Montag, 9. Juli 2012

Higgs oder der Unterschied zwischen Physik und Biologie

Als ich mich letzte Woche mit meinem Freund und Physik-Fan Hans Diel zum Tee traf, war er zunächst überrascht, als ich ihm gratulierte. Ich sagte ihm dann, dass ich an ihn denken musste, als ich neulich Herrn Higgs im Fernsehen weinen sah. Endlich mal wieder ein Erfolg für die Physik. In letzter Zeit hätte ich fast nur noch über Lästerer wie Alexander Unzicker und Kritiker wie Tony Rothman berichtet. Der vermutete Nachweis eines Higgs-Teilchens sei in dieser Situation doch sicher Labsal für die geschundene Physiker-Seele.

Ich wäre beeindruckt, wie vorsichtig die Offiziellen von CERN das Ereignis kommentierten. In Bergen von Messdaten hätten sie die Spuren eines Teilchens gefunden, das die Eigenschaften besäße, die Peter Higgs vor 48 Jahren vorhergesagt hatte. Mein Freund wies dann darauf hin, dass das Higgs-Teilchen, auch Higgs-Boson genannt, nicht nur schwer zu messen sei. Es sei auch schwer rechnerisch nachzuweisen. Man müsste bei der Rechnung alle möglichen, wenig sinnvoll erscheinenden Annahmen machen, um weiterzukommen. Ein ihm bekannter Diplomand in Stuttgart hätte dies mit Bravour geschafft und dafür auch die Bestnote bekommen. Der wird jetzt bestimmt auch glücklich sein.

Selbst angesehene Physiker wie Rolf Dieter Heuer, der Generaldirektor von CERN, sagen immer wieder, dass durch das Higgs-Teilchen die Materie Masse verliehen bekommt. Das ist eine sehr verkürzte Formulierung, meinte Hans Diel. Richtig sei, dass durch Verwendung des Higgs-Teilchens in einer bestimmten Formel, Lagrangian genannt, es an anderen Stellen in dieser Formel möglich wird, Massen größer Null anzunehmen. Es ist kein Prozess in der Natur, von dem hier die Rede ist, sondern ein Schritt, der unserem Denken über die Natur weiterhilft. Unser Modell der Welt wird plausibler.

Da das Standard-Modell der Teilchen-Physik offensichtlich abgehakt ist, könnten jetzt viele experimentell arbeitende Physiker sich ein neues Thema vornehmen, kommentierte ich. Ein Beispiel mit großem praktischem Potenzial sei für mich die Kommunikation schneller als Licht, die sich aus der Quantenverschränkung ergibt. Andere Themen, die bei Theoretikern heiß sind, haben noch nicht zu Modellen geführt, die man experimentell verifizieren oder falsifizieren könnte. Die bekanntesten Beispiele dieser Art sind die String-Theorie und die Quantengravitation.

Ein Vergleich von Physik und Biologie drängt sich auf. Beides sind in ihrem Kern Naturwissenschaften. Der Prozess der Erkenntnisgewinnung ist jedoch in jedem Fall grundverschieden. Die Physiker haben viele Theorien, die Dinge vorhersagen. Nicht alle diese Dinge können auch beobachtet werden. Bei manchen dauert es 40-50 Jahre (siehe Higgs). Einmal nachgewiesen heißt, für immer nachgewiesen. Umgekehrt gibt es immer noch viele Dinge oder  ̶  besser gesagt  ̶  Phänomene, die wir nicht verstehen, daher auch nicht vorhersagen können.

Die Biologie dagegen ist eine historische Wissenschaft. In den Milliarden von Jahren der Weltgeschichte gab es immer wieder Ereignisse, die die Entwicklung in eine vorher nicht erwartete Bahn lenkten. Es war eine Konstellation, die vielleicht sogar einmalig war. Oft können wir sie nicht mehr rekonstruieren, erst recht nicht im Labor. Die Entstehung des Lebens scheint solch ein historisches Ereignis gewesen zu sein. Es kann auch sein, dass wir diesen Prozess nachbauen können, bevor wir wissen, wie es dazu kam.

Nach meiner Diskussion mit Hans Diel bat ich Peter Hiemann in Grasse um ergänzende Kommentare aus der Sicht eines auch an biologischen Fragestellungen Interessierten. Hier seine Antwort vom 8.7.2012:

Stellt man die Frage, welche Bedeutung der experimentelle Nachweis des Higgs-Teilchens (Higgs-Boson) für die Physik und die Biologie haben, kommt man in etwa zu den (hoffentlich) allgemein verständlichen Antworten:

1. Das Higgs-Boson bewirkt durch dessen Feld (Higgs-Feld) die notwendigen Eigenschaften derjenigen Elementarteilchen, die für Masse abhängige Phänomene unabdingbar sind. Ohne Higgs-Boson keine Materie, kein Leben.

2. Der Nachweis eines Higgs-Bosons gilt als Hinweis für die Gültigkeit des Standardmodells der Teilchenphysik. Dieses bietet Erklärungen für die Entstehung und Dynamik eines Universums, das seinerseits die Voraussetzung für die Entstehung und Evolution biologischer Strukturen ist.

Die Frage, ob sich aus physikalischen Erkenntnissen biologische Erkenntnisse ableiten lassen, ist schwieriger zu beantworten. Die meisten Physiker und Biologen begreifen sich vermutlich als Vertreter verschiedener Wissensbereiche. Danach ist Physik die Wissenschaft der grundlegenden Phänomene von Materie und Energie und deren Wechselwirkungen in Raum und Zeit. Die Betrachtungsobjekte der Physiker reichen von Elementarteilchen über Atome zu komplexen physikalischen Systemen kosmischer Ausmaße. Physikalische Erkenntnisse gelten als gesichert, wenn physikalische Phänomene mittels mathematischer Methoden sowohl hergeleitet (vorhergesagt) als auch experimentell nachgewiesen werden können.

Danach ist Biologie die Wissenschaft der grundlegenden Phänomene von Lebewesen, ihrem Aufbau, ihrer Organisation und Entwicklung sowie ihren vielfältigen Strukturen und Prozessen. Die Betrachtungsobjekte der Biologen reichen von Molekülstrukturen über Organellen, Zellen, Zellverbänden, Geweben und Organen zu komplexen biologischen Organismen. Entsprechend der Vielfalt biologischer Objekte und deren Umgebungen werden vielfältige Methoden, Theorien und Modelle angewandt, um speziellen biologischen Forschungszielsetzungen gerecht zu werden. Biologische Erkenntnisse gelten als gesichert, wenn biologische Strukturen und Prozesse empirisch nachgewiesen werden. Empirisch gesicherte Erkenntnisse werden für die Weiterentwicklung biologischer Theorien herangezogen. Einige molekularbiologische Erkenntnisse gelten als absolut gesichert.

Viele der gesicherten biologischen Erkenntnisse sind das Resultat vieler Wissenschaftler, die oft verschiedenen Wissensdomänen angehören. Die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur des DNA-Moleküls, das für alle Lebewesen die genetische Information enthält, war eine Gemeinschaftsleistung. James Watson war Biochemiker, Francis Crick war Physiker und Biochemiker, Rosalind Franklin war Spezialistin für die Röntgenstrukturanalyse von kristallisierten Makromolekülen. An der Entschlüsselung des genetischen Codes, der jeweils drei aufeinander folgenden Nukleotiden der DNA (Codons) eine Aminosäure zuordnet (die für die Herstellung von Proteinen notwendig sind), beteiligten sich Wissenschaftler vieler Bereiche, auch Mathematiker und Sprachwissenschaftler. Der entscheidende Durchbruch gelang einem Biochemiker durch die Entschlüsselung des Codons UUU für die Aminosäure Phenylalanin. Fünf Jahre nach der Entzifferung des ersten Codons, war die vollständige Entschlüsselung des genetischen Codes mit allen 64 Codons gelungen.

Übrigens scheint die Struktur der Doppelhelix nicht nur für biologische Strukturen repräsentativ zu sein. In der Nähe des Zentrums der Milchstraße befindet sich eine, ungefähr 80 Lichtjahre lange Staubwolke in Form einer Doppelhelix, in der sich zwei Nebelstränge umeinander winden. Die Längsachse der gigantischen Doppelhelix-Struktur ist hierbei auf das 300 Lichtjahre entfernte supermassive Schwarze Loch Sagittarius A* im Zentrum der Milchstraße ausgerichtet, dessen extrem starkes Magnetfeld mit der Materie der Staubwolke interagiert

Hinsichtlich der Beziehung zwischen Physik und Biologie darf ein Hinweis auf Erwin Schrödinger nicht fehlen. Der Quantenphysiker Erwin Schrödinger hat sich schon 1944 die Frage gestellt: „Was ist Leben – Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet“. Schrödinger war sogar geneigt, den Vorgang der genetischen Mutation mit  einem physikalischen Phänomen zu vergleichen. Zitat: „Der wesentliche Punkt liegt in der Übergangslosigkeit. Sie erinnert den Physiker an die Quantentheorie – zwischen zwei benachbarten Energiestufen kommen ebenfalls keine Zwischenstufen vor.“ Schrödingers Aussage bezog sich auf das allgemeine Phänomen evolutionärer Veränderungen einer biologischen Struktur. Anders als in der Physik, in der die gleichen physikalischen Regeln (Gesetze) für Veränderungen physikalischer Strukturen wirksam (postuliert) werden, sind Veränderungen einer biologischen Struktur immer mit einem genetischen Programm eines biologischen Individuums verknüpft. Dieses Prinzip gilt nicht nur für die biologischen Funktionssysteme eines Individuums sondern auch für das genetische Programm eines Individuums selbst, nach dessen genetischen Anweisungen (Exprimieren der Gene) die biologischen Funktionen generiert und unterhalten werden.

Evolutionäre biologische Veränderungen basieren auf den Prinzipien punktförmiger Veränderungen (Mutationen) des genetischen Programmes und Weitergabe eines erfolgreichen genetischen Programmes an die nächste Generation bzw. die Nichtweitergabe (Selektion, Aussterben) eines nicht erfolgreichen genetischen Programmes. Für Erfolg oder Misserfolg einer biologischen Struktur ist entscheidend, ob und wie die Struktur mit der biologischen Umgebung zurechtkommt. Die gleichen evolutionären Prinzipien, die für den Erfolg eines individuellen genetischen Programmes wirksam sind, sind auch wirksam für die evolutionäre Entwicklung neuer Arten mit neuen veränderten genetischen Programmen.

Die Mehrzahl der Physiker geht davon aus, dass Veränderungen eines physikalischen Systems sich vorhersagen lassen, sofern sie berechenbar sind. Veränderungen eines biologischen Systems, die durch evolutionäre Veränderungen seines genetischen Programmes verursacht sind, lassen sich generell nicht vorhersagen. Im Laufe der biologischen Evolution ist eine beeindruckende Vielfalt nicht vorhersehbarer Strukturen und Eigenschaften entstanden.

Wenn ich die Physiker richtig verstanden habe, brauchte es zum Nachweis des Higgs-Elementarteilchens eine Energiedichte, wie sie im Universum nach dem Urknall und vor dem Entstehen der Masse besitzenden Elementarteilchen existiert haben müsste. Für heute im Universum herrschende Verhältnisse spielen Higgs-Elementarteilchen keine Rolle mehr. Für Physiker stehen heute Fragen im Vordergrund, die sich um Dunkle Materie und Dunkle Energie drehen. Ihrer Meinung nach macht die sichtbare Materie, für die das Higgs-Teilchen „verantwortlich“ ist, nur fünf Prozent der universellen Materie aus. Die restlichen 95 % universeller Materie, in Form sogenannter Dunkler Materie und Dunkler Energie, sind ihrer Meinung nötig, um die Existenz und Strukturen der Galaxien zu erklären. Prominente Physiker zweifeln aber, ob es überhaupt gelingen könnte, Dunkle Materie und Dunkle Energie zu finden. Carlos Frank, Professor an der University of Durham, „überlegt bereits, ob sich die Existenz von Galaxien nicht auch erklären lässt, indem man einfach die Gesetze der Schwerkraft entsprechend anpasst“ (Spiegel 27/2012).

Es bleibt die Frage, wie die menschliche Eigenschaft entstand, sich seiner selbst in Wechselwirkung mit seiner Umgebung (und seiner Position im Universum) bewusst zu sein. Dies wird von Neurobiologen so beantwortet: Diese biologische Eigenschaft hat sich spontan während der Evolution der Art Homo herausgebildet. Das menschliche Bewusstsein ist danach ein Fall von Emergenz. Erweitert man die Fragestellung, dürfte es auch für Physiker interessant werden: Wie war es möglich, dass biologische Strukturen aus physikalischen Strukturen hervorgegangen sind? Handelte es sich dabei auch um einen nicht berechenbaren universellen Fall von Emergenz?

Die Schlussworte zum Thema „Unterschied zwischen Physik und Biologie“ möchte ich dem Nobelpreisträger für Physik Robert B. Laughlin überlassen: „Aus physikalischer Sicht macht es besonders viel Spaß über das Leben zu reden, weil es den extremsten Fall der Emergenz von Gesetzmäßigkeiten darstellt.“  … „Leider sind dem Ausdruck Emergenz einige Bedeutungen zugewachsen, die für unterschiedliche Dinge stehen, darunter übernatürliche Erscheinungen, die den physikalischen Gesetzen nicht unterworfen sind. So etwas meine ich nicht. Ich verstehe darunter ein physikalisches Ordnungsprinzip.“

Mit Zustimmung meiner beiden Freunde stelle ich diese Diskussion ins Netz. Vielleicht regt es jemanden an, weitere Gedanken zu spinnen, oder uns auf wichtige Dinge hinzuweisen, die wir übersehen haben.

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