Sonntag, 28. Januar 2018

Donald Trump im Weißen Haus und in Davos

Eigentlich wollte ich mich nicht mehr zum amerikanischen Präsidenten äußern. Vor 12 Monaten hatte ich anlässlich seiner Amtseiführung bereits geschrieben, wie sehr er eine Zumutung für uns alle darstellt und dass sein Stil sehr gewöhnungsbedürftig sei. Zahllose Psychiater in den USA und anderswo nahmen öffentlich und aus der Ferne ihre Diagnose vor. In fast allen Fällen lautete der Befund auf Narzissmus oder Infantilismus. Bei seiner ersten Nahost- und Europatour im Mai 2017 regte er, vor allem in Taormina, alle Welt mit seinem ‚rüpelhaften Verhalten‘ auf. Anstatt mich zu ärgern, entschloss ich mich, ihn fortan zu ignorieren. Dasselbe habe ich mir übrigens für Englands Tories vorgenommen. Etwas anderes haben Nigel Farange und Boris Johnson nämlich nicht verdient.

Bestseller über Weißhaus-Interna

Zum Jahresanfang 2018 erschien Michael Wolffs Buch Fire and Fury -  Inside the Trump White House (336 S.). Das Buch stellt in den USA neue Verkaufsrekorde auf. Eine deutschsprachige Ausgabe soll im Februar erscheinen. Mich reizte es zu erfahren, wie Trumps Umfeld arbeitet, wer dort die Strippen zieht, und wie man dort glaubt, einen Neurotiker unter Kontrolle zu behalten. In dieser Hinsicht hat mich das Buch nicht enttäuscht. Das Buch behandelt primär die acht Monate von Trumps Amtseinführung Ende Januar 2017 bis zu Entlassung von Steve Bannon im August 2017. Anstatt den ganzen Tratsch zu wiederholen, will ich im Folgenden nur einige für mich aufschlussreichen Aspekte hervorheben.

Wahlsieger wider Erwarten

Der amerikanische Wahlkampf des Jahres 2016 war von schmutzigen Affären und Anschuldigungen gekennzeichnet. Trumps Chancen schienen beendet, als 10 Jahre alte Tonbänder auftauchten, in denen er seine Haltung zu Frauen beschrieb. Hillary Clinton erlitt einen Rückschlag, als kurz vor der Wahl der CIA-Chef Jim Comey eine Untersuchung wegen der E-Mail-Vorwürfe ankündigte. Nur der rechtsextreme Flügel der republikanischen Partei und die rechten Medien (z.B. Fox News) hielten weiter zu Trump. Auf Betreiben des Milliardärs Robert Mercer übernahm Trump Steve Bannon und die Journalistin Kellyanne Conway in sein Team. Trump selbst befürchtete, dass er gegenüber der Macht des Clinton-Lagers den Kürzeren ziehen würde. Als das Ergebnis vorlag, freute er sich wie ein Vertreter, der ein unerwartetes Geschäft gemacht hatte. ‚Ich bin also doch ein Gewinner und kein Verlierer‘ so drückte er seine Überraschung aus.

Bannon, teuflicher als Rasputin

Steve Bannon (*1953 in Norfolk, Virginia) leitete die rechtsgerichtete Website Breitbart News, als er im August 2016 Berater des damaligen Kandidaten Trump wurde. Von dessen Amtsantritt am 20. Januar 2017 bis zum 18. August 2017 war er der Chefstratege im Weißen Haus. Danach ging er zurück zu Breitbart News. Nach der Veröffentlichung des Wolffschen Buchs verließ er Breitbart News.

Bannon war der Vertreter der militanten Rechten. Er schien Trump völlig im Griff zu haben. Trump selbst las weder Bücher noch Zeitungen. Seine Hauptinformationsquelle war das Kabelfernsehen. In seinem Schlafzimmer hatte er drei TV-Geräte. Morgens und abends saß er oft stundenlang davor. Er entscheide aufgrund seines Bauchgefühls (engl. gut feeling). Leute, die viel wissen, machen oft schlimme Fehler. Das war seine Überzeugung. Bannon hatte ein festgefügtes Bild, was in der Welt schief lief. Schuld daran sei die politische Klasse ganz allgemein. Die von ihm verfasste Rede zur Inauguration drückt alles dies aus. Der Kernsatz lautete: Das Land stehe am Abgrund, aber wir machen es wieder groß (engl. the country is in mess, but we make it great again).

Bannon ließ alle wissen, nur er habe die Wahl gewonnen. Sein Ideal waren die USA der 1950-1960 Jahre. Er war gegen die Globalisten, die Davos-Leute. Das Land benötige eine klassische Industrie. Mit Handel und Dienstleistungen allein sei ein so großes Land wie die USA nicht zu unterhalten. Trumps Tochter Ivanka hielt Bannon für ‚teuflischer als Rasputin‘. Indem er sage, lasst Trump Trump sein, meine er in Wirklichkeit, lasst Trump Bannon sein. Trumps Pressesprecherin Conway wurde dadurch berühmt, dass sie Trumps Aussage über die Zuhörerzahlen bei der Inauguration als ‚alternative Fakten‘ bezeichnete.

Jarvanka und der jüdisch-demokratische New-York-Liberalismus

Noch stärker als Bannon scheint Trumps Familie die Fäden zu ziehen. Sie wird vertreten durch die Tochter Ivanka und deren Mann Jared Kushner. Sie stellen eine Beziehung her zu einer an sich den Demokraten nahestehende, sehr liberale Geldaristokratie in New York. Im Buch wird dieser Zweig als Jarvanka bezeichnet, ein Kunstwort, das aus den zwei Vornamen gebildet wird. Jared Kusher hat sehr mächtige Freunde. Zwei Beispiele sind Rupert Murdoch, der Medientycoon, und Henry Kissinger, der Ex-Politiker. Trump soll nur auf Leute hören, die wie er Erfolg in der Wirtschaft haben. Daher überzeugte Kushner Trump ein Beratungsgremium aus Geschäftsleuten (engl.  business advisory council) zu bilden. Dieser Plan verlor an Attraktivität, als Bannon als erste Maßnahme den Bann gegen muslimische Einwanderer durchsetzte.

Eine erste ernsthafte Krise entstand, als Trump seinen Sicherheitsberater Michael Flynn entlassen musste. Er hatte  sowohl Geld aus Russland empfangen als auch mit dem russischen Botschafter über die mögliche Abschaffung von Sanktionen gesprochen. Als Thema wird Russland Trump jedoch weiterbegleiten.

Anker des republikanischen Partei-Establishments

Als dritter im Bunde derer, die Trump zu kontrollieren versuchen, erscheint Reince Priebus. Er führt den Titel Stabschef des Weißen Hauses und sollte eigentlich das Sagen haben (engl. to run the White House). In Wahrheit ist er nur ein Mitläufer. Er schaffte es jedoch, dass Trump überhaupt mit den Republikanern im Kongress und mit Paul Ryan, dem Fraktionsführer, spricht. Neben ihm wirkte Katie Walsh, eine fleißige Arbeitsbiene aus dem Büro der Partei stammend, die es versteht, der Bürokratie Genüge zu leisten. Diese wird abfällig meist als Sumpf (engl. swamp) bezeichnet.

Der Vizepräsident Mike Pence lebe in einer Welt für sich. Die Leute, die für ihn arbeiten, redeten so wenig wie er selbst. Er erzeugte also keinen Stoff für das Buch. Der Autor sah den Zustand des Weißen Hauses als großes Durcheinander (engl. clusterfuck) an. Im berühmten Oval office war Bannon immer dabei. Er wirkte fast wie ein Teil der Einrichtung. Er blieb auch nachts auf, wenn er meinte, dass er gebraucht würde. Kushner hatte immer ein Auge auf ihn. Conway und Priebus waren fast immer auch da. Daneben gab es nur noch die Kadetten, die die Gäste herein- und herausleiteten. Zuständige Beamte waren keine zu sehen.

Lief etwas nicht so, wie eine der drei Gruppen im Stab es wollte, wurde meist ein schwergewichtiger Externer bemüht. Bannon ließ Mercer anrufen, Kushner Murdoch, Priebus Ryan. Auch Trump telefonierte laufend, und zwar mit immer andern Leuten. Die meisten der Angerufenen fühlten sich zur Geheimhaltung nicht verpflichtet. Es sickerte nur so. Plötzlich war Sickern (engl. leaking) ein Topp-Problem.

Regieren mittels Anordnungen

Es war Bannons Idee, möglichst viel Aktivität in den ersten 100 Tagen zu zeigen. Da der Kongress hierbei nicht mitspielen konnte, sollte möglichst viel per Anweisung der Regierung (engl. executive order, Abk, EO) erfolgen. Die erste Anweisung betraf die Immigration. Trump hatte die von den Vorgängern geübte Praxis als zu liberal und zu großzügig kritisiert. Da niemand im Stab des Weißen Hauses wusste, wie man dies macht, machte es Bannon. An 27. Januar, einem Freitag, ging es über die Bühne. Die Aufregung im Lande und die Verwirrung auf den Flughäfen, waren enorm. Schließlich wurde die Aktion von Gerichten gestoppt. Ein anderes Thema, das Trump im Wahlkampf sehr stark betont hatte, war seine Abneigung gegen Obamas Gesundheitsreform. Die Details interessierten ihn wenig. Deshalb überließ er die Neureglung (engl. repeal and replace Obamacare) Paul Ryan und dem Kongress.

Im krassen Gegensatz zu der Rede bei der Amtseinführung steht die Rede, die Trump am 28. Februar vor beiden Häusern des Kongresses hielt (engl. state of union speech). Sie wurde von Kushner, Ivanka und Dina Powell geschrieben. Powell war vorher bei Goldman Sachs gewesen. Während auch linke Zeitungen sich positiv zu dieser so genannten ‚Goldman speech‘ äußerten, begann Bannon sich Sorgen zu machen. Kushner schaffte es sogar mit Gary Cohn einen weiteren ehemaligen Angestellten von Goldman Sachs im Weißen Haus zu platzieren, und zwar als Wirtschaftsberater (engl. chief economic advisor).

Ominöse Russland-Verbindung

Außer dem Sicherheitsberater Flynn sind noch zwei weitere Personen aus Trumps Umfeld mit dem Vorwurf konfrontiert, illegale Kontakte zu Russland gehabt zu haben. Justizminister Jeff Sessions hatte zuerst bestritten und später eingestanden, dass er Kontakt mit dem russischem Botschafter hatte. Auch Jared Kushner (und sein Vater) hatten immer wieder Geschäftsbeziehungen mit russischen Personen und Unternehmen.

James Comey, der bereits erwähnte FBI-Direktor, sah sich veranlasst eine Untersuchung zu den Russland-Beziehungen Trumps zu eröffnen. Darauf reagierte Trump, indem Comey durch das Justizministerium entlassen ließ. Der Oberstaatsanwalt beauftragte daraufhin Comeys Amtsvorgänger Robert Mueller als Sonderermittler die Untersuchung durchzuführen. Comey selbst erhob in einer Anhörung im Senat schwere Vorwürfe gegen Trump. Welche Kräfte hier am Werk sind, ist nicht zu durchschauen. So erschienen am Tag nach dem G20-Treffen in Hamburg weitere Details über Treffen mit Russen während des Wahlkampfs.

Freund der Saudis, Beschimpfer Nordkoreas

Mit Schadenfreude hatte Bannon zur Kenntnis genommen, dass Trump das heikle Thema Israel und Mittlerer Osten ebenfalls delegierte. Kushner sollte sich kümmern. Als ersten sichtbaren Erfolg organisierte Kushner im Mai eine Reise nach Saudi-Arabien. Aus Trumps Sicht ist Saudi-Arabien in erster Linie der Hauptfeind des Iran. Als Ergebnis verkündeten beide Seiten Waffenkäufe in Höhe von 350 Mrd. US-Dollars. Das gäbe jobs, jobs, jobs. Die Zwischenstopps im Vatikan und in Brüssel waren dagegen bedeutungslos.

Im Juni machte Trump ein weiteres Wahlversprechen wahr und schied aus dem Pariser Klima-Abkommen aus. Die Raketen, die Nordkorea verschoss, bekämpfte er mit ungewöhnlich harten Worten (North Korea is to be met with fire and fury, the likes of which the world has never seen before). Als auf dem Campus der University of Virginia in Charlotteville bei einer rechten Demo eine Frau getötet wurde, reagierte er nicht sehr klug. Trumps Weltsicht sei ganz einfach und pragmatisch. Es gäbe Länder, die für einen sind (Saudis, Israel, England), solche, die gegen einen sind (Nordkorea, Iran) und uninteressante (der Rest der Welt). Russland und China könnte er nicht recht einordnen.

Bannons Entsorgung, Abgang von Priebus

In Trumps Stab gab es im Laufe des Jahres mehrere Änderungen. Mitte August war es soweit, dass er dem Drängen von mehreren Seiten (Jarvanka, McMaster, Murdoch) nachgab und Bannon entließ. Ein dritter General, John Kelly, ersetzte Priebus.

Seine inzwischen ebenfalls ausgeschiedene Mitarbeiterin Katie Walsh fasste ihr Urteil über Trump wie folgt zusammen. Trump will von allen geliebt werden, und möchte dies erzwingen. Er möchte überall ein Sieger sein (engl. Trump wants to be liked so badly everything is struggle for him. He always wants  to look like a winner). Trump wird nachgesagt, dass er seine Telefonpartner immer wieder Fragen der Art stellte: Wen soll ich feuern? Sessions, Tillerson, Mueller? Geraten wird dann, wer wen schützt. Alle drei genannten haben offensichtlich starke Fürsprecher.

Blüten des Umgangsstils

Das Buch von Wolff ist eine wahre Fundgrube von gegenseitigen Beschimpfungen. Mögen sie uns fast wie Verbalinjurien vorkommen, in den USA sind sie zwar hart an der Grenze, aber durchaus vorstellbar. Beginnen wir eine Auswahl mit Bannon:

Trump sei ein großer warm-herziger Affe (engl. a big warm-hearted monkey) oder die älteste unerfahrene Person im Weißen Haus (engl. oldest inexperienced person in the White House). Außenminister Tillerson soll gesagt haben, Trump sei ein verdammter Depp (engl. fucking moron). Wirtschaftsberater Cohn vergab das Prädikat  ‚dumm wie Scheiße‘ (engl. dumb as shit). Trump selbst habe seine Mitarbeiter alle als Idioten (engl.  idiots) bezeichnet. Menschen, die sich in Atlantic City herumtrieben, seien weißer Abschaum wie er, aber arm (engl. white trash like me, only poor). Man kann schwerlich sagen, Trump verfüge nicht über selbstkritischen Humor.

Weltbühne in Davos

Trump hat es geschafft, in den USA die Steuern für Unternehmen von 35 auf 15% zu senken. Die Firma Apple hat anschließend versprochen, in großem Umfang in den  USA zu investieren. Außerdem führte er (per EO) Strafzölle für Waschmaschinen aus Südkorea und Solarzellen aus China ein. Für die deutsche Autoindustrie hat er das gleiche angekündigt. Es konnte ihm bisher ausgeredet werden, mit dem Hinweis auf die deutschen Fabriken in den USA.

In Davos hielt Trump Hof. Israels Netanyahu und Englands Theresa West kamen, aber auch Joe Kaeser (Siemens), Werner Baumann (Bayer), Bill McDermott (SAP) und 12 andere Unternehmensleiter aus Europa. Sie alle gelobten, verstärkt in den USA zu investieren. Am letzten Konferenztag hielt Trump schließlich seine vielbeachtete Rede. Darin warb er für die USA als Industrie-Standort. Nie sei die Zeit besser gewesen, um in den USA zu investieren. Dank seiner Politik erlebe die Industrie einen Aufschwung. Dass er Amerika an die erste Stelle setze, das erwarte er von jedem Staatsmann für sein Land. Amerika zuerst hieße nicht Amerika allein.  Wenn es Amerika gut ginge, ginge es auch andern Ländern gut, und umgekehrt.

Da diese Rede von Gary Cohn, einem früheren Mitarbeiter der Investitionsbank Goldmann Sachs geschrieben wurde, war dies nach der Februar-Rede seine zweite Goldman-Rede. Im übrigen teile ich die Meinung von Klaus Brinkbäumer, dem Chefredakteur des SPIEGEL, der schrieb:

Der Davoser Trump war ein gezähmter Trump ─  für seine Verhältnisse. Die Weltelite, die vorgibt, ihn abzulehnen, scharte sich um den US-Präsidenten. Das könnte zum Problem für Merkel, Macron und Co. werden.

Nicht mehr die Boston Tea Party hat das Sagen im Weißen Haus, sondern – wie gehabt – der militärisch-industrielle Komplex, vertreten durch drei Generäle und eine Handvoll Industrieller und Bankiers. Der Bannonsche Trump scheint passé zu sein, es lebe der Goldman-Sachs-Trump!

Freitag, 12. Januar 2018

Von digitalen Köpfen zur digitalen Gesellschaft und Wirtschaft

Für das Phänomen der Digitalisierung gibt es eine Unzahl von Betrachtungsweisen. Obwohl das Thema bereits mehrmals in diesem Blog behandelt wurde, tun sich immer wieder neue Aspekte und Perspektiven auf. Einige Sichten, die bisher nicht in Erscheinung traten, sollen im Folgenden expliziert werden. Ich befürchte, dass damit noch immer kein Abschluss der Diskussion erreicht werden kann.

Verlaufs- oder Zustandsbeschreibung

Mein Kollege Hartmut Wedekind (*1935) befasst sich in einem aktuellen Beitrag seines Blogs mit notwendigen und hinreichenden Bedingungen, damit die Digitalisierung gelingt. Seine Darstellungweise mag etwas gewöhnungsbedürftig sein.

Die Digitalisierung ist eine Technologie, die wie jede andere ihre Vorteile und Nachteile hat. Auch hat sie einen konkreten Anwendungsbereich. Im Vergleich zu anderen Technologien wie Elektrifizierung oder Automatisierung ist der Anwendungsbereich enorm groß und laufend wachsend. Je nach Anwendung variiert das Verhältnis oder das relative Gewicht der Vor- und Nachteile. Eine Auflistung für das Gebiet des Publizierens findet man auf Seite 15-19 des Buches [1]. Es ist der Stand des Jahres 2000.


Vor- und Nachteile digitaler Dokumente

Der Fortschritt der Technik hat zur Folge, dass sich alle Parameter ändern können. Was gestern noch teuer war, kann morgen oder im nächsten Jahr schon billig sein. Aspekte, die wenig Bedeutung hatten, können an Bedeutung gewinnen oder umgekehrt. Die Technologie wird sich anpassen, indem sie noch vorhandene Nutzungshemmnisse reduziert oder ganz verschwinden lässt. Sie wird auch für solche Leute attraktiv werden, die sich bisher noch nicht dafür erwärmen konnten. Wenn ich sage, dass die Technologie etwas tut, dann meine ich die sie treibenden Ingenieure und Firmen.

In ihrer Frühphase mag eine Technologie einen gewissen Einführungs- und Schulungsbedarf haben. Um einen möglichst großen Nutzerkreis zu erreichen, wird eine Maßnahme darin bestehen, die erforderliche Nutzerschulung zu reduzieren oder ganz zu eliminieren. Das kann durch Verbesserungen in der Nutzbarkeit erfolgen oder dadurch, dass relevantes Wissen überall und frei verfügbar ist. Es ist nicht so, dass der Nutzer einer Technologie sich über ihr ganzes Potential im Klaren sein muss, ehe er den ersten Schritt wagt. Viele Technologien werden von ihren Nutzern auf eine Weise eingesetzt, an die ihre Entwickler nie dachten.

Bekannte Technologie-Entwicklungsmodelle

Es gibt eine Vielzahl von Theorien darüber, wie neue Technologien entstehen, sich entwickeln und ausbreiten. Die einschlägige Literatur füllt Buchregale. Am gebräuchlichsten ist ein Phasenmodell, das die vier Phasen Entstehung, Wachstum, Reife und Alterung unterscheidet. Das von der Firma Gartner propagierte Hypezyklen-Modell kennt die Phasen Technologischer Auslöser, Gipfel der überzogenen Erwartungen, Tal der Enttäuschungen, Pfad der Erleuchtung und Plateau der Produktivität. Folgt man diesem Modell, so müsste uns das Tal der Enttäuschungen noch bevorstehen.

Saloppe Ausdrucksweise

Wie kaum ein anderes Adjektiv so erhielt das Wort ‚digital‘ eine geradezu magische Bedeutung und fand eine inflationäre Verwendung. Es wird an Stellen verwendet, wo es an sich keinen Sinn macht, es sei denn im sehr übertragenen Sinne. Der Kollege Peter Mertens hat ausführlich auf dieses Phänomen hingewiesen [2]. Im folgenden Abschnitt ist laufend von digitalen Personen oder Berufsträgern die Rede. Ich werde – äußerst widerstrebend – diese Sprechweise beibehalten. Bitte fassen Sie den Ausdruck ‚digitale Person‘ auf als Abkürzung für ‚eine Person, die sich mit digitalen Medien befasst oder sich ihrer bedient‘.

Wer sind und was bewirken Digitale Köpfe?

Im Rahmen der Initiative Wissenschaftsjahr 2014, das unter dem Thema Die Digitale Gesellschaft stand, wurden vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und der Gesellschaft für Informatik (GI) 39 Personen mit der Auszeichnung Deutschlands Digitale Köpfe geehrt. Die Auszeichnung galt jenen, die mit ihren Ideen und Projekten die digitale Entwicklung in Deutschland vorantrieben. Informatikern unter den Lesern dürften folgende Namen bekannt sein: Anja Feldmann, Claudia Eckert, Constanze Kurz, Katharina Zweig, Lars Hinrichs, Marco Börries, Oliver Samwer und Volker Markl.

Von den hier genannten Personen sind vier Hochschullehrer (Feldmann, Eckert, Zweig, Markl), drei Unternehmer (Hinrichs, Börries, Samwer) und eine Publizist (Kurz).  Sie wirken über ihre Studenten, über ihre Mitarbeiter und Kunden und über ihre Leser. Mit jedem Namen verbindet sich eine andere Geschichte. Es sind in jedem Falle Erfolgsgeschichten. Es sind Beispiele, von denen man sich zur Nachahmung anregen lassen soll.
 

Sicht eines digitalen Eingeborenen

Die Digitalisierung ist – im Gegensatz zur Meinung von Angela Merkel – keine neue Technologie. Sie existiert als Technologie im Markt seit mindestens 30 Jahren. Es ist üblich bei Leuten, die diese Technologie seit ihrer Kindheit kennen, von digitalen Eingeborenen (engl. digital natives) zu reden. Menschen unserer Altersklasse, die auch die Zeit davor kennen, gelten als digitale Einwanderer (engl. digital immigrants).

Philipp Riederle  (*1994) ist einer der jüngsten deutschen Unternehmensberater. Aufgewachsen ist er in Günzburg, studiert hat er in Konstanz an der privaten Zeppelin-Universität. Er ist seit seinem 15. Lebensjahr als Computer Freak und Buchautor tätig. Vor vier Jahren wurde er zum Digitalen Kopf ernannt. Sein neuestes Buch heißt: Wie wir arbeiten, und was wir fordern - Die digitale Generation revolutioniert die Berufswelt (2017, 336 S.). Darin betrachtet Riederle sich als digitalen Eingeborenen, der sich erdreistet, den digitalen Einwanderern Ratschläge zu erteilen. Ich will nur kurz auf sie eingehen.

Die Mitarbeiter, die Firmen heute benötigen, seien genau die, die der Markt anbietet, nämlich digitale Eingeborene. Seit 1975 hat sich das Angebot akademisch ausgebildeter Berufsanfänger mehr als verdreifacht (von 836 k in 1975 auf 2,75 Mio. Studierende in 2015). Es gibt Bachelor- und Master-Abschlüsse in 18.000 Studienfächern. Der Frauenanteil ist auch angestiegen, allerdings nur langsam. Die Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln hat deutlich zugenommen. Durch die derzeitige Konjunktur habe sich der Arbeitsmarkt radikal verändert. Nicht Firmen suchen zwischen Bewerbern aus, sondern Bewerber zwischen Firmen. Diese müssen sich sehr um ihr Image kümmern, vor allem durch Selbstdarstellung in den digitalen Medien, aber auch durch Pflege ihres Rufs. Junge Menschen strebten Jobs an, in denen sie sich weiterentwickeln können. Dabei spielt die Selbstoptimierung eine große Rolle. Dazu brauchen sie Feedback. 

Jugendliche möchten nicht als Weicheier oder als Prinzessinnen angesehen werden. Vergleichende Informationen über Unternehmen und Bewertungen findet man heute reichlich im Netz (z. Bsp. bei Kununu). Die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, sei wichtiger als die Höhe des Gehalts. Demokratische Führungsstile und der Zugriff zu allen Informationen im Unternehmen seien essentiell. Die langfristige Bindung an ein Unternehmen sei nicht mehr selbstverständlich.

Unternehmen müssten ihren Mitarbeitern mindestens dieselben Kommunikationsmittel und Werkzeuge anbieten, die jedem heute privat zur Verfügung stehen. Dabei spielen Smartphones eine zentrale Rolle. Dass dies erhöhte Anforderungen bezüglich Sicherheit und Geheimhaltung stellt, sei einleuchtend. Ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess sollte für alle Abläufe implementiert werden. Das Thema Work-Life-Balance sollte adressiert werden. Ein Home Office kann dabei helfen, denn es erlaubt eine größere Flexibilität.

Traumziel digitaler Professional

Solange Begriffe wie Eingeborener und Immigrant das Thema beherrschen, scheint mir noch eine wesentliche Betrachtungsweise zu fehlen. Es wird nicht gefragt, was aus der Sicht eines Individuums der erwünschte Endzustand sein kann oder sein soll. Es wird nur die Art der Aneignung einer Fähigkeit angesprochen, nicht jedoch der erreichte Reifegrad in der Nutzung. Wer seinen Beruf als Profession und nicht nur als Beschäftigung (engl. job) sieht, wird sich eine professionelle Einstellung zu Eigen machen.  Wie in einem der am meisten gelesenen Beiträge dieses Blogs ausgeführt, bedeutet dies für einen Informatiker oder eine Informatikerin, dass sie sich an die folgende Richtschnur halten.

Sie müssen berücksichtigen, was für die Nutzer zweckdienlich und zumutbar ist, was für das Unternehmen notwendig und erschwinglich ist, was ohne unvertretbare Nebenwirkungen für Umwelt und Gesellschaft machbar ist, was nach dem Stand der Technik möglich ist, und was mit den zur Verfügung stehenden Fachleuten und Finanzmitteln realisierbar ist.

Die Digitalisierung ist die zentrale Technik unseres Fachgebiets. Auf sie zu verzichten ist geradezu unverantwortlich, ja unprofessionell. Deshalb führt kein Weg daran vorbei, sie zu beherrschen, also richtig einzusetzen. Um sie richtig einsetzen zu können, muss man alle Stärken und Schwächen kennen und gegeneinander abwägen. Diese Verantwortung kann der Informatiker nicht an einen Fachmann aus einem andern Feld delegieren.

Traumziel digitale Gesellschaft und digitale Wirtschaft

Neben der individuellen Beziehung zu dieser Technik wird auch die Verbreitung und Nutzung in der Gesellschaft immer wieder thematisiert. So gibt es einen Verein namens Digitale Gesellschaft in Berlin. Aber auch die EU hat eines ihrer Kommissariate als Digitale Gesellschaft bezeichnet. Günther Oettinger war sein Leiter, bis dass er das Budget-Ressort übernahm. Ganz offensichtlich wird in Deutschland und Europa der Diskussion über die möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung fast so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie ihrer Anwendung in der Wirtschaft. Dabei erscheint es fast so, als wäre die Wirtschaft nicht auch ein Teil der Gesellschaft. 

Nachtrag am 17.1.2018

Zwei Wirtschaftsjournalisten aus der Redaktion der Süddeutschen Zeitung, Marc Beise und Ulrich Schäfer, meinen, dass unsere Presse – und damit die Öffentlichkeit – das Thema Digitalisierung zu negativ sieht. In ihren Buch Deutschland digital – Unsere Antwort auf das Silicon Valley (2016, 255 S.) versuchen sie die Dinge zurechtzurücken.

Wir hätten zwar die erste Runde gegenüber dem Silicon Valley verloren, könnten die zweite jedoch gewinnen, wenn wir es richtig machen würden. Wir sollten nicht den Versuch machen, das Silicon Valley bei privaten Internet-Anwendungen einzuholen. Deutschland hätte aber gute Chancen bei Industrieanwendungen. Immerhin baue ja Tesla seine Elektroautos mit Robotern von Kuka aus Augsburg und mit Blechpressen von Schuler aus Göppingen.

Auch in Berlin, Hamburg, München und anderen Orten tue sich etwas. Von der Startup-Szene in Berlin rede inzwischen die ganze Welt. Oliver Samwer von Rocket Internet vereinige allein 150 Firmen mit 36.000 Mitarbeitern. Auch ströme mehr Wagniskapital nach Berlin (2,1 Mrd. in 2015) als nach London. Firmen wie Trump (Ditzingen) und Würth (Künzelsau) unterhielten dort Forschergruppen.

In München und Süddeutschland machten weniger die Finanz- und Marketing-Experten von sich reden, dafür aber einige Ingenieure. Die Firma NavVis in München baut Navigationsgeräte für Innenräume, die Firma Bragi eine Art von Hörgeräten im Ohr, mit denen man Maschinen steuern und kontrollieren kann. Weltbekannt sei inzwischen TeamViewer aus Göppingen, mit deren Software man Windows-PCs aus der Ferne warten kann. Der Marktführer bei 3D-Druckern sei die Firma EOS aus Krailling bei München.

Die deutsche Industrie sei besser auf das ‚Internet der Dinge‘ (engl. Internet of things, Abk. IOT) vorbereitet als die amerikanische. Die USA seien bereits zu sehr deindustrialisiert, um hier noch eine große Rolle spielen zu können. Deutschlands Vorteile lägen in seinem Bildungssystem (vor allem der fachlichen Qualifizierung), seiner Unternehmensstruktur (starker, flexibler Mittelstand) und dem ausgeprägten Sinn für Datenschutz und Datensicherheit. Es fehle an Wagniskapital (vor allem aus privater Hand) und einem gut ausgebauten Gigabitnetz. Es fehle auch an Leuten, die über das Positive mindestens so viel reden wie über das Negative, die nicht nur auf Risiken und Gefahren hinweisen. Wir bräuchten mehr Geschichtenerzähler.

Referenzen 
  1. Albert Endres, Dieter W. Fellner: Digitale Bibliotheken – Informatik-Lösungen für globale Wissensmärkte, 2000 
  2. Peter Mertens, Dina Barbian: Digitalisierung und Industrie 4.0 – Moden, modische Überhöhung oder Trend? 2016

Donnerstag, 4. Januar 2018

Putin zwischen Geheimdienstlern und Oligarchen

Im Februar 2014 befasste ich mich in diesem Blog zum ersten Mal ausführlich mit dem Phänomen Putinismus. Damals war der Begriff noch etwas ungewohnt. Ich kam zu der folgenden Aussage:

Es gibt in Russland offensichtlich keinen Schutz des privaten Eigentums oder anderer Bürgerrechte. Es wird von häufigen Zwangsräumungen von Wohnungen und mehr oder weniger willkürlichen Verhaftungen berichtet. Gewaltanwendung erscheint unverzichtbar bei der Durchsetzung politischer Ziele. Kurz vor den Olympischen Winterspielen wurde Chodorkowskij begnadigt und lebt inzwischen im Westen. Bezüglich Korruption liegt Russland an der Weltspitze. Es gibt keinen Mittelstand, nur Arme und Reiche (die berühmten Oligarchen). Eine Bürgergesellschaft ist erst im Entstehen und konzentriert sich auf Moskau.

Vor kurzem hat die Münchner Politologin Margareta Mommsen  (*1938) eine neue Analyse des Systems Putin vorgelegt, mit dem Titel  Das Putin-Syndikat  –  Russland im Griff der Geheimdienstler  (2017,  251  S.). Mommsen versucht darin, nicht nur den Werdegang von Wladimir Putin zu erklären, sie bemüht sich auch, die Kräfte zu identifizieren, auf denen Putins Macht beruht. Dies ist immer noch mit großen Unsicherheiten verbunden, ist aber nicht desto weniger interessant.

Präsident im Design

Jelzin hat bekanntlich 1999 einen allseits unbekannten ‚Leningrader Straßenjungen‘ namens Putin zu seinem Nachfolger bestimmt. Er ließ damit den damaligen Favoriten Boris Nemzow fallen. In der Wirtschaftskrise von 1998 hatten Oligarchen und Reformer an Einfluss verloren. Außerdem rief die NATO durch die Bombardierung Serbiens alte Ressentiments hervor und legte die Grundlage eines neuen Antiamerikanismus. Als Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB kannte Putin das Land wie kein anderer. Er konnte Jelzin Sicherheit und Straffreiheit gewähren. Dass er hart gegen Terroristen vorgehen konnte, hatte er in Tschetschenien bewiesen.

Um Putin beim russischen Volke bekannt zu machen, ersannen sich so genannte Spinndoktoren eine Werbekampagne. Dabei soll Tony Blair als Design-Muster gegolten haben, nach innen freundlich, nach außen hart. Die Bilder, die von Putin in die Welt gesetzt wurden, zeigten ihn beim Judo, beim Schwimmen, beim Reiten oder beim Kämpfen mit wilden Tieren.

Staat am Haken des Geheimdienstes

Aus russischer Sicht war die Perestroika verbunden mit dem Verfall der UdSSR als Staat. Sowohl Geheimdienstler wie Oligarchen waren sich darin einig, dass dem durch eine Wiedererstarkung des Staates entgegengewirkt werden müsste. Deshalb gab sich Russland eine Verfassung, die Prinzipien der 5. Republik Frankreichs und der USA kopierte. Die Macht des Präsidenten überragt die der Parteien und des Parlaments. Das Besondere für Russland: Die Exekutive verlässt sich weitgehend auf Sicherheitsleute. Putins Macht basiert – laut Mommsen – auf einem Syndikat bestehend aus Geheimdienstlern (russ. Silowiki) und Wirtschaftsbossen (meist Oligarchen genannt).

Als Vergleich zu Sowjetregierungen wird auch oft von einem ‚Zweiten Politbüro‘ gesprochen. Als seine acht Mitglieder listet Mommsen die folgenden Namen: Sergei Tschermessow, Juri Kowaltschuk, Sergei Schoigu, Dimitri Medwedew, Wjascheslew Wolodin, Igor Setschin, Arkadi Rotenberg und Sergei Sobjanin. Nominell gelten vier als Vertreter des FSB und vier als Vertreter der Wirtschaft, wobei unter den letzteren einige aus dem FSB hervorgingen. Zwei Leute gelten als Kandidaten, d.h. sie sind noch nicht vollberechtigt, nämlich Wiktor Solotow und Sergei Kirijenko. Der Patriarch der orthodoxen Kirche, Kirill, gilt als Ehrenmitglied. Schließlich sei die Kirche die geistige Klammer des Staates. Putin selbst sei nur ‚primus inter pares‘. Selbst sieht sich Putin als Managerpräsident, als höchster Angestellter Russlands.

Die heutige Staatsform Russlands sei eine ‚imitierte Demokratie‘ – meinen Beobachter. Damit ähnle sie den Systemen in Ungarn und der Türkei. Die Parteien und damit das Parlament (russ. Duma) hätten keine politische Funktion, sondern bestenfalls eine administrative. Das gelte insbesondere für die Partei ‘Einiges Russland‘, die über eine satte Mehrheit im Parlament verfügt. Die KP spiele nur noch eine geduldete Außenseiterrolle. Die Provinzen des Landes werden wie zu Sowjetzeiten von Moskau aus kontrolliert. Fünf von sieben Regionalpräsidenten sind Generäle. Sie verwalten ihre Provinzen wie Wehrbezirke.

Medwedew, der Statthalter im Tandem

Von den im vorigen Abschnitt genannten Namen ist uns Westlern eigentlich nur Medwedew bekannt. Als Putin aufgrund der Verfassung (einem Zugeständnis an demokratische Optik) nicht dreimal hintereinander Präsident werden konnte, tauschten sie die Rollen. Medwedew wurde Staatspräsident und Putin Ministerpräsident. Medwedew ist der Sohn zweier Professoren und stammt aus Sotschi am Schwarzen Meer. Auch er gilt als Nationalist, vertritt aber wesentlich moderatere Positionen als Putin. Er forderte mehrmals Reformen und ging auf den Westen zu. Er konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Er blieb als Schaufensterpräsident in unserem Gedächtnis.

Als 2012 ein erneuter Ämtertausch durchgeführt wurde, der Putin wieder ins Präsidentenamt hievte, kam es zu Demonstrationen. Diese wurden unter anderem von Alexei Nawalny angeführt. Nawalny wurde dafür zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Staatsdoktrin und Ukraine-Konflikt

In mehreren Reden, unter anderem zum Jahreswechsel 2000, hat Putin Aussagen zur Staatsdoktrin gemacht. Im Mittelpunkt steht die Betonung einer eigenen russischen Zivilisation, unabhängig vom übrigen Europa, sowie das Bestreben als Großmacht anerkannt zu werden. Damit verbunden ist der Glaube an einen starken Staat, in dem die Regierung für Ordnung und Kontrolle sorgt. Da den USA unterstellt wird, Russland klein und schwach halten zu wollen, nährt dies den Antiamerikanismus.

Putin selbst argumentierte in seinen frühen Jahren für eine Öffnung Russlands gegenüber Europa. Als er dabei das erwartete Entgegenkommen vermisste, begann für ihn die Suche nach der zivilisatorischen Einzigartigkeit Russlands. Da dies sich auch für die Propaganda als wichtig erwies, erfolgte ein Schulterschluss mit der orthodoxen Kirche. Den äußeren Anlass dazu boten die Frauen der Gruppe Pussy Riot, als sie im Jahre 2011 mit ihrer provokanten Aktion in einer Kirche den Patriarchen Kirill I. angriffen. Sie gaben der Regierung Gelegenheit, sie sehr streng zu bestrafen. Die Botschaft lautete: Das christliche Russland lässt nicht zu, was im verdorbenen und satanischen Westen an der Tagesordnung ist. Dazu gehört auch das Verhältnis zu Schwulen und Lesben. In Schulbüchern werden bevorzugt Siegesmythen aus der russischen Geschichte dargestellt. Sie begannen 1612 mit einem Sieg über Polen, setzten sich 1812 fort mit dem Sieg über Napoleon, und 1945 mit dem Sieg über Hitler-Deutschland. Der Sieg von 1918 sei von den Kommunisten verraten worden.

Als Gegenstück zur EU propagierte Russland plötzlich eine Eurasische Union für Wirtschaft und Kultur. Vom Westen wurde dies diffamiert als der Versuch wieder Einfluss auf die früheren Sowjetrepubliken und die Ostblockstaaten zu gewinnen. Russlands Nachbar, die Ukraine, schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. Putin bot Wiktor Janukowytsch 15 Mrd. Euro an, wenn er sich nicht mit der EU assoziiere. Als er Putins Willen erfüllte, kam es im November 2013 zum Maidan-Aufstand und der Vertreibung Janukowytschs aus Kiew. Russland reagierte im März 2014 mit der Annexion der Krim und den sich anschließenden Kämpfen in der Ostukraine. Diese kulminierten im Juli 2014 im Abschuss des MH17-Fluges durch die Aufständigen. Putins Sympathie-Werte in Russland stiegen dabei auf rund 80%. Die ‚Heimholung der Krim' vereinigte nicht nur Tauben und Falken in Putins Umgebung, sondern das ganze Land.

Eklatante Justizskandale

Wie bereits im früheren Beitrag bemerkt, verfügen russische Bürger in ihrem Land über so gut wie keinen Schutz von Leben und Eigentum. Mommsen erinnert an einige Fälle, die auch in Deutschland bekannt wurden. Sehr bekannt ist der Fall des Mickail Chodorkowski. Zuerst wurde er des Steuerbetrugs bezichtigt und seine Firma Jukos ging an einen Staatskonzern (Rosneft) über. Nach mehrjähriger Haft wurde er in einem zweiten Prozess der Bestechung beschuldigt. Dieser Prozess wurde fehlerhaft geführt und politisch gesteuert (der Richter erhielt Telefonanrufe aus dem Kreml). Chodorkowski kam durch die Vermittlung Hans Dietrich Genschers frei und lebt jetzt im Westen.

Weniger bekannt ist der Fall des Sergei Magnitzki. Als Wirtschaftsprüfer deckte er einen Steuerbetrug in Ministerien auf. Es wurden rund 230 Mio. Dollar an Steuer-Rückzahlungen gewährt. Magnitzki wurde verhaftet, im Gefängnis gefoltert bis er dort 2009 starb. Er wurde 37 Jahre alt. Der US-Senat verhängte Einreiseverbote gegen alle Beteiligten, was Putin mit Gegenmaßnahmen beantwortete.

Die Journalistin Anna Politkowskaja hatte kritisch über Putin und den Krieg in Tschetschenien berichtet. Sie wurde im Jahre 2006 in ihrer Moskauer Wohnung erschossen. Als Täter wurden Tschetschenen angeklagt und verurteilt. Auf dasselbe Täterprofil führt der im Jahre 2015 nahe am Kreml erfolgte Mord an Boris Nemzow. Auch hier wurden Tschetschenen verdächtigt. Putin soll sich danach zwei Wochen lang aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben.

Auftritt auf Weltbühne

Ein neues Element scheint erst in den letzten Jahren Eingang in Russlands Staatsdoktrin gefunden zu haben. Es ist der Leitsatz, dass kein Weltproblem mehr ohne Russland lösbar ist. Dem entsprechend engagierte sich Russland in Syrien. Wie es scheint hat Russland damit die Rolle übernommen, die die USA lange Jahre innehatten. Zur effektiveren Terrorbekämpfung baut Russland gerade eine so genannte Nationalgarde auf. Sie soll eine Personalstärke von 400.000 Mann erhalten.

Als Putins Sprachrohr bot Außenminister Sergei Lawrow 2016 der EU und den USA eine Kooperation 'auf Augenhöhe' an. Eine einzige Bedingung sei von Nöten. Es dürfte keine Einmischung in innere Angelegenheiten stattfinden. Auch dieses Mal war die Resonanz sehr lau. Westliche Diplomaten messen nämlich Russland primär an seinem Anteil am weltweiten BIP. Er beträgt bescheidene 1,5%. Dass Russland auf solche Behandlung sehr leicht beleidigt reagiert, macht die Dinge nicht einfacher.