Nach meinem Beitrag über Higgs
vor einer Woche tauschten sich meine Freunde Hans Diel und Peter Hiemann weiter
intensiv darüber aus, welches Gebiet welche Fragen besser lösen kann, Physik
oder Biologie. Ich gebe die wesentlichen Teile der Diskussion wieder. Um das
Lesen zu vereinfachen, füge ich einige Kommentare an den Stellen ein, auf die
sie sich bezogen und verlasse damit etwas die chronologische Sequenz.
Am 8.7.20 12 schrieb Hans Diel aus Sindelfingen:
…es besteht kein Zweifel (meinerseits), dass die Hervorbringung
intelligenter Systeme dem Teil der Natur vorbehalten war, der durch die
Biologie beschrieben wird, und nur zu geringem oder keinem Ausmaß dem Teil, der
durch die Physik beschrieben wird. Dies ist eine ganz triviale Folge der
Aufgaben- und Themenaufteilung zwischen den beiden naturwissenschaftlichen
Disziplinen.
Genauso wie auch die unterschiedliche Vorhersagefähigkeit der beiden
Disziplinen eine Folge der Aufgaben- und Themenaufteilung ist, und nicht
etwa eine Folge der unterschiedlichen Qualität von Physikern einerseits und
Biologen andererseits. Deshalb kann man auch den Biologen keinen Vorwurf
machen, dass das Thema "Hervorbringung von Intelligenz" zweifellos in ihr Themenbereich fällt, sie es aber bisher nicht geschafft haben,
eine nur einigermaßen überzeugende Theorie bzgl. der Faktoren und Prozesse, die
zur Entstehung von Intelligenz führen, gefunden zu haben.
Am 10.7.2012, 13:54 Uhr, schrieb
Peter Hiemann aus Grasse:
Ich beurteile den Stand des heutigen neurologischen Wissens etwas
positiver. Vorab etwas zur Bedeutung dessen, was ich mit dem Wort „Intelligenz“
verknüpfe. Landläufig spricht man von „Intelligenz“, wenn man zum Ausdruck
bringen will, dass man einem Menschen „intelligentes Verhalten“ zutraut. Ich
verstehe darunter alle Phänomene, die Ausdruck neuronaler Prozesse sind.
Neurobiologen befassen sich generell mit den Funktionen von Nervenzellen und
neuronalen Netzwerken. Auf Grund meiner Studien kann ich Sie auf ein paar Arbeiten
renommierter Neurobiologen hinweisen.
Berühmt sind Eric
Kandels Arbeiten, der für seine Forschungen das relativ einfache
Nervensystem der Meeresschnecke Aplysia californica benutzte. Was er dabei herausfand,
hat er in seinem Buch „Auf der Suche nach dem Gedächtnis – Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes“ beschrieben. Kandel erhielt für seine Arbeiten im
Jahre 2000 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin (zusammen mit dem Schweden Arvid
Carlsson und dem US-Amerikaner Paul Greengard für ihre Entdeckungen betreffend
der Signalübertragung im Nervensystem).
Gerald Edelman
und Giulio Tonini haben überzeugende Resultate ihrer Arbeiten am Neuroscience
Institute in San Diego, Kalifornien 2000 in dem Buch „A Universe of
Conciousness“ auch für einen weiten Kreis von Lesern (nicht nur Spezialisten)
publiziert. Das Buch ist auch auf Deutsch unter dem Titel „Gehirn und Geist – Wie aus Materie Bewusstsein entsteht“ verfügbar. Teil ihres Forschungsprojekts
war die Entwicklung eines umfassenden Computermodells der kortikalen
Integration.
Ein anderer prominenter Neurobiologe ist Antonio Damasio.
Er und dessen Frau Hanna betreiben Hirnforschung mittels Analysen an
gehirngeschädigten Patienten. Damasio beschreibt, welche menschlichen
Gehirnstrukturen wie aktiv werden und interagieren, um ein Selbst zu kreieren,
das sich seiner selbst und seiner Umgebung bewusst wird bzw. ist. Damasios
Arbeitshypothese unterscheidet drei Stufen des Selbst:
- Das Protoselbst ist eine neuronale Beschreibung relativ stabiler Aspekte des Organismus (zum Beispiel Sinneswahrnehmung, Immunsystem).
- Ein Puls eines Kern-Selbsts wird erzeugt, wenn das Protoselbst durch eine Interaktion zwischen dem Organismus und einem Objekt verändert wird und sich dadurch die inneren Bilder (neuronale Karten) des Objekts verändern.
- Das autobiografische Selbst tritt in Erscheinung, wenn Objekte aus der eigenen Biografie Pulse des Kern-Selbst entstehen lassen, die zu einem großen, zusammenhängenden Muster verbunden werden.
Damasio hat die Resultate seiner Arbeit unter anderem in dem Buch
„Selbst ist der Mensch – Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins“ publiziert. Viele Aussagen Damasios gelten auch für weniger
komplexe Gehirne als das menschliche. Insbesondere sind alle neurologischen
Strukturen (d.h. Gehirne im weitesten Sinn) Organe mit der größten Dynamik und
Plastizität.
Je mehr ich über Neurobiologie erfahren habe, desto mehr stellt sich
mir die Frage, was menschliche Gehirne und menschliches Verhalten von
tierischen Gehirnen und Verhaltensweisen unterscheidet. Offensichtlich sind
nicht nur die Unterschiede der genetischen Programme von Schimpanse und Mensch
relativ gering, sondern auch deren Funktionen des zentralen Nervensystems. Was
macht Homo sapiens einzigartig?
Die Geschichte der Evolution neuronaler Strukturen ist eine sehr sehr
lange Geschichte. Vor vielleicht drei Millionen Jahren muss aber etwas passiert
sein, das den Beginn einer neuen Art in Richtung Homo markiert. Im Afar-Dreieck
(Äthiopien) entdeckten Archäologen das Teilskelett eines als weiblich
interpretierten Individuums der Art Australopithecus afarensis, dem sie den
Namen Lucy verpassten. Spätere Stufen der Art Homo bis hin zu Homo sapiens
unterscheiden sich in Größe und Komplexität ihrer Gehirne. Neurobiologen
vermuten, dass in Lucys archäologischer Epoche Mutationen des genetischen
Programmes der Primaten eine neue Fähigkeit der Kommunikation bewirkt haben,
die die Lernfähigkeit gravierend verbesserten. Der älteste Fund eines biologisch modernen Menschen (Homo sapiens
idaltu aus Äthiopien) sind 160.000 Jahre alte Schädelknochen. Mit der Fähigkeit
„Warum“ zu fragen und Antworten auszuwählen, die seinem Interesse und Überleben
dienlich sind, hat die Art Homo eine beachtliche Geistesgeschichte hingelegt.
Vielleicht helfen meine Aussagen, das Thema „Intelligenz“ etwas
umfassender darzustellen. Daran anknüpfend erlaube ich mir noch einen
zusätzlichen Hinweis hinsichtlich der unterschiedlichen Bedeutung von Physik
und Biologie. Die kurze Geschichte der Technologie und Industrialisierung ist
geprägt durch die Umsetzung (Anwendung) physikalischer Erkenntnisse in
technischen Erfindungen. Mir scheint, dass sich derzeit mehr wissenschaftliche
Mitarbeiter mit biotechnologischen Themen befassen als mit Fragestellungen der
theoretischen Physik.
Am 10.7.2012, 21:13 Uhr, schrieb
Hans Diel:
Bei Ihrer Antwort zeigt sich schnell und deutlich, dass Sie unter dem
Thema Intelligenz etwas anderes verstehen als ich. Sicher haben Sie dabei die
wissenschaftlich korrektere Definition. Sicher gibt es auch bei dem Thema,
welches Sie mit Intelligenz assoziieren, große Fortschritte in der
wissenschaftlichen Erkenntnis. Trotzdem glaube ich, dass es auf der Landkarte
der wissenschaftlichen Erkenntnis einen (unter mehreren) großen weißen Fleck
gibt, der für mich als Laien sehr beklagenswert ist. Um etwas präziser zu werden,
hole ich etwas weiter aus.
Vor mehreren Jahren las ich ein Buch mit dem Titel 'Unsere
einsame Erde' von P.D. Ward und
D. Brownlee (erschienen bereits in 2001). In diesem Buch erklären die Autoren, dass die Wahrscheinlichkeit im
Universum weiteres intelligentes Leben zu finden deutlich geringer ist als bisher
angenommen. In dem Buch werden dann alle Entwicklungsschritte, angefangen von der Sternen- und Planetenentstehung, über die Entstehung der Bakterien,
der Tiere, und schließlich der Herausbildung von Intelligenz beschrieben. Es wird beschrieben, welche Faktoren dabei
jeweils in ihrer Kombination wichtig waren. Für mich neu und erstaunlich
war, dass anscheinend je besser man gewisse Prozesse heute versteht, umso deutlicher
wird, wie sehr die Prozesse vom Zusammenspiel vieler Faktoren mit geringer
Wahrscheinlichkeit abhängen.
Wie gesagt, bei den meisten dieser Entwicklungsschritte versteht man
heutzutage viel besser als noch vor 50 Jahren, welche Faktoren wichtig sind für
das Zustandekommen eines Schritts hin zur Entwicklung Intelligenten Lebens. Nur
an zwei Stellen hatte ich den Eindruck, dass man heute nicht wesentlich mehr
weiss als vor 50 Jahren (und dies bedeutet, man weiß immer noch relativ wenig).
Das eine ist die Entstehung der Bakterien, und das zweite ist die
Herausbildung von Intelligenz.
Um die schwierige Frage der Definition von Intelligenz zu umgehen,
lassen Sie mich ein Gedankenexperiment erfinden. Nehmen Sie an, im Jahr 3000 hat
man folgende Situation:
· - Man kennt 300 Milliarden Planeten, die die
mittlerweile bekannten Bedingungen für die Entstehung von Lebewesen wie
den Tieren liefern.
o Kommentar
PH: Man kann nur Bedingungen angeben, die die Entstehung lebender Strukturen
ermöglichen. Es ist unmöglich
Bedingungen anzugeben, die festlegen, wie die Evolution lebender Strukturen
verlaufen würde.
· - Man hat eine Kommunikationstechnik, mit der
diesen Planeten innerhalb von Jahren Nachrichten zugesandt werden können.
o Kommentar
PH: Während jede Kommunikationstechnik denkbar ist, ist es unmöglich, den
meisten der möglichen Planeten „innerhalb von Jahren“ eine Nachricht zukommen
zu lassen. Im Universum muss man in gewaltigen Größenordnungen von Lichtjahren
rechnen, die eine fortlaufende Kommunikation unmöglich machen.
· - Man ist in der Lage Details der
Lebensbedingungen auf diesen Planeten zu ermitteln (z.B. Klima, Artenvielfalt,
Nahrungsvorhandensein, etc.).
o Kommentar
PH: Es ist unmöglich Bedingungen für Artenvielfalt zu ermitteln.
· - Man möchte mit denjenigen Planeten in Kontakt
treten, bei denen eine signifikante Wahrscheinlichkeit besteht, dass es dort
"Intelligentes Leben" gibt .Aus gewissen Gründen (z.B. Budget)
ist es wichtig, sich auf den kleineren Teil der 300 Milliarden Planeten zu
konzentrieren, für die man die Wahrscheinlichkeit für
"Intelligentes Leben" zu größer 1 % errechnet hat.
o Kommentar
PH: Eine Wahrscheinlichkeit für die Existenz „Intelligenten Leben“ anzugeben
ist genauso unmöglich wie Bedingungen für die Existenz von Artenvielfalt.
Trotzdem, unter der Annahme, dass alle möglichen evolutionären Verzweigungen
seit Existenz eines ursprünglichen genetischen Programmes für eine solche
Berechnung herangezogen werden könnten, ergäbe sich eine äußerst geringe
Wahrscheinlichkeit einer speziellen Art. Um eine solche Wahrscheinlichkeit für
die Entwicklung (Evolution!) „Intelligenten Lebens“ auf der Erde anzugeben,
müsste man die Menge aller Mutationen
aller genetischen Programme aller je gelebten terrestrischen Arten kennen. Die
möglichen Mutationen müssten auch alle möglichen Kombinationen berücksichtigen,
an welchen Stellen eines genetischen Programmes die Mutationen erfolgt sein
könnten.
· - Als Planet der "Intelligentes Leben"
beherbergt hat man ganz pragmatisch definiert "Der Planet beherbergt
Lebewesen die in der Lage sind (a) unsere Signale zu empfangen und zu
dekodieren, (b) unsere Darstellung des Satzes des Pythagoras als solches zu
erkennen, (c) eine Antwort zu schicken."
o Kein
Kommentar PH.
Meine Behauptungen:
· - Heute (2012) ist man nicht in der Lage, Faktoren
anzugeben, die die Wahrscheinlichkeit für Leben einengen, zur Wahrscheinlichkeit
für "Intelligentes Leben".
o Kommentar
PH: Wie bereits gesagt, eine Wahrscheinlichkeit für die Existenz „Intelligenten
Leben“ anzugeben ist unmöglich. Ich vermute, dass keine speziellen Faktoren die
Evolution des genetischen Programmes einer Nervenzelle bewirkt haben.
Vermutlich handelt es sich bei Nervenzellen um die Anreicherung von
Zelleigenschaften, die den Austausch von molekularer Information (nach innen und
außen) ermöglichten. Ein ZNS ermöglicht komplexen Organismen zusätzlich den Austausch
komplexer sinnlich wahrnehmbarer Informationen. Die Faktoren, die bewirken,
dass sich ein individuelles „Ich“ intelligent verhält, vermute ich in
gesellschaftlichen und sozialen Verhaltensregeln.
· - Niemand versteht, wie es dazu kam, dass das Tier
Mensch den Satz des Pythagoras gefunden hat, das Tier Löwe und Hund, etc.
jedoch davon noch weit entfernt ist.
o Kommentar
PH: Die Organismen einer Vielzahl von Ameisenarten sind hervorragend angepasst
an vielfältige natürliche Umgebungen. Deren erfolgreiche genetische Programme
werden unverändert von Folgegeneration übernommen. Das gleiche gilt für alle
erfolgreichen Arten. Das Tier Mensch hat zusätzlich den Satz des Pythagoras
gefunden, weil es als einzige Art die Fähigkeit besitzt (sein „Ich“),
abstrakte geistige Strukturen mit Hilfe
geistiger Symbole zu bilden und zu
kommunizieren. Wenn es darauf ankommt,
haben die genetischen Programme der Ameisen die bei weitem bessere Chance zu
überleben als das wesentlich komplexere genetische Programm des Homo sapiens.
Kommentar
HD: Es geht hier nicht um die Wahrscheinlichkeit des Überlebens, sondern um
folgendes: Nehmen Sie an die Menschheit stirbt aus (z.B. weil die
Fortpflanzung aus medizinischen Gründen nicht mehr klappt). Halten Sie es für denkbar oder ausgeschlossen,
dass in 100 Million Jahren irgendeine Spezies
(z.B. Delphine) auf der Erde so intelligent ist, dass sie den Satz des Pythagoras
entdeckt?
· - Angenommen, es gibt auf der Erde 10000 Arten, die
prinzipiell Kandidaten für Intelligenz sind, aber nur eine Art, die man nach
meiner willkürlichen Definition (Pythagoras, ... ) als intelligent bezeichnen
kann. Niemand weiß, ob deswegen die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung von
"Intelligentem Leben" während der bisherigen Entwicklungsgeschichte
der Erde 1:10000 betrug, oder 1:100 oder 1:1000000.
o Kommentar
PH: Die biologische Evolution des Homo sapiens gilt als abgeschlossen. Eine
Vergrößerung seines Gehirns wäre
anatomisch unmöglich, weil es die natürliche Geburt gefährden würde. Es
gibt keine weiteren existierenden Kandidaten, die sich zu einem späteren Zeitpunkt
mit Pythagoras befassen könnten. Wie bereits gesagt, eine Wahrscheinlichkeit
für die Existenz „Intelligenten Leben“ anzugeben ist unmöglich.
Am 14.7.2012 schrieb Peter Hiemann:
Wenn ich Sie recht verstehe, bedauern Sie, dass biologischen
Forschungsmethoden nicht vermocht haben und vermutlich ungeeignet sind, Beweise
für den Beginn lebender Strukturen oder den Beginn selbstbezogenen (Ich
bezogenen) menschlichen Bewusstseins zu liefern. Was Sie für eine generelles
Manko der Biologen erachten, gilt meines Erachtens auch für Physiker, wenn sie vor
„Big-Bang-Fragen“, die physikalische Phänomene
betreffen, gestellt sind.
Kommentar HD: Ich
bedaure, dass die Wissenschaften (insbesondere die dafür zuständige Biologie)
noch keine überzeugende Theorie oder Modell für „die Entstehung der
menschlichen Intelligenz“ (nicht der Funktion intelligenter Prozesse im Gehirn
) gefunden haben. Ich halte die Biologie keineswegs für ungeeignet diese
Aufgabe zu lösen. Ich bin sogar überzeugt, dass die Biologie die besten
Verfahren, Methoden, und Leute hat um ihre offenen Fragen irgendwann zu klären.
Ich halte nur das Problem für enorm schwierig. Es geht mir auch nicht um den
„BEWEIS für den Beginn lebender Strukturen“. Die Tatsache, dass ich (und vieles
andere) existiert ist mir Beweis genug. Nochmals: Ich sehe hier kein Manko der
Biologen, sondern ein bedauernswertes Loch im Stand unserer Erkenntnis.
Um „Big-Bang-Fragen“ eines Systems anzugehen, müssen Systemzustände
bedacht werden, wie sie vor dem entsprechenden „Big-Bang-Ereignis“ herrschten.
Und genau das ist in vielen Fällen unmöglich. Der physikalische Zustand vor dem
Urknall wird auch mit physikalischen Methoden nicht zu ergründen sein.
Vermutlich hat es auch nach dem Urknall weitere physikalische
„Big-Bang-Ereignisse gegeben. Können zum Beispiel Physiker die Frage
beantworten, welcher Zustand geherrscht hat und welche Ursache bewirkt hat,
dass das Higgs-Teilchen in die Welt kam ? Nach meinem Verständnis hat Peter
Higgs lediglich postuliert, dass ein Higgs-Boson existieren müsste, um gewisse
Eigenschaften anderer Elementarteilchen zu begründen. Nach meinem Verständnis
wurde in einem LHC Experiment lediglich ein Elementarteilchen entdeckt, das
Eigenschaften wie das postulierten Higgs-Bosons aufweist. Hat das LHC Experiment gezeigt, wie ein Higgs-Boson im frühen Universum
entstand?
Kommentar HD: Den Vergleich mit dem
„Urknall“ halte ich nicht für passend. Der (deutsche) Begriff „Urknall“ wurde
geschaffen mit der Idee eines Ereignisses, welches am Beginn von Allem (Raum,
Zeit, Physik, Materie, Universum, Leben, etc. ) stand. Jede Theorie bzgl. der
Entstehung des Urknalls ist dem zu Folge
ein Widerspruch in sich selbst. Sie könnte höchstens dazu führen, dass das was
man physikalisch bisher mit dem Urknall assoziiert, kein Urknall war sondern ein
„Nahe-Urknall“ oder „Zwischen-Knall“. Ganz
anders sehe ich dies bei allen späteren Entwicklungsschritten des Universums
bis zu dem jetzigen Zustand (und darüber hinaus). Da macht es viel mehr Sinn darüber
zu forschen, wie diese im Detail verlaufen sind (zeitlicher Ablauf, die
wichtigsten Faktoren). Schließlich glauben wir doch alle, dass diese Prozesse,
bis auf bekannte Ausnahmen, mit den bekannten Naturgesetzen und Theorien
„natürlich“ erklärt werden können.Tatsächlich war es so, dass schon 40 Jahre bevor das Higgs letzte Woche
(vermeintlich) entdeckt wurde, es schon eine Theorie gab, wie und unter welchen
Bedingungen (z.B. indem man zwei andere Teilchen mit sehr hoher Energie
zusammenstoßen lässt) das Higgs entsteht. Damit meine ich nicht, dass man eine
Theorie hat, wie überhaupt Materie während oder nach dem Urknall entstanden ist.
In Analogie zu physikalischen „Big-Bang-Ereignissen“ betrachte ich die
ursprüngliche Erscheinung lebender Strukturen als biologisches
„Big-Bang-Ereignis“ und das ursprüngliche Auftauchen selbstbezogenen
menschlichen Bewusstseins als neurobiologisches „Big-Bang-Ereignis“.
Kommentar HD: Wie gesagt, der Vergleich mit
dem „Big-Bang“ (=Urknall) gefällt mir nicht. Ihr Punkt kann auch gut ohne den
Vergleich mit dem Big-Bang gemacht werden: Es gibt auch in den anderen
wissenschaftlichen Disziplinen (insbesondere der Physik) noch große ungelöste
Fragen.
Ich bin nicht der Auffassung, dass mathematische Methoden (inklusive
statistischen) und physikalische Experimente allein ausreichen werden, alle
Phänomene der Natur zu erklären. Eine Theorie von Allem (Theory Of Everything,
TOE), die alle bekannten physikalischen Phänomene erklären und verknüpfen könnte,
wird sich wohl bald als eine Illusion der Physiker herausstellen. Zumal wenn
Physiker glaubten, dass die TOE zu einer Theorie erweitert werden könnte,
welche durch ein einzelnes Modell die Theorien aller grundlegenden
Wechselwirkungen der Natur erklären könnte.
Kommentar HD: Ich möchte keine Prognose
abgeben wann, oder ob überhaupt jemals, eine Theorie gefunden wird, die alle
bekannten Kräfte und Wechselwirkungen mit einer einzigen Theorie erklärt. Ich
halte es aber für sinnvoll nach einer solchen Theorie zu suchen. Für mich und
für die Physiker ist es unbefriedigend,
die Kräfte der Natur mit zwei unterschiedlichen, teilweise inkompatiblen
Theorien zu erklären. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass eine solche
Theorie, falls sie jemals gefunden wird, niemals den Namen Theory of Everything
verdienen würde.
Ich beobachte, dass die Mehrheit der Naturwissenschaftler längst eine
Vielzahl verschiedener Methoden benutzt, um verschiedenartige Wechselwirkungen
der Natur zu analysieren und zu verstehen. Heute arbeiten Spezialisten der
verschiedensten Wissensbereiche in biochemischen, molekularbiologischen,
genetischen, medizinischen, biosynthetischen oder neurobiologischen Projekten
zusammen. Dabei kommen aufwendige Geräte mit spektakulären technischen
Funktionen zum Einsatz. Simulationen komplexer biologischer Netzwerke im
Computer helfen, dynamische interaktive Prozesse besser zu verstehen. Dadurch
werden die Methoden in vivo (im lebenden Organismus) und in vitro (im
Reagenzglas) um Methoden in silico (wörtlich „im Silicium“) ergänzt .
Mit dem Computer können sogar Selbstorganisationsprozesse, wie die
Bildung von Membranen aus Molekülen (Mizellen) oder die Faltung von
Eiweißmolekülen untersucht und mit den Beobachtungen an natürlichen Systemen
verglichen werden. Vermutlich sind wir gar nicht weit entfernt, lebende
biologische Strukturen synthetisch herzustellen, die in natürlichen Umgebungen
des Planeten Erden nicht existieren (siehe Stichwort Synthetische Biologie).
Ob und wann es uns gelingt, ein „Big-Bang-Ereignis“ zu erleben, wie aus
organischen Molekülen einfachste sich selbst organisierende, reproduktionsfähige
Strukturen entstehen, bleibt abzuwarten.
Mit einem solchen Ereignis ist allerdings noch lange kein Leben
entstanden, wie wir es kennen. Dazu bedarf eines weiteren
„Big-Bang-Ereignisses“, nämlich der Entstehung eines genetischen Programmes.
Dieses Programm bewirkt eine „kontrollierte“ Reproduktion seines Trägers,
inklusive seines genetischen Programmes. Erst auf der Basis eines genetischen
Programmes kann ein biologischer Evolutionsprozess wirksam werden. Dieser Prozess
beruht auf nicht vorhersehbaren Veränderungen (Mutationen) des genetischen
Programmes. Bei diesen Veränderungen kommt es zu Transfers, Verschiebungen oder
Verdoppelungen genetischer Information. Im Laufe der Zeit bewirken
Veränderungen eines existierenden genetischen Programmes viele Variationen
biologischer Strukturen. Im Laufe der Evolution werden diejenigen biologische
Variationen an die Folgegeneration
weitergegeben (selektiert), deren Funktionen mit der Umwelt in Einklang
stehen. Sie bilden biologische Arten. 99,9 % aller jemals existierenden
biologischen Arten sind wieder ausgestorben.
Die frühesten Spuren von Leben finden sich in Sedimentgesteinen, die
sich nach Auffassung der Geologen vor 3,8 Milliarden Jahren auf der Erde
gebildet haben. Vor etwa 2 Milliarden Jahren muss ein weiteres biologisches
„Big-Bang-Ereignis“ stattgefunden haben. Zu dieser Zeit entstanden die ersten
Einzeller mit Zellkern, die Vorläufer aller „höheren“ Lebensformen.
Charakteristisch für später aufgetretene Lebensformen sind spezielle Gene
(Hox-Gene), die für die Gliederung und Entwicklung des Embryos entlang seiner
Körperlängsachse ‚verantwortlich‘ sind. Unterschiedliche Anzahl von Hox-Genen
im genetischen Programm bewirken, welche Gene bei der Embryonalentwicklung jeweils
in einem bestimmten Abschnitt exprimiert werden. Nach Auffassung der Biologen
fällt die Herausbildung der Hox-Gene in die geologische Epoche des Kambriums.
Zu Beginn des Kambriums vor etwa 543 Millionen Jahren traten fast gleichzeitig
erstmalig Vertreter fast aller heutigen Tierstämme in einem geologisch kurzen
Zeitraum von 5 bis 10 Millionen Jahren auf die Bühne. Die grundlegenden
Körperbaupläne vieler mehrzelliger Tierstämme, die seitdem die Erde bevölkern,
sind in Gesteinen dieser Epoche erstmals eindeutig überliefert. Die Rolle der
Hox-Gene ist sehr gut erforscht durch das Vorkommen abnormer anatomischer Phänomene
(Schimären) auf Grund veränderter genetischer Programme der Fruchtfliege Drosophila melanogaster.
An dieser Stelle ist ein wichtiger Aspekt der biologischen Evolution
erwähnenswert. Die biologische Evolution, die die heute auf der Erde
beobachtbaren Arten hervorgebracht hat,
ist einmalig und nicht wiederholbar. Mit anderen Worten: Würde man die
geologische Uhr auf einen Zeitpunkt zurückstellen, an dem erstmalig Leben aufgetreten
ist und abwarten, was sich daraus entwickelt (evolviert), würden wir eine
völlig andere Lebensvielfalt beobachten, als heute existiert. Aus diesem Grund
darf man zwar annehmen, dass sich auf anderen Planeten ebenfalls lebende
Strukturen gebildet haben, aber die Evolution dort zu völlig anderen
Variationen geführt hat.
Welche Variation des menschlichen genetischen Programms könnte das
„Big-Bang-Ereignis “ der menschlichen Intelligenz (die den Menschen vom Tier
unterscheidet) bewirkt haben? Diese
Frage kann heute niemand beantworten, es gibt nur Hinweise, in welcher Richtung
man suchen kann.Ich kann darüber so viel sagen:
- Der Unterschied des genetischen Programmes zwischen Schimpansen und Mensch besteht weniger in verschiedenartigen Genen, sondern darin, in welcher Weise Gene exprimiert werden. Beim Menschen sind viele Gene im genetischen Programm mehrfach angelegt. Mehrfach angelegte Gene werden häufiger exprimiert als einfach angelegte.
- Bei der embryonale Entwicklung eines Organismus spielen die Beziehungen bzw. Verknüpfungen beim Exprimieren verschiedener Gene eine entscheidende Rolle. Zwischen Schimpansen und Mensch vermute ich auch Unterschiede in der Verknüpfung genetischer Information.
- Das Verhalten zwischen einem Menschenkind von drei Jahren und einem erwachsenen Schimpansen unterscheidet sich darin, dass der Schimpanse nicht in der Lage ist herauszufinden, warum etwas nicht funktioniert. Er wird immer die gleiche Handlung wiederholen. Das Menschenkind von etwa drei Jahren (aber nicht viel früher) wird versuchen herauszufinden, warum etwas nicht funktioniert. Es variiert seine Handlungen nach dem Prinzip „trial and error“.
- Das menschliche zentrale Nervensystem ist stabilisiert nach Vollendung der Pubertät, bleibt aber durch Erfahrungen lebenslang modifizierbar. Ich vermute deshalb, dass menschliches Verhalten nur zum Teil durch das genetische Programm eines Individuums bedingt ist (z.B. was die Wahrnehmungen betrifft). Zusätzlich hat das menschliche Gehirn die Fähigkeit, ein individuelles „geistiges Programm“ zu kreieren, zu erhalten und zu modifizieren (zu „programmieren“ im weitesten Sinne, da das Gehirn auch neuronale Prozesse berücksichtigt, die nicht ins Bewusstsein vordringen).
Abschließend noch ein paar Gedanken auf einer Abstraktionsebene, die
zum besseren Verständnis des Phänomens Leben beitragen können: Leben unter dem
Aspekt der Selbstorganisation.Ich vermag mehrere verschiedenartigen Ebenen der Selbstorganisation zu
unterscheiden:
- Eine sich selbstorganisierende, dynamische, geordnete dissipative Struktur in nichtlinearen Systemen fern des thermodynamischen Gleichgewichts durch Austausch von Energie, Materie oder beides mit ihrer Umgebung. Beispiele für dissipative Strukturen sind die Ausbildung von wabenförmigen Zellstrukturen in einer von unten erhitzten Flüssigkeit (Bénard-Effekt), Strukturen an Phasengrenzen bei Strömungsvorgängen, Strukturen bei Fließgleichgewichten in der Biochemie.
- Eine sich selbstorganisierende biologische Zelle. Jede biologische Zelle organisiert ein strukturell abgrenzbares, eigenständiges und selbsterhaltendes offenes System mittels eines genetischen Programmes.
- Ein sich selbstorganisierender biologischer Organismus. Jeder biologische Organismus organisiert eine Vielzahl offener Systeme biologischer Zellen. Das genetische Programm des biologischen Organismus bewirkt die Differenzierung von biologischen Zellen, die sich zu selbstorganisierenden Organstrukturen zusammenfügen. Die Erhaltung eines biologischen Organismus ist nur durch Erhaltung all seiner organischen Bestandteile möglich.
- Ein sich selbstorganisierendes Zentralnervensystem (ZNS). Das ZNS erfüllt in einem biologische Organismus spezielle Kommunikationsfunktionen, die für die Erhaltung des Organismus und der Anpassung des Organismus an dessen Umgebungsbedingungen unabdingbar sind. Das ZNS besitzt kein zentrales Steuerprogramm, vergleichbar einem genetischen Programm. Vielmehr verfügt das ZNS über die Fähigkeit, ein individuelles neuronales Netz aufzubauen, zu erhalten und zu modifizieren. Die Plastizität des ZNS, um mit vielfältigsten Problemsituationen zurecht zu kommen, ist Evidenz für dessen Selbstorganisation. Welche neurale Prozesse des ZNS letztlich die Koordination und Synchronisation aller inneren und äußeren Reize bewältigen, damit der Organismus ein „inneres Bild“ seiner selbst und seiner Umgebung zu konstruieren vermag, ist noch ungeklärt (es gibt die Arbeitshypothese des Dynamischen Kerngefüges).
- Ein sich selbstorganisierendes Ich. Das menschliche ZNS besitzt nicht nur die Fähigkeit, alle inneren und äußeren Reize zu koordinieren und zu synchronisieren, sondern darüber hinaus die Möglichkeit, sich ein individuelles „Ich“ zu kreieren, zu erhalten und zu modifizieren. Der Mensch wird mit einem individuellen genetischen Programm geboren, das die Funktionen des ZNS enthält. Ein individuelles „Ich-Programm“ entsteht aber erst im Laufe der geistigen Entwicklungen (Evolution?) einer Persönlichkeit (Identität).
Am 16.7.2012 schrieb Peter Hiemann:
.... ich habe versucht, in meinen früheren Aussagen über
evolutionäre Entwicklungen spekulative Aspekte zu vermeiden. Ich habe auch
versucht zu verdeutlichen, dass bei evolutionären Entwicklungen Eigenschaften
berücksichtigt werden müssen, die als 'emergent' bezeichnet werden. Ich habe
diesen Ausdruck in seiner starken Bedeutung 'prinzipielle nicht erklärbar' verwendet.
Ich kann aber auch nachvollziehen, dass es andere vorziehen, den Begriff in der
schwachen Bedeutung „vorläufige Nichterklärbarkeit eines emergenten Systems“
zu verwenden.
Den Versuch, mit einer Analogie 'ursprüngliches Auftauchen' = 'Big-Bang' evolutionäre Ereignisse mit emergenten Eigenschaften verständlicher
darzustellen, muss ich wohl als gescheitert betrachten. Ich schließe mich dem Urteil, 'der Vergleich mit dem Big-Bang
(=Urknall) gefällt mir nicht' an.
Ich (BD) habe mich in diese Diskussion bewusst nicht eingeschaltet. Vielleicht bringe ich meine Gedanken zu dem Thema später noch zu Papier, besser gesagt, in diesen Blog
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