, wie er meine Haare schneiden sollte, sagte ich ihm, natürlich auf französisch, möglichst kurz. „Ah, comme les soldats“ war seine Reaktion. Ich verließ seinen Stuhl, nur mit Stoppeln auf dem Kopf. Was mir oben gegen meinen Willen an Haaren geraubt worden war, wollte ich wenigstens teilweise kompensieren. So wie viele Franzosen in der Gegend, ließ ich mir einen relativ schmalen  Schnurbart wachsen. In Frankreich sagte niemand etwas. Wo ich damit auffiel, war zuhause in Deutschland. Nicht dass jemand mich deshalb angesprochen hätte. Des Öfteren konnte ich jedoch feststellen, dass am Nebentisch das Gespräch plötzlich auf Bärte kam.

Da ich Französisch als erste Fremdsprache hatte, konnte ich alles lesen und vieles verstehen. Nur mit dem Sprechen haperte es etwas. Unsere Frauen waren teilweise besser, teilweise schlechter dran als wir Männer. So meinte meine Frau, dass ihre blonden Haare ihr im Straßenverkehr von Vorteil gewesen seien. Immer wieder hätten männliche Autofahrer ihr die Vorfahrt eingeräumt, ob berechtigt oder unberechtigt.

Wie Kinder mit dieser Situation fertig werden, bewies der dreijährige Sohn meines Kollegen. Als eine Kindergärtnerin sich bei seiner Mutter darüber beschwerte, dass der Sohn immer wieder mit anderen Kindern streiten würde, gab der Sohn die folgende Erklärung dazu: „Einige von den Kindern haben Dinge zu mir gesagt, die ich nicht verstanden habe. Deshalb habe ich sie sicherheitshalber verhauen“. Dass Kinder schneller als Erwachsene lernen, bewies dasselbe Kind. Wenn seine Mutter an einer Tankstelle vorfuhr, und der Tankwart nicht verstand, was sie wollte, schrie der Sohn aus dem Auto: „Plein, s’il vous plait“. Das heißt „Volltanken!“ auf Deutsch.

Jährlicher Blumenkorso

Beginnend mit dem Blumenkorso im Mai ist Nizza den ganzen Sommer über von Touristen überlaufen. Schlagartig mit der ersten Septemberwoche wird es dann  relativ ruhig. In der Lokalzeitung (Nice Matin) häufen sich dann die Berichte über Familienfeiern und gesellschaftliche Ereignisse. Auch das Umland verdient dann schon mal Interesse, wie die Bergschlucht Gorge de Loup, oder das Musée Leger in Biot oder die Bilder von Matisse und die Skulpturen von Picasso in Grasse bzw. Vallauris.

Eine besonders schöne Erinnerung verbinden wir mit dem Besuch eines weihnachtlichen Volkstheaters in einem Bergdorf in der Nähe von Sospel. Wie in einer italienischen Oper konnten wir zwar keine Texte verstehen, dafür waren aber die Bühnenszenen umso aussagekräftiger. Selbst beste Französisch-Kenntnisse hätten uns nur zum Teil geholfen. Alle Schauspieler sprachen die lokale Mundart, die dem Italienischen näher kommt als dem Französischen. Nach der Vorstellung, also fast um Mitternacht, gab es für alle Teilnehmer noch ein festliches Essen.

Der deutsche Kollege, der unverheiratet war, fiel bei Einheimischen wie bei den Mitgereisten durch einige besondere Marotten auf. So war er im April weit und breit der Einzige, der im Meer badete. Etwa einmal pro Vierteljahr fuhr er zur großen Einkaufstour nach Stuttgart. Er könne von dem, was es hier gebe, nicht leben, meinte er als Schwabe. Er kam dann zurück mit deutschen Konserven, deutschem Brot und deutscher Wurst. Das Einzige, was wir tatsächlich vermissten, war deutsches Schwarzbrot. Als wir ihn baten, bei seiner nächsten Einkaufstour in diesem Punkte an uns zu denken, willigte er ein. Ziemlich überrascht war ich jedoch, als er mir eine Portion Schwarzbrot aus seinem Kofferraum überreichte. Für sich selbst hatte er noch etwa ein Dutzend Pakete dabei.

Abschied von der Riviera

Ehe wir Nizza verließen, machten meine Frau und ich noch eine Reise im eigenen Auto entlang der gesamten Riviera. Meine Schwiegermutter blieb mit unserer Tochter in Nizza. Zuerst fuhren wir nach Westen über Marseille hinaus bis in die Camargue. Anschließend fuhren wir in Richtung Osten zur italienischen Riviera und kamen bis nach Genua und Portofino.


Im Hafen von Cassis

Einige Ereignisse dieser Fahrten blieben im Gedächtnis. Der Ritt auf einem für die Camargue so typischen Schimmel war nur anfangs so vergnüglich. Bald darauf entschied das Pferd, dass es jetzt lieber in seinen Stall möchte. Es setzte diesen Entschluss sofort in die Tat um, unabhängig davon was Reiterin oder Begleiter dachten. Die als Trost gedachten Wachteln, die es in einem Restaurant in Les Saintes Maries de la Mer zum Abendessen gab, erwiesen sich als sehr zierlich. Da der Monat August vorbei war, gab es auf der französischen Seite der Riviera kaum noch Touristen. In ganz Frankreich waren die Ferien zu Ende.

An der italienischen Seite der Riviera war noch lebhafter Betrieb, vor allem in Savona und San Remo. Die Stadt Genua beeindruckte mit schönen Geschäften. Der Ausflug nach Portofino endete vorschnell. Es muss an einem Sonntag gewesen sein. Nachdem wir uns in einer kilometerlangen Schlange der Stadt genähert hatten, schickte uns die Polizei wieder in die umgekehrte Richtung, da es in der ganzen Ortschaft keinen freien Parkplatz gab.

Spätere Besuche in Nizza

Die Verbindung nach Nizza riss auch später nicht ab. Da auch später immer wieder Kollegen aus beruflichen Gründen nach Nizza versetzt wurden, ergab sich 1971 eine Gelegenheit, mit drei kleinen Kindern einen Urlaub in Nizza zu verbringen. Wir tauschten einfach die Wohnungen. Der Kollege verbrachte seinen Deutschland-Urlaub in unserem Haus in Sindelfingen und wir nutzten seine Wohnung in Nizza. Es war dies eine Penthouse-Wohnung in einem mehrgeschossigen Haus. Man fuhr per Fahrstuhl direkt in die Wohnung. Von der Terrasse gab es einen herrlichen Blick auf das Mittelmeer. Baden konnte man im hauseigenen Schwimmbecken.

Als unsere in Nizza geborene Tochter im Jahre 2000 mit Mann und Kindern ihren Sommerurlaub im Estérel einplante, schlossen meine Frau und ich uns an. Wir konnten ihr zeigen, in welcher paradiesischen Gegend sie vor 37 Jahren auf die Welt gekommen war. Im Sommer 2010 verbrachten meine Frau und ich einen gemeinsamen Urlaub in Antibes und besuchten Orte und Freunde, die wir kannten, aber auch neue Attraktionen wie das Museum der modernen Kunst in Nizza.