Als ich mich letzte Woche mit meinem Freund und Physik-Fan Hans Diel zum Tee
traf, war er zunächst überrascht, als ich ihm gratulierte. Ich sagte ihm dann,
dass ich an ihn denken musste, als ich neulich Herrn Higgs im Fernsehen weinen
sah. Endlich mal wieder ein Erfolg für die Physik. In letzter Zeit hätte ich
fast nur noch über Lästerer wie Alexander
Unzicker und Kritiker wie Tony
Rothman berichtet. Der vermutete Nachweis eines Higgs-Teilchens sei in dieser
Situation doch sicher Labsal für die geschundene Physiker-Seele.
Ich wäre beeindruckt, wie vorsichtig die Offiziellen von CERN das
Ereignis kommentierten. In Bergen von Messdaten hätten sie die Spuren eines
Teilchens gefunden, das die Eigenschaften besäße, die Peter Higgs vor 48 Jahren
vorhergesagt hatte. Mein Freund wies dann darauf hin, dass das Higgs-Teilchen,
auch Higgs-Boson
genannt, nicht nur schwer zu messen sei. Es sei auch schwer rechnerisch
nachzuweisen. Man müsste bei der Rechnung alle möglichen, wenig sinnvoll
erscheinenden Annahmen machen, um weiterzukommen. Ein ihm bekannter Diplomand
in Stuttgart hätte dies mit Bravour geschafft und dafür auch die Bestnote
bekommen. Der wird jetzt bestimmt auch glücklich sein.
Selbst angesehene Physiker wie Rolf Dieter Heuer,
der Generaldirektor von CERN, sagen immer wieder, dass durch das Higgs-Teilchen
die Materie Masse verliehen bekommt.
Das ist eine sehr verkürzte Formulierung, meinte Hans Diel. Richtig sei, dass durch Verwendung
des Higgs-Teilchens in einer bestimmten Formel, Lagrangian genannt, es an
anderen Stellen in dieser Formel möglich wird, Massen größer Null anzunehmen.
Es ist kein Prozess in der Natur, von dem hier die Rede ist, sondern ein
Schritt, der unserem Denken über die Natur weiterhilft. Unser Modell der Welt
wird plausibler.
Da das Standard-Modell der Teilchen-Physik offensichtlich abgehakt ist,
könnten jetzt viele experimentell arbeitende Physiker sich ein neues Thema
vornehmen, kommentierte ich. Ein Beispiel mit großem praktischem Potenzial sei
für mich die Kommunikation schneller als Licht, die sich aus der
Quantenverschränkung ergibt. Andere Themen, die bei Theoretikern heiß sind,
haben noch nicht zu Modellen geführt, die man experimentell verifizieren oder
falsifizieren könnte. Die bekanntesten Beispiele dieser Art sind die
String-Theorie und die Quantengravitation.
Ein Vergleich von Physik und Biologie drängt sich auf. Beides sind in
ihrem Kern Naturwissenschaften. Der Prozess der Erkenntnisgewinnung ist jedoch
in jedem Fall grundverschieden. Die Physiker haben viele Theorien, die Dinge
vorhersagen. Nicht alle diese Dinge können auch beobachtet werden. Bei manchen
dauert es 40-50 Jahre (siehe Higgs). Einmal nachgewiesen heißt, für immer
nachgewiesen. Umgekehrt gibt es immer noch viele Dinge oder ̶ besser gesagt ̶ Phänomene, die wir nicht verstehen, daher
auch nicht vorhersagen können.
Die Biologie dagegen ist eine historische Wissenschaft. In den
Milliarden von Jahren der Weltgeschichte gab es immer wieder Ereignisse, die
die Entwicklung in eine vorher nicht erwartete Bahn lenkten. Es war eine
Konstellation, die vielleicht sogar einmalig war. Oft können wir sie nicht mehr
rekonstruieren, erst recht nicht im Labor. Die Entstehung des Lebens scheint
solch ein historisches Ereignis gewesen zu sein. Es kann auch sein, dass wir
diesen Prozess nachbauen können, bevor wir wissen, wie es dazu kam.
Nach meiner Diskussion mit Hans Diel bat ich Peter Hiemann in Grasse um
ergänzende Kommentare aus der Sicht eines auch an biologischen Fragestellungen
Interessierten. Hier seine Antwort vom 8.7.2012:
Stellt man die Frage, welche Bedeutung
der experimentelle Nachweis des Higgs-Teilchens (Higgs-Boson) für die Physik
und die Biologie haben, kommt man in etwa zu den (hoffentlich) allgemein
verständlichen Antworten:
1. Das Higgs-Boson bewirkt durch dessen Feld
(Higgs-Feld) die notwendigen Eigenschaften derjenigen Elementarteilchen, die
für Masse abhängige Phänomene unabdingbar sind. Ohne Higgs-Boson keine Materie,
kein Leben.
2. Der Nachweis eines Higgs-Bosons gilt als Hinweis
für die Gültigkeit des Standardmodells der Teilchenphysik. Dieses bietet
Erklärungen für die Entstehung und Dynamik eines Universums, das seinerseits
die Voraussetzung für die Entstehung und Evolution biologischer Strukturen ist.
Die Frage, ob sich aus physikalischen
Erkenntnissen biologische Erkenntnisse ableiten lassen, ist schwieriger zu
beantworten. Die meisten Physiker und Biologen begreifen sich vermutlich als Vertreter
verschiedener Wissensbereiche. Danach ist Physik die Wissenschaft der
grundlegenden Phänomene von Materie und Energie und deren Wechselwirkungen in
Raum und Zeit. Die Betrachtungsobjekte der Physiker reichen von
Elementarteilchen über Atome zu komplexen physikalischen Systemen kosmischer
Ausmaße. Physikalische Erkenntnisse gelten als gesichert, wenn physikalische
Phänomene mittels mathematischer Methoden sowohl hergeleitet (vorhergesagt) als
auch experimentell nachgewiesen werden können.
Danach ist Biologie die Wissenschaft der
grundlegenden Phänomene von Lebewesen, ihrem Aufbau, ihrer Organisation und
Entwicklung sowie ihren vielfältigen Strukturen und Prozessen. Die
Betrachtungsobjekte der Biologen reichen von Molekülstrukturen über Organellen,
Zellen, Zellverbänden, Geweben und Organen zu komplexen biologischen
Organismen. Entsprechend der Vielfalt biologischer Objekte und deren Umgebungen
werden vielfältige Methoden, Theorien und Modelle angewandt, um speziellen
biologischen Forschungszielsetzungen gerecht zu werden. Biologische
Erkenntnisse gelten als gesichert, wenn biologische Strukturen und Prozesse
empirisch nachgewiesen werden. Empirisch gesicherte Erkenntnisse werden für die
Weiterentwicklung biologischer Theorien herangezogen. Einige molekularbiologische
Erkenntnisse gelten als absolut gesichert.
Viele der gesicherten biologischen
Erkenntnisse sind das Resultat vieler Wissenschaftler, die oft verschiedenen
Wissensdomänen angehören. Die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur des DNA-Moleküls, das für alle Lebewesen die genetische Information enthält, war
eine Gemeinschaftsleistung. James Watson war Biochemiker, Francis Crick war
Physiker und Biochemiker, Rosalind Franklin war Spezialistin für die
Röntgenstrukturanalyse von kristallisierten Makromolekülen. An der
Entschlüsselung des genetischen Codes, der jeweils drei aufeinander folgenden
Nukleotiden der DNA (Codons) eine Aminosäure zuordnet (die für die Herstellung
von Proteinen notwendig sind), beteiligten sich Wissenschaftler vieler Bereiche,
auch Mathematiker und Sprachwissenschaftler. Der entscheidende Durchbruch
gelang einem Biochemiker durch die Entschlüsselung des Codons UUU für die
Aminosäure Phenylalanin. Fünf Jahre nach der Entzifferung des ersten Codons,
war die vollständige Entschlüsselung des genetischen Codes mit allen 64 Codons
gelungen.
Übrigens scheint die Struktur der
Doppelhelix nicht nur für biologische Strukturen repräsentativ zu sein. In der
Nähe des Zentrums der Milchstraße befindet sich eine, ungefähr 80 Lichtjahre
lange Staubwolke in Form einer Doppelhelix, in der sich zwei Nebelstränge umeinander winden. Die
Längsachse der gigantischen Doppelhelix-Struktur ist hierbei auf das 300
Lichtjahre entfernte supermassive Schwarze Loch Sagittarius A* im Zentrum der
Milchstraße ausgerichtet, dessen extrem starkes Magnetfeld mit der Materie der
Staubwolke interagiert
Hinsichtlich der Beziehung zwischen
Physik und Biologie darf ein Hinweis auf Erwin Schrödinger nicht fehlen. Der
Quantenphysiker Erwin Schrödinger hat sich schon 1944 die Frage gestellt: „Was
ist Leben – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet“.
Schrödinger war sogar geneigt, den Vorgang der genetischen Mutation mit einem physikalischen Phänomen zu vergleichen.
Zitat: „Der wesentliche Punkt liegt in der Übergangslosigkeit. Sie erinnert den
Physiker an die Quantentheorie – zwischen zwei benachbarten Energiestufen
kommen ebenfalls keine Zwischenstufen vor.“ Schrödingers Aussage bezog sich auf
das allgemeine Phänomen evolutionärer Veränderungen einer biologischen
Struktur. Anders als in der Physik, in der die gleichen physikalischen Regeln
(Gesetze) für Veränderungen physikalischer Strukturen wirksam (postuliert)
werden, sind Veränderungen einer biologischen Struktur immer mit einem
genetischen Programm eines biologischen Individuums verknüpft. Dieses Prinzip
gilt nicht nur für die biologischen Funktionssysteme eines Individuums sondern
auch für das genetische Programm eines Individuums selbst, nach dessen
genetischen Anweisungen (Exprimieren der Gene) die biologischen Funktionen
generiert und unterhalten werden.
Evolutionäre biologische Veränderungen
basieren auf den Prinzipien punktförmiger Veränderungen (Mutationen) des
genetischen Programmes und Weitergabe eines erfolgreichen genetischen
Programmes an die nächste Generation bzw. die Nichtweitergabe (Selektion,
Aussterben) eines nicht erfolgreichen genetischen Programmes. Für Erfolg oder
Misserfolg einer biologischen Struktur ist entscheidend, ob und wie die
Struktur mit der biologischen Umgebung zurechtkommt. Die gleichen evolutionären
Prinzipien, die für den Erfolg eines individuellen genetischen Programmes
wirksam sind, sind auch wirksam für die evolutionäre Entwicklung neuer Arten
mit neuen veränderten genetischen Programmen.
Die Mehrzahl der Physiker geht davon
aus, dass Veränderungen eines physikalischen Systems sich vorhersagen lassen,
sofern sie berechenbar sind. Veränderungen eines biologischen Systems, die
durch evolutionäre Veränderungen seines genetischen Programmes verursacht sind,
lassen sich generell nicht vorhersagen. Im Laufe der biologischen Evolution ist
eine beeindruckende Vielfalt nicht vorhersehbarer Strukturen und Eigenschaften
entstanden.
Wenn ich die Physiker richtig verstanden
habe, brauchte es zum Nachweis des Higgs-Elementarteilchens eine Energiedichte,
wie sie im Universum nach dem Urknall und vor dem Entstehen der Masse
besitzenden Elementarteilchen existiert haben müsste. Für heute im Universum
herrschende Verhältnisse spielen Higgs-Elementarteilchen keine Rolle mehr. Für
Physiker stehen heute Fragen im Vordergrund, die sich um Dunkle Materie und
Dunkle Energie drehen. Ihrer Meinung nach macht die sichtbare Materie, für die
das Higgs-Teilchen „verantwortlich“ ist, nur fünf Prozent der universellen
Materie aus. Die restlichen 95 % universeller Materie, in Form sogenannter
Dunkler Materie und Dunkler Energie, sind ihrer Meinung nötig, um die Existenz
und Strukturen der Galaxien zu erklären. Prominente Physiker zweifeln aber, ob
es überhaupt gelingen könnte, Dunkle Materie und Dunkle Energie zu finden.
Carlos Frank, Professor an der University of Durham, „überlegt bereits, ob sich
die Existenz von Galaxien nicht auch erklären lässt, indem man einfach die Gesetze
der Schwerkraft entsprechend anpasst“ (Spiegel 27/2012).
Es bleibt die Frage, wie die menschliche
Eigenschaft entstand, sich seiner selbst in Wechselwirkung mit seiner Umgebung
(und seiner Position im Universum) bewusst zu sein. Dies wird von Neurobiologen
so beantwortet: Diese biologische Eigenschaft hat sich spontan während der
Evolution der Art Homo herausgebildet. Das menschliche Bewusstsein ist danach
ein Fall von Emergenz. Erweitert man die Fragestellung, dürfte es auch für
Physiker interessant werden: Wie war es möglich, dass biologische Strukturen
aus physikalischen Strukturen hervorgegangen sind? Handelte es sich dabei auch
um einen nicht berechenbaren universellen Fall von Emergenz?
Die Schlussworte zum Thema „Unterschied
zwischen Physik und Biologie“ möchte ich dem Nobelpreisträger für Physik Robert
B. Laughlin überlassen: „Aus physikalischer Sicht macht es besonders viel Spaß
über das Leben zu reden, weil es den extremsten Fall der Emergenz von
Gesetzmäßigkeiten darstellt.“ … „Leider
sind dem Ausdruck Emergenz einige Bedeutungen zugewachsen, die für
unterschiedliche Dinge stehen, darunter übernatürliche Erscheinungen, die den
physikalischen Gesetzen nicht unterworfen sind. So etwas meine ich nicht. Ich
verstehe darunter ein physikalisches Ordnungsprinzip.“
Mit Zustimmung meiner beiden
Freunde stelle ich diese Diskussion ins Netz. Vielleicht regt es jemanden an,
weitere Gedanken zu spinnen, oder uns auf wichtige Dinge hinzuweisen, die wir
übersehen haben.
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