Samstag, 2. Februar 2013

Joseph Stiglitz über die Finanzkrise

Seit ich ein Abo bei der digitalen Bibliothek Skoobe habe, komme ich mir vor wie im Schlaraffenland. Ich habe in sechs Monaten dreizehn e-Bücher gelesen, dazu zwei weitere bei iBooks, die nicht im Angebot von Skoobe waren. Zuletzt las ich zwei Bücher von Joseph Stiglitz aus den Jahren 2010 und 2012. Damit war ich wieder bei den Problemen der Tagespolitik angelangt.

Stiglitz ist nicht irgend ein Autor. Er ist Nobelpreisträger für Ökonomie, ehemaliger Wirtschafts-Berater von Bill Clinton und ehemaliger Chefwissenschaftler der Weltbank. Jetzt ist er 70 Jahre alt und (nur noch) emeritierter Professor der Columbia University in New York. Er vertritt vehement die Gegenbewegung zur Chicago-Schule um Milton Friedman. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, für die ihr teilweise die ideologische Schuld zugesprochen wird, ist sie desavouiert. Die Methode Keynes dagegen ist im Aufwind. 

Ich selbst kann mich weder mit der einen noch mit der anderen Denkschule anfreunden. Ich brauche dies ja auch nicht. Wie ich an anderer Stelle schrieb, wirkt Keynes wie eine Droge, die nur im Moment der Einnahme für bessere Stimmung sorgt. Es wird nämlich in leichtsinniger und geradezu panischer Weise mit Geld um sich geworfen. Die dadurch geschaffenen Probleme werden dann auf Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Noch kein auf Keynes sich beziehender Politiker war lange genug im Amt, um das Geld wieder einzusammeln. Man zögerte diese unangenehme Tätigkeit hinaus, so lange es ging – auf jeden Fall bis nach der nächsten Wahl.

Stiglitz ist ein Keynesianer, wie er im Buche steht. Gegenüber den Neoliberalen betont er die Rolle des Staates. Man muss bei allen Keynesianern fragen, welcher Staat eigentlich gemeint ist. Das ist heute weniger klar als früher, als noch Nationalökonomie gelehrt wurde. Amerikanische Autoren wie Stiglitz nehmen natürlich die USA und den jeweiligen Präsidenten an, evtl. noch die Euro-Zone. Jean Claude Juncker und demnächst Jeroen Dijsselbloem können sich da nur wundern, was ihnen alles zugetraut wird. Eigentlich müsste man jedes Land, das zu den G-20 gehört, separat betrachten, aber deren Zusammenwirken nicht vergessen.

Finanzkrise und ihre Folgen

Das erste Buch, auf das ich hier eingehen will, heißt: Im freien Fall. Es erschien im Oktober 2010. Stiglitz setzt sich darin auf über 400 Seiten mit der Ursache und den Folgen der Finanzkrise auseinander. Er sah die Ursache in dem, was er Marktfundamentalismus nennt. Gemeint ist der Neoliberalismus á là Friedman, der durch Margret Thatcher und Ronald Reagan in der Politik Fuß fasste. Danach stellen freie Märkte von sich aus Wohlstand und wirtschaftliche Stabilität sicher. Man glaubt an die Allmacht des Marktes und schließt das Vorhandensein externer Kräfte aus. Jedweden Eingriff des Staates in die Wirtschaft hält man für schädlich.

Nach Stiglitz lieferte die Krise den schlagenden Beweis, dass die Vertreter des Neoliberalismus selbst nicht an die Wirksamkeit ihrer Lehre glaubten. Man musste den größten Automobilkonzern der USA (General Motors) und die drei größten Versicherungen (Freddie Mac, Fannie Mae und AIG) verstaatlichen bzw. durch Finanzspritzen retten. Auch die Lehman-Pleite, die angeblich ein Exempel statuieren sollte, hatte zur Folge, dass vielen Banken überall auf der Welt geholfen wurde. Den vielen privaten Hypothekenschuldnern wurde die Hilfe verweigert. Man befürchtete bei ihnen angeblich die Förderung leichtfertigen Verhaltens wegen falscher Anreize (engl. 'moral hazard'). Dabei seien falsche Anreize gang und gäbe, und zwar hauptsächlich im Finanzsektor.

Innovationen und Fehlverhalten der Banker

Der fortlaufende Wandel der Wirtschaftsstruktur führte von der Landwirtschaft zur Industrie, und von dieser zur Dienstleistung als dominierendem Teilgebiet. Dazu kam die Globalisierung. Als besonders erfolgreiche Dienstleistung erwies sich das Finanzwesen. Nach dem Platzen der Bitcom-Blase um das Jahr 2000 wanderte das freie Geld in den Immobilienmarkt. Banker wurden kreativ und verpackten die dort üblichen Risiken in neue Finanzprodukte. An die Stelle von Geldgebern, die ihre Kunden persönlich kannten, und daher die Bonität beurteilen konnten, traten anonyme Investoren und Computer-Modelle. Das Geschäft der Derivate entstand.

Statt an der Zinsdifferenz zwischen ausgeliehenem Geld und den Einlagen der Kunden verdienten Banken lieber an Gebühren. Das ist sicherer. Durch die Verbriefung von Forderungen wurde das Risiko, dass sie notleidend würden, auf breite Schultern verteilt, insbesondere ins Ausland. (Dass dabei Düsseldorf für amerikanische Banker den Ruf hatte, besonders aufnahmefähig zu sein, hat mich amüsiert). Rating Agenturen spielten mit, indem sie toxischen Papieren Bestnoten verpassten. Der falsche Anreiz bestand darin, dass man Risiken, die man veräußerte, weniger gewissenhaft prüfte. Viele Sicherheiten, die man verlangte, basierten auf stetig steigenden Immobilienpreisen. Als Hauspreise anfingen zu fallen, war der Trend nicht mehr zu stoppen.

Staatliche Rettung der Banken

Stiglitz ist der Meinung, dass sowohl Bush wie Obama lieber den Banken helfen wollten als den Hausbesitzern. Bei Bush passte das in sein Denken als Republikaner. Bei Obama war es eine große Enttäuschung. Bush gab den Banken fast eine Billion US$ ohne Kontrolle. Obama redete zwar im Wahlkampf darüber, aber als Präsident tat er nichts, um dies zu ändern. 

Statt Fehler zu korrigieren, kassierten Banken Milliarden und zahlten alsbald wieder opulente Boni. Sie erhielten Steuergeschenke und zinslose Kredite, die zu hohen Zinsen weitergereicht wurden (In Europa erhalten Banken fast zinslos ‒ für genau 0,75% ‒ Geld von der EZB, mit dem sie Anleihen kaufen können, die mit 6-7% verzinst sind). Nach wie vor werden Gewinne privatisiert, Verluste jedoch vergesellschaftet. Einige Banken sind zu groß, um sie in Konkurs gehen zu lassen, oder aufzulösen. Stattdessen erhalten sie staatliche Bürgschaften oder Finanzspritzen. Hätte man Lehman gerettet, wäre die Krise nicht so stark geworden, sagen heute die Banker.

Der Grund für diese Situation liegt in der Verflechtung zwischen Regierung und Wall Street. Firmen wie Goldmann Sachs, über die ich in einem früheren Eintrag berichtete, sind auch heute noch sehr einflussreich. Es findet ein intensiver Personalaustausch statt. Die bekanntesten Beispiele sind Hank Paulson und Tim Geithner. Ganz Amerika würde von der Wall Street gegängelt. Auch die US Notenbank (Fed genannt) unter Alan Greenspan glaubte an die Märkte. Sie half den Banken kräftig und tut es auch heute noch. 

Der Staat gilt als der letztinstanzliche Retter. Er ist nicht Fürsorger für alle Lebensphasen wie in sozialistischen Ländern. Der Staat leistet einen Versicherungsschutz ohne Prämie.  Besser wäre es, alle an der Börse beteiligten Firmen würden geamtschuldnerisch haften, ehe der Staat einen Cent zahlt.

Notwendige Regulierung und Umstrukturierung

Stiglitz zufolge zahlten nicht die Verursacher der Krise, die Banken, für die Verluste, sondern der Steuerzahler. Die Rettungsaktionen kosteten sehr viel Geld. Man rettete diejenigen Firmen, die Fehler gemacht hatten, statt den guten Firmen zu helfen. Es erfolgte keine Umstrukturierung des Marktes.

Die Finanzindustrie sollte nicht nur sich selbst zu Wohlstand verhelfen, sondern der gesamten Wirtschaft und der Bevölkerung. Sie sollte für die Schaffung von Arbeitsplätzen sorgen. Stattdessen führte sie Innovationen ein, nur solche finanzieller Art. Regulierungen wären angebracht, um Fehlanreize auszuschließen. Außerdem sollte die Transparenz gestärkt und komplexe Produkte verboten werden. Dazu gehören einige der Derivate.

Die Krise habe gezeigt, dass Finanzmärkte nicht von sich aus effizient und damit wohlstandssteigernd funktionieren und dass die vermeintlichen Selbstheilungskräfte des Marktes nicht ausreichen. Der Staat habe eine wichtige Funktion. Obama hätte im Sinne von Keynes ein Konjunkturprogramm auflegen müssen, also (noch) mehr Schulden machen müssen. Statt Firmen oder Branchen zu retten, die Fehlverhalten zeigten, hätte man Investitionen anregen müssen, nicht Konsum. Echte Innovationen gelten seit Schumpeter als der Motor der Wirtschaft. Amerika müsste in Hochtechnologie investieren statt in Immobilien. 

Es gab zahllose Formen des Fehlverhaltens, die nicht sanktioniert wurden. Vor allem wurde versäumt, den Finanzbereich so zu verkleinern, dass er die gesellschaftlichen Bedürfnisse besser befriedigt. Die massiven Subventionen für die Finanz- und Autoindustrie waren unfair der übrigen Wirtschaft gegenüber.

Neue Marktwirtschaft und neue Gesellschaft

Der Ruf nach einer neuen Wirtschaftsform und nach einer neuen Gesellschaft erschallt als Kapitelüberschriften. Dass in beiden Kapiteln das Wort Sozialismus tunlichst vermieden wird, hängt mit der spezifischen amerikanischen Situation zusammen. Sozialismus wird bekanntlich mit Kommunismus gleichgesetzt, und die bloße Erwähnung des Wortes hätte vor 60 Jahren Senator Joseph McCarthy auf den Plan gerufen. Diese Erfahrung ist Teil des Erbgut aller Amerikaner.

Laut Stiglitz brauchen wir ein neues Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft, sowie einen Strukturwandel der Wirtschaft. Die Wirtschaft sollte anerkennen, dass sie ihre größten Erfolge der öffentlichen Forschung (Internet, Biotechnologie) verdankt (!). Die Marktwirtschaft steht vor Herausforderungen, die sie ohne Staat nicht bewältigen kann, nämlich die Sicherung der Vollbeschäftigung, die Ökologie, die Ungleichgewichte im globalen Markt, die Umstrukturierung von einer Fertigung- in eine Dienstleistungswirtschaft und die Reduzierung der Ungleichheit in der amerikanische Gesellschaft.

Der Wettbewerbsvorteil der USA läge in ihren Hochschulen, obwohl sie nicht gewinnorientiert sind. Deutschland hat zwar einen Vorteil bezüglich der beruflichen Ausbildung. Deren Bedeutung lag jedoch mehr in der Vergangenheit als in der Zukunft, d.h. in der Fertigungswelt und nicht in der Dienstleistung. Die Mängel des amerikanischen Modells gestatteten es China in Afrika und Südamerika vorzudringen. 

Die Annahme, dass Individuen rational handeln, sei Unsinn, ebenso der Glaube, dass Märkte immer effizient seien. Alle Teilnehmer handelten basierend auf unvollständiger Information. Es gäbe Asymmetrien. Der Staat habe in dieser Hinsicht Vorteile. Er habe Zugang zu Informationen, über die andere Marktteilnehmer nicht verfügen (Für diese Art von Untersuchungen erhielt Stiglitz 2001 den Nobelpreis). Der Staat habe unter anderem die Aufgabe die Finanzen zu regulieren, die Umwelt zu schützen und Bildung und Forschung zu finanzieren.

Man habe die Zeit des amerikanischen ‚Triumphalismus‘ zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der Lehman-Pleite nicht genutzt, um für mehr Gerechtigkeit in der Weltwirtschaft zu sorgen. Angesichts der Nahtoderfahrung der Weltwirtschaft, habe man nur das alte System gerettet, und das zu einem hohem Preis.

Immer noch sei der Gelderwerb das A und O, der Materialismus die vorherrschende Weltanschauung. Es mangele an moralischem Bewusstsein und moralischer Bindung. Privatinteressen gingen immer noch vor den Interessen der Gesellschaft. Wir messen die Leistung einer Volkswirtschaft immer noch mit einem falschem Maß, dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). In dem Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission hat er sich damit auseinander gesetzt. Schlimm sei auch, dass durch die falschen Prioritäten das wichtigste, was wir haben, fehlgeleitet wird, nämlich die Humanressourcen. Die besten Studenten eines Jahrgangs gingen immer noch in die Finanzwirtschaft, statt in Naturwissenschaft, Technik und Medizin.

Ist das Ende erreicht?

Der freie Fall, gemeint ist eine Rezession, sei dann zu Ende, wenn Vollbeschäftigung herrscht und Löhne steigen. Das sei in den USA noch nicht der Fall. In Europa sieht es anscheinend besser aus. Übrigens kommt die Eurokrise in dem Buch nicht vor. Stiglitz gibt lediglich zu bedenken, dass wir langfristig ein neues Währungssystem bräuchten mit Sonderziehungsrechten für arme Länder.

Was von der Krise bleibe, sei eine Erosion des Vertrauens. Es sei fraglich, ob wir je ein neues Finanzsystem bekommen, das seiner Verantwortung für die Wirtschaft gerecht wird. Leider klingt das nicht sehr optimistisch.

Weitere Themen von Stiglitz

Das zweite Buch, das ich ganz las, hat den Titel Der Preis der Ungleichheit und behandelt die Jugendunruhen auf der ganzen Welt (unter anderem die Occupy-Bewegung). Es erschien im Juni 2012. Ich werde es demnächst besprechen. Über Globalisierung hatte Stiglitz bereits im Jahre 2006 ein beachtenswertes Buch geschrieben, auf das ich hier nicht näher eingehen will. Es hatte im Deutschen den Titel Die Chancen der Globalisierung. Das Thema hat den Höhepunkt seiner Aktualität überschritten.

5 Kommentare:

  1. Nicht Erbgut dieses Amerikaners.

    Es war mir nach 6 Wochen Amtszeit klar, dass Obama ein NOOP in Bezug auf die Finanzkrise war. Ich empfand damals, die Krise sei seine klarste und wichtigste Aufgabe gewesen. Dafuer war nicht Groesse notwendig, sondern nur Mittelmass. Aber die Zeit des einfachen Handelns verging ergebnislos. Jetzt ist Groesse von Noeten, und immer noch nicht vorhanden.

    Ich las letzte Woche im Spiegel, dass Beamte in Berlin im Durchschnitt ueber 37 Tage im Jahr wegen "Krankheit" vom Dienst fern blieben. Kann das wahr sein? Ist das ein Zeichen vom Ende des Bismarck-Beamtentum?

    Was ist Amerikas Erfolgsgleichung? Was ist Deutschlands Erfolgsgleichung? In Deutschland waren die Haupttugenden Pflicht und Arbeit. Und wie lange dauert's, wenn die Gleichung nicht mehr stimmt, bis man nicht mehr vom Erfolg reden kann?

    In Amerika erfuellen die oeffentlichen Schulen ihre Integrationsrolle immer weniger. Auch die Katholischen Schulen - weil so viele geschlossen werden, und die die offen bleiben, hauptsaechlich den Reichen dienen. Das trifft eine Amerikanische wirtschaftliche Haupttugend - Opportunity.

    Stimmt die Gleichung noch?

    Calvin Arnason

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    1. Mein gefühlsmäßiger Eindruck ist auch, dass Beamte mehr 'krank feiern' als Angestellte in der privaten Wirtschaft. Ich kann es nicht mit Zahlen belegen. Auch ist der Beamte aus der Zeit Bismarcks bestenfalls ein fernes Ideal.

      Den derzeitigen wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands im Vergleich zu anderen europäischen Ländern verdanken wir den sehr zurückhaltenden Gewerkschaften und den Schröderschen Arbeitsmarktreformen. Wieweit dabei deutsche Grundtugenden eine Rolle spielen, ist mir unklar.

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    2. Aus dem Spiegel Artikel: "Beamte und Angestellte im Öffentlichen Dienst in Berlin fallen immer häufiger aus. Laut Senat fehlen sie wegen Krankheit an durchschnittlich 37,6 Arbeitstagen im Jahr - zwei mehr als im Vorjahr. Dem Land entstehen Kosten von mehreren hundert Millionen Euro.

      Der Krankenstand aller Berliner Beschäftigen lag laut BKK-Gesundheitsreport 2010 bei 18,3 Tagen - und somit deutlich niedriger als im Öffentlichen Dienst.

      =============

      Was ich ueber die Deutschen und ihre Arbeit schrieb, habe ich aus viel Erfahrung in Amerika und Deutschland gewonnen. Man sieht es hier in Amerika, wo Bürger, dessen Vorfahren aus Deutschland kamen, oft "die Arbeit" als Lebenselixir preisen.

      Calvin Arnason

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  2. Am 14.2.2012 schrieb Peter Hiemann aus Grasse (Teil 1 von 2):

    im September 2009 überraschte mich folgende dpa/pa Nachricht vom 14.9.2009: "Frankreich will Wachstumsdefinition revolutionieren“. Am Montag stellten die von Sarkozy beauftragten Nobelpreisträger, US-Ökonom Joseph Stiglitz und der indische Wirtschaftsphilosoph Amartya Sen, ihren Vorschlag vor, wie das Wachstum künftig umfassender erhoben und abgebildet werden könne. Die beiden fordern, das Befinden der Menschen und seine Nachhaltigkeit als zusätzliche Faktoren zu erheben. So erhöhten etwa Verbesserungen der Umwelt die Zufriedenheit der Menschen, ohne dass dies bislang erhoben werde. Weitere Faktoren, die die beiden berücksichtigen wollen: Sozialprobleme, Freizeit, die Qualität öffentlicher Dienste und unbezahlte Wertschöpfung - etwa die Tätigkeit in der Familie. Der Geldwert allein reiche nicht als Wirtschafts-Gradmesser."

    Um mehr über Stiglitz' und Sens ökonomische Vorstellungen zu erfahren besorgte ich mir „Die Chancen der Globalisierung“ von Stiglitz und „Ökonomie für den Menschen – Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft“ von Sen. Durch Sen wurde ich auch auf die Existenz des „Human Development Index“ (HDI) der Vereinten Nationen aufmerksam. Der HDI wird seit 1990 im jährlich erscheinenden Human Development Report des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) veröffentlicht. Im Report von 2011 (http://de.wikipedia.org/wiki/Human_Development_Index) steht Frankreich „nur“ an 20. Stelle. Vielleicht war das für Sarkozy mit ein Grund, eine Kommission einzuberufen, die sich einmal mit Sens Vorstellungen beschäftigt.

    Sie haben in Ihrem Blog auf das Resultat der von Sarkozy etablierten Kommission verwiesen. Ich kann aus den derzeitigen Diskussionen über ökonomische Theorien nicht erkennen, dass der Report an den existierenden ökonomischen Systemen etwas bewirkt hätte. Um vorweg klarzustellen, es ist mir unmöglich, den Einfluss von Stiglitz' Überlegungen auf die Vielfalt existierender ökonomischer Theorien und in der Praxis existierender ökonomischer Systeme auch nur annähernd abzuschätzen. Das gleiche gilt auch für Milton Friedmans Überlegungen. Vermutlich wird Stiglitz' vorwiegend mit John Maynard Keynes ursprünglicher Arbeit „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936)“ assoziiert, weil sowohl Keynes versuchte als auch Stiglitz versucht, Lösungen für existierende gesellschaftliche Probleme vorzuschlagen, die zu einem erheblichen Teil auf ökonomische Prozesse zurückgeführt werden können. Vermutlich wird Friedman vorwiegend mit Adam Smiths ursprünglicher Arbeit „Der Wohlstand der Nationen“ assoziiert, weil sowohl Smith als auch Friedman überzeugt waren, dass ein freier Markt die Quelle allen gesellschaftlichen Reichtums ist.

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  3. Am 14.2.2012 schrieb Peter Hiemann aus Grasse (Teil 2 von 2):

    Übrigens habe ich bei Wikipedia einen interessanten Hinweis gefunden, der die Vermutung zulässt, dass sich Stiglitz' und Friedmans Überlegungen ergänzen, und nicht wie häufig dargestellt widersprechen. Der Hinweis verweist auf keinen Geringeren als Amartya Sen: „Amartya Sen bezeichnete den Beitrag von Smiths „Wohlstand der Nationen“ für unser Verständnis dessen, was später Kapitalismus genannt wurde, als monumental. Seine Erkenntnisse sind bis zum heutigen Tag bedeutend. Nach Sen betrachtete Smith den reinen Marktmechanismus keineswegs als ausreichend. Für das Funktionieren einer Marktwirtschaft ist außerdem noch Vertrauen zwischen den Akteuren einschließlich der Banken unverzichtbar. Smith erläuterte in seinem Werk die Mechanismen, die dazu führen, dass dieses Vertrauen manchmal gestört ist. Er würde, so Sen, die derzeitigen Probleme von Firmen und Banken nicht rätselhaft finden.

    Einige Ökonome (unter anderen Stiglitz), führende Persönlichkeiten und Entscheidungsträger gründeten Ende Oktober 2009 das „Institute for New Economic Thinking“ (INET) um neue Denkansätze für die Volkswirtschaftslehre zu entwickeln. Der Hauptsitz des Instituts wird New York sein. Neben New York soll es in verschiedenen Ländern „Außenposten“ des INET geben, die eng mit Universitäten kooperieren sollen. Ich werde versuchen, mehr über INETs Denkansätze herauszufinden.

    Wie sie wissen, favorisiere ich Denkansätze, die die Gesellschaft als komplexes dynamisches Kommunikationssystem interpretieren, das evolutionären Änderungen unterworfen ist. Ich habe bei Stiglitz wenige Überlegungen gefunden, die er in dieser Richtung anstellt. Er konzentriert sich meines Erachtens zu stark auf Regelsetzungen internationaler und nationaler politischer Institutionen. Aus meiner Sicht halte ich nur Regelsetzungen für effektiv und langfristig wirksam, die alle an einer Gesellschaftsstruktur beteiligten Systeme aus sich heraus entwickeln, weil Notwendigkeiten dazu zwingen. Dabei gilt es, gesellschaftliche Teilsysteme effektiv zu gestalten und instabile Gesellschaftsverhältnisse zu vermeiden. In diesem Sinn werden sich Politiksysteme und Wirtschaftssysteme entsprechend eigener Notwendigkeiten verändern. Allerdings spielt bei derartigen Veränderungen die enge Kopplung gesellschaftlicher Strukturen eine mitentscheidende Rolle.

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