Die Flüchtlingsströme, unter denen Europa in diesem Sommer leidet,
stammen zum großen Teil aus Syrien und dem Irak. In einem Blog-Beitrag
vor drei Wochen hatte ich die Situation in Syrien wie folgt beschrieben:
In Syrien ist die Lage total verworren.
Der Aufstand gegen Assad fand keinerlei Unterstützung von außen bis zu dem
Zeitpunkt, als Assad 2013 gegen die eigene Bevölkerung Giftgas einsetzte.
Danach bildet der IS eine dritte Front. Amerikaner, Jordanier, Engländer und
Franzosen, die keine Bodentruppen einzusetzen bereit sind, versetzen bereits
ein Jahr lang Stecknadelstiche aus der Luft. Der Effekt ist minimal. …. Das
Vertrauen, dass sich die Situation alsbald ändert, ist in der Bevölkerung inzwischen
verschwunden. Kommt uns der Westen nicht zur Hilfe, bleibt nur noch die
Möglichkeit in den Westen zu fliehen.
Um die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) ranken sich Rätsel und Mythen. Das ist teils beabsichtigt,
teils dem Mangel an verlässlicher Information geschuldet. Zwei Bücher, die in
diesem Jahre erschienen, enthalten gut belegte Detailinformationen zur Lage in
Syrien und im Irak. Jürgen
Todenhöfer (Jahrgang 1940) ist ein deutscher Politiker und Publizist, der Ende
2014 eine Reise in das Kriegsgebiert unternahm. In seinem Buch Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat‘,
das im April 2015 erschien, berichtet er darüber. Dem SPIEGEL-Korrespondenten Christoph
Reuter (Jahrgang 1968) wurden Unterlagen zugespielt, die bisher unbekannte
Details über die interne Organisation des IS enthielten. In dem ebenfalls im April
2015 erschienenen Buch Die schwarze Macht stellt er seine
Sicht des IS dar. Ich las beide Bücher hoffend, dass sie etwas Licht in das
chaotische Geschehen bringen.
Kurze Vorgeschichte
Die heutige Situation im Nahen Osten ist Folge des 11. September 2001.
Von Osama Bin Ladin gelenkte Selbstmordattentäter griffen die Weltmacht USA auf ihrem eigenen Territorium an. Beim
anschließend von George W. Bush ausgerufenen Krieg gegen den Terror engagierten
sich die USA im Irak und in Afghanistan. Erst nach 10 Jahren zogen sich die USA
und ihre Verbündeten unter Barack Obama wieder zurück. Es gelang in beiden
Fällen nicht, politisch stabile Verhältnisse zu hinterlassen.
Für die hier betrachtete Region sind die folgenden Maßnahmen bzw.
Ereignisse besonders erwähnenswert. Bei
der Neugestaltung des Iraks wurden Saddam Husseins Parteigänger in der
Baath-Partei und seine Militärs völlig übergangen. Sie wichen daher in den
Untergrund aus. Außerdem versuchte Osama bin Ladins Stellvertreter, der
Jordanier Abu
Mussab az-Zarqawi einen neuen Sammelpunkt für Al Qaida-Kämpfer im zentralen Irak zu schaffen. Durch gezielte finanzielle Unterstützung sunnitischer
Milizen gelang es den Amerikanern, Al Qaida aus dem Irak zu vertreiben.
Bei ihrem Abzug aus dem Irak hinterließen die Amerikaner ein dreigeteiltes
Land. Von Bagdad nach Süden war das Land in der Hand von Schiiten. Diese waren
von Saddam Hussein und der sunnitischen Mehrheit unterdrückt worden. Mit der
Unterstützung aus Teheran im Rücken, übernahmen sie jetzt eine dominierende
Funktion. Das mittlere Gebiet, mit dem Zentrum in Falludscha, gehört den Sunniten.
Unter der Präsidentschaft von Nuri al-Maliki fühlten
sie sich benachteiligt, was den Zugang zu Ämtern und Besitztümern betrifft. Im
Norden um die Stadt Erbil besitzen die Kurden einen weitgehend unabhängigen
Staat.
Heutige Situation in Syrien
Beim IS denken viele Zeitgenossen zuerst an Syrien. Hier nahm er bekanntlich
seinen Ausgang. Baschar al-Assad, der Staatspräsident Syriens, verdankt seine Macht der Stammes-
und Religionsgemeinschaft der Alawiten. Obwohl auch er der Baath-Partei
angehört, sah er in Saddam Hussein einen politischen Gegner. Auf Betreiben Kuweits,
Saudi-Arabiens und der USA kam es um 2010 zu einer Oppositionsbewegung gegen Assad, deren
militärischer Arm sich als Freie Syrische Armee (FSA) bezeichnet.
Ihr schlossen sich desertierte Soldaten und Offiziere der syrischen Armee an. Auch
England und Frankreich, die beiden ehemaligen Kolonialmächte dieser Region,
unterstützen die FSA. Gleichzeitig bildete sich die radikal-islamistische Nusra-Front. Sie ist befreundet
aber nicht identisch mit Al Qaida, aus der nach einigen Umbenennungen schließlich
der IS hervorging. Weitere 4-5 andere Rebellengruppen, die in Syrien für Unruhe
sorgen, sollen der Einfachheit halber hier übergangen werden. Wichtig ist es zu
bemerken, dass Assad zwei strategisch wichtige Verbündete hat, Russland und
Iran. Russland verfügt über eine Flottenbasis bei Latakia an der Mittelmeerküste
und beliefert Assads Armee mit Waffen und Munition. Teheran hat Kontakte zur
Hisbollah im Libanon.
Wegen der leichten Verfügbarkeit von Waffen, hätten sich alle
Rebellengruppen, vor allem die Nusra-Front und der IS, radikalisiert ̶ so schreibt Christoph Reuter. Gemeint ist,
dass friedliche und versöhnliche Elemente in den Hintergrund gedrängt wurden. Wie
oben erwähnt. war es Anfang 2010 gelungen, die Aktivitäten von Al Qaida im
Gebiet der Stadt Falludscha weitgehend zu unterbinden. Ihr Anführer Abu Bakr al Baghdadi
wich nach Syrien aus. Al Qaida formierte sich neu und nahm den Namen IS an. Neben
Abu Bakr übernahmen ehemalige Geheimdienstler und Militärs, die früher im Dienst
von Saddam Hussein gestanden hatten, das Ruder. Es formte sich eine bisher
einmalige Symbiose von Baath-Aktivisten und Islamisten. Sie arbeiteten Anfangs
mit Assads Geheimdienst zusammen. Assad sah sie als das kleinere Übel an im
Kampf gegen die Rebellion. Im seit 2012 tobenden Kampf um Aleppo schonte man
sich gegenseitig. Assads Bomber mieden die Stadteile, in denen sich Kämpfer des
IS aufhielten. Der IS schoss nicht auf Assads Truppen. Als Abu Bakr Mitte 2013 den
IS als eigenes Staatsgebiet ausrief, wurde die 200.000-Einwohner-Stadt Raqqa, östlich von Aleppo, zur
provisorischen Hauptstadt erklärt. Abu Bakr nahm den historischen Titel eines Kalifen
an, und beanspruchte damit die geistige Herrschaft über alle Muslime der Welt.
Wie weit er im Zusammenspiel mit den Baath-Aktivisten überhaupt politischen
Einfluss hat, ist eine offene Frage. Bezeichnend ist, dass Assads Regierung
weiterhin alle Gehälter und Pensionen in Raqqa zahlt ̶ obgleich sie die Hauptstadt eines
anderen Staates sein soll.
Die Vorgehensweise des IS unterschied sich fortan von allen andern
Rebellengruppen, insbesondere aber von der ursprünglichen Al Qaida. Sie
infiltrierte eine zu erobernde Stadt mit einer Spähtruppe (Missionsbüro
genannt), die zuerst alle strategischen Punkte besetzte und, basierend auf den
sozialen Strukturen der Stadt, einen Organisationsplan verfertigte. Sobald die
Stadt eingenommen war, wurde die alte Verwaltung durch neue Funktionsträger
ersetzt. In guter Stasi-Manier werden alle Funktionsträger und die Bürger der
Stadt intensiv beobachtet. Besonderer Wert wird auf Medienarbeit gelegt. Die
religiöse Botschaft dient nur noch als Mittel zum Zweck. Wer diese Strategie
entworfen hatte und auch umsetzte, war ein Luftwaffenoberst (Pseudonym Haji Bakr) aus dem früheren
irakischen Geheimdienst. Seine Unterlagen gerieten in Januar 2014 in die
Öffentlichkeit, als er in einem Feuergefecht mit einer andern Rebellengruppe erschossen
wurde.
Der IS bediente sich in Syrien bewusst brutalster Methoden, um die
Bevölkerung und ihre Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen. So töteten sie
etwa 700 Angehörige eines Stammes (der Al-Schuaytat), als diese sich weigerten,
gewisse Auflagen zu erfüllen. Die Weltöffentlichkeit wurde erschüttert durch
die brutale Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley
im Sommer 2014. Der Engländer John Cantlie blieb am
Leben, da er für den IS als Fernsehreporter zu dienen bereit war. Jürgen
Todenhöfer, der sich während seines Besuchs nach ihm erkundigte, wurde gebeten
im Fernsehen des IS zum Gefangenenaustausch aufzurufen, was er jedoch ablehnte.
Auch das Verhältnis zu Assad änderte sich. Seine Luftwaffe bombardierte
jetzt auch die Stellungen des IS, sowie das von ihr besetzte Gebiet. Da Assad
nur über ältere Flugzeuge verfügt, finden seine Angriffe tagsüber statt. Nachts
greifen amerikanische Flugzeuge dasselbe Gebiet an, und zwar mit schwereren und
präziser treffenden Bomben. Der IS ist auch deshalb gefürchtet, weil er immer
wieder auf Selbstmord-Attentäter (so genannte Märtyrer-Operationen)
zurückgreift. Ein großer Teil der IS-Kämpfer sind Ausländer. Es wird geschätzt, dass ihr Anteil
in Syrien bei 70% liegt [hier sind vermutlich die Iraker im IS mitgezählt]. Die
Gesamtzahl der Kämpfer in Syrien soll etwa 6.000 bis 8.000 betragen. Ihr
Nachschub erfolgt über die ‚Grüne Grenze‘ zur Türkei, die auch Flüchtlingen als
Ausweg dient. Die einen freuen sich, wenn sie den brodelnden Kessel verlassen können,
die andern, wenn sie einsteigen können.
Heutige Situation im Irak
Die Anti-Maliki-Stimmung im Irak machte es dem IS leicht, wieder in den
Irak zurückzukehren. Wie üblich, war der Eroberungszug minutiös geplant.
Überall zwischen Raqqa und Mossul
waren ‚Missionare‘ als Schläfer platziert, die den potentiellen Gegner
irritierten oder lahmlegten. Nur so ist zu verstehen, dass im August 2014 ein
wilder Haufen maskierter Jugendlicher eine Millionenstaat überrennen konnte.
Die Zahlenangaben schwanken enorm. Auf der Seite der Angreifer sollen es
zwischen 200 und 400 Kämpfern gewesen sein. Sie waren allerdings mit moderneren
Waffen und Fahrzeugen ausgerüstet als die Verteidiger. Es gab im Grunde keinen
Widerstand. Nach vier Tagen befand sich die ganze Stadt und ihre zwei Millionen
Einwohner in der Hand des IS. Die Garnison der irakischen Armee soll 20.000
Soldaten stark gewesen sein. Zuverlässiger ist die Angabe, dass es sich um zwei
verschiedene Divisionen handelte. Wie stark ihre tatsächliche Kampfkraft noch
war, lässt sich weniger gut sagen. Dass in Mossul 1.700 Maliki-Soldaten
erschossen worden seien, gilt als unbelegt. Für Propagandazwecke ist die Zahl jrdoch
nützlich.
Wie Todenhöfer bei seinem Besuch im Dezember 2014 feststellte, lagen
einige zerstörte Panzer herum. Es wird erwähnt, dass rund 200 Panzer und 10-15
Jets bei der Eroberung von Mossul erbeutet wurden. Es fehlen allerdings
ausgebildete Fahrer und Piloten, um sie zu nutzen. Die zerstörten Häuser in
Mossul resultierten eher von dem anschließenden Bombardements durch irakische
und amerikanische Flieger. Das Leben in der Stadt ging weiter wie bisher,
zumindest was die sunnitische Bevölkerung betrifft. Die Christen wurden vor die
Wahl gestellt, Schutzsteuer zu zahlen oder zu fliehen. Rund 120.000 Christen
sollen Mossul in Richtung Erbil verlassen haben. Die Berichte über Massaker,
die der IS im Sommer 2014 unter der Religionsgruppe der Jesiden verübte, die das Sindschar-Gebirge
bewohnten, scheinen zutreffend zu sein. Alle Zahlenangaben sind jedoch mit
Vorsicht zu genießen, auch die Zahlen über vergewaltigte oder als Sklavinnen
verkauften Frauen.
Absurditäten oder nur Kuriositäten?
Jürgen Todenhöfer wurde während seines Aufenthalts in Mossul unter
anderem von zwei deutschen Islamisten begleitet. Einer stammte aus Düsseldorf (Abu
Quatadah), der andere aus Solingen (Abu Loth). Was er sich anhören musste, wenn
er nach der Ideologie des IS bohrte, das war selbst für ihn schwer zu schlucken.
Hier einige Kostproben:
- Der IS erzwingt die Verschleierung von Frauen und das Rauchverbot in der Öffentlichkeit, weil dies im Interesse der Betroffenen ist. Dass Frauen als Sklaven gehalten werden, hat im Islam Tradition.
- Wer akzeptiert, dass der Staat eigene Gesetze erlässt, ist kein (wahrer) Muslim. Er ist ein Abtrünniger.
- Alle Christen und Juden, die unter Muslimen leben möchten, müssen eine Schutzsteuer zahlen. Alle Schiiten müssen konvertieren oder werden getötet. Das gilt für alle 200 Millionen von ihnen.
- Der IS ist nicht auf den Nahen Osten beschränkt. Als Nächstes kommt Nordafrika dran (Ägypten, Libyen, Tunis), danach Europa.
- Die heute in Europa lebenden Muslime sollten nicht ruhig schlafen, während ihre Brüder bombardiert werden.
- Der IS wird alle Untaten rächen, die Christen an Mohammedanern verübten, seit den Kreuzzügen und der Wiedereroberung Andalusiens bis heute.
Während Todenhöfer sich während der Reise aus verständlichen Gründen
sehr zurückhielt, schrieb er von zuhause aus einen offenen Brief an Abu Bakr.
Er wies diesen darauf hin, dass die vom IS begangenen Gräueltaten dem Geist des
Korans widersprächen, der in seinen 114 Suren Allah 113 Mal wegen seiner Barmherzigkeit
preist. Der IS sei ein ‚antiislamischer Staat‘. Die Westler, die sich dem IS anschlössen, würden missbraucht, um den Islam zu zerstören. Todenhöfer scheint unter dem
Eindruck zu stehen, dass Abu Bakr der die Macht besitzende und ausübende Führer
des IS ist und nicht nur eine Galionsfigur.
Mögliche Auswege und Lösungen
Wie andere Beispiele zeigen, kann ein langer Bürgerkrieg zu einer völligen
Destabilisierung eines Staates oder einer Region führen. Es besteht wenig
Veranlassung mit einem bevorstehenden ökonomischen Kollaps des IS zu rechnen.
Nach Schätzung von Masud
Barzani, dem Präsidenten der Region Kurdistan im Irak, nimmt der IS durch
Erpressung und Öl-Diebstahl jeden Tag drei Millionen US-Dollar ein.
Solange tägliche Nadelstiche per Drohnen oder Kampfbomber das einzige
Gegenmittel sind, besteht eher die Gefahr einer Ausweitung als einer Beendigung des Bürgerkrieges.
Die Kollateralschäden unter Zivilisten bestimmen dann das Bild. Wie heißt es
doch: Jedes durch Bomben getötete Kind schafft zehn neue Terroristen. Im Irak auf
eine Aussöhnung zwischen Schiiten und Sunniten zu hoffen, fällt schwer, schwelt
doch der Streit bereits 1400 Jahre lang. Christoph Reuter beendet sein Buch mit
dem Satz: Die Menschen (in der arabischen Welt) müssen den Islam durchleben, und
sein Heilsversprechen entlarven. Diese Aussage mag wegen ihrer Radikalität übertrieben sein.
Nach dem 30 Jahre andauernden Krieg im 17. Jahrhundert (1618-1648) hat
in Europa die Vernunft und Toleranz schließlich einen Durchbruch erzielt. Zwei
Kirchen verzichteten auf ihren Alleinvertretungsanspruch. In andern Fällen
gingen die beteiligten Regierungen den Weg der Aufteilung des Landes und der Umsiedlung
der Bevölkerung. Ob Russlands Verstärkung seiner militärischen Präsenz in
Syrien den Ausschlag zu Gunsten Assads ergeben wird, lässt sich zurzeit noch nicht sagen.
Dass das verbesserte Verhältnis der USA zu Teheran helfen kann, auch diesen
Konflikt zu beenden, ist bestenfalls eine vage Hoffnung. Ich sehe sehr wenig,
was Deutschlands und Europas Politiker tun können. Wer sie trotzdem in der
Verantwortung sieht, ist ein unverbesserlicher Optimist oder aber er scheint die
letzten 100 Jahre verschlafen zu haben.
Historische Reminiszenz
Seid mehreren Tagen fallen auch russische Bomben in Syrien. Sie treffen die FSA und nicht den IS. Im Fernsehen werden Tote gezeigt. Es sollen Zivilisten gewesen sein.
AntwortenLöschenIn SPIEGEL 41/2015 vertritt Christoph Reuter die Meinung, dass Assad die Russen ins Land gerufen habe, um ihm gegen Teherans schiitische Vorposten, die Hisbollah, zu helfen. Eine neue schiitische Moschee in Latakia störe Assad mehr als der IS mit ein paar hundert ausländischen Kämpfern.
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