Dienstag, 26. Februar 2013

Gaucks Europa-Rede ̶ und was nun?

Am 22.2.2013 hielt Bundespräsident Joachim Gauck eine Rede zum Thema Europa. Die Rede verdient es, dass auch nach acht Tagen noch über sie nachgedacht wird. Dass unsere aktiven Politiker primär ans Tagesgeschäft denken, ist notwendig und vollkommen richtig. Dafür sind sie gewählt. Die Position des Bundespräsidenten wurde deshalb von den Müttern und Väter unserer Verfassung geschaffen, damit auch jemand von Amtswegen über den Tag hinaus denkt. Nach einem relativ jungen und  ̶   wie sich herausstellte  ̶  etwas unreifen Amtsinhaber haben wir jetzt wieder eine Persönlichkeit von Format. Erinnerungen an Theodor Heuss, Gustav Heinemann und Roman Herzog werden wach.

Stärken der Rede

Mehr Europa! Das sagt auch die Kanzlerin. Das sagte auch Joschka Fischer. Gauck war aufgefallen, dass Bürger mit diesen zwei Worten nichts anfangen können. Ja, es löst eher Angst als Zuversicht aus. Gauck will zum Denken anregen. Er stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Er fragt sich (und damit uns), was im Augenblick eigentlich passiert. Wer etwas Erfahrung im Leben hat, weiß, dass so Freundschaften und Ehen entzweizugehen pflegen. Mit der Weisheit und Radikalität des Alters nennt Gauck die Dinge beim Namen.

Wir tun Dinge, die wir eigentlich nicht für möglich gehalten haben. Wir beschimpfen uns gegenseitig als Faulenzer, Betrüger oder Nazis. Wir tun dies nicht hinter verschlossenen Türen, sondern vor der Weltöffentlichkeit. Der Höflichkeit halber unterschlägt Gauck, dass der englische Premier Cameron und sein Europa-Abgeordneter Nigel Farage bereits die Scheidung verlangen. Wir alle fassen uns an den Kopf und fragen, was in die beiden gefahren ist. Nur Daniel Cohn-Bendit, ein früherer Straßen-Revoluzzer, traut sich Paroli zu bieten. Ausgerechnet er scheint Europas letzter Verteidiger zu sein. Statt zu kritisieren macht Gauck den Engländern Komplimente. Wir Deutschen würden ihre Nüchternheit und ihren Mut schätzen. Wir möchten von ihnen als gestandene Demokraten lernen. Er lässt einige Dinge aus, die Engländer selbst für wichtig halten, z.B. ihre Finanzschläue und ihre Seestreitkräfte.

Gauck legt auch den Finger auf die schmerzlichste Wunde, nämlich dass wir uns nur noch ärgern, wenn wir an Europa denken. Deutschlands Politiker tun, was sie für richtig und sinnvoll halten. Sie stellen Milliarden bereit. Das wird von anderen nicht verstanden, geschweige denn honoriert. Im normalen Leben wäre die Reaktion, dass man solche Leute fortan ignoriert.  

Wir brauchen eine europäische Öffentlichkeit, – meint Gauck  ̶  und zwar nicht nur bei nächtlichen Eurokrisen-Sitzungen und Fußball-Abenden. Die Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen, ruft er auf, eine Agora zu schaffen. Wem griechische Vokabeln nicht geläufig sind, erklärt er an einem Beispiel, was er meint. Wir bräuchten Arte-Sendungen nicht nur mit Paris, sondern auch mit London, Madrid, Rom und Warschau. Leider ist das die einzige konkrete Zielsetzung, die Gauck einfällt. Zum Schluss steigert sich Gauck geradezu in rhetorische Fanfaren. ‚Mehr Europa fordert: mehr Mut bei allen! Europa braucht jetzt nicht Bedenkenträger, sondern Bannerträger, nicht Zauderer, sondern Zupacker, nicht Getriebene, sondern Gestalter.‘ Die Frage ist, wo diese sich bisher versteckt hielten. Oder kann es sein, dass es diese gar nicht (mehr) gibt?

Schwächen der Rede

In pastoraler Weise appelliert Gauck an die europäische Wertegemeinschaft und nimmt Bezug auf einen mysteriösen Wertekanon. Gaucks Versuch, diesen Kanon in der Historie zu lokalisieren, geht natürlich daneben. Es gibt ihn nämlich nicht. Keine der prägenden Gestalten kontinental-europäischer Geschichte hat sich 'für Frieden und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität' stark gemacht. Das gilt für Ludwig XIV. genauso wie für die Napoléons, für Friedrich den Großen wie für Bismarck und Hitler, aber auch für Franco, Mussolini, Tito und Stalin. Selbst der Urvater Europas, Karl der Große, passt nicht in das gesuchte Schema. Die Revolution von 1848 oder die Weimarer Republik wurden erst nachträglich als für die Demokratie-Geschichte wichtig gewürdigt. Zeitgenossen waren noch sehr geteilter Meinung. Warum sagt Gauck nicht, dass wir die Demokratie zweimal importiert haben, oder dass wir sie dem Kalten Krieg verdanken? Zu sagen, dass wir sie den Angelsachsen und vor allem den Amerikanern verdanken, ist ihm vielleicht zu gefährlich.

Gauck meinte, dass ‚die innereuropäische Solidarität sogar noch wachsen [muss], um längerfristig die großen Ungleichheiten auf dem Kontinenten zu verringern und Lebensverhältnisse zu schaffen, die Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive bieten.‘  Das hätte er sich sparen sollen. Das wollen die Bürger nämlich nicht, da es unrealistisch ist, Bulgarien auf das Niveau von Luxemburg zu bringen. Wie ich in einem früheren Blog-Beitrag erklärte, liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) beider Länder um den Faktor 17-18 auseinander.

Es ist auch nicht gut, Drohungen auszusprechen in der Form, dass wir alle Englisch lernen müssen, oder Französisch oder gar Ungarisch. Realistischer ist es, darauf hinzuweisen, dass wer Geschäfte mit Ausländern machen möchte, besser eine Sprache lernt, die dieser versteht. Das gilt auch, wenn man gerne deutsche Touristen in seinem Hause oder Hotel haben will. Auch die Wortspielerei ’wir wollen kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland‘ wurde von anderen Kommentatoren als wenig hilfreich kritisiert.

Nur wenn beide, Politiker und Bürger, sich eindeutig zum Subsidiaritätsprinzip bekennen, hat Europa eine Chance. Leider ist es nicht leicht zu implementieren. Es heißt, dass den Ländern und Regionen absolut nichts von ihrer Souveränität weggenommen wird. Bayern bleiben Bayern, Katalanen bleiben Katalanen. Nur wenn Brüssel mehr für Bayern und Katalanen tun kann, als Berlin und Madrid, soll Brüssel die Verantwortung übertragen bekommen. Dann wird Berlin und Madrid übergangen. Vor allem sollten Berlin und Madrid den Bayern und Katalanen nicht vorschreiben, was sie in dieser Hinsicht tun dürfen.

Europa verbessert unsere Chancen mit den USA und China und andern Ländern gute Verträge auszuhandeln. Gauck sollte den Politikern sagen, dass die Einigung Europas nicht gegen die USA oder gegen China gerichtet sein muss. Man soll Partnerschaften anstreben, da wo es geht. Ein Elefant wie China ist eher bereit einem andern Elefanten eine Partnerschaft anzubieten als einer Maus, z.B. Luxemburg oder Malta. Es ist auch nicht unbedingt nötig, dass Dirk Niebel eigene Entwicklungspolitik betreibt, und Guido Westerwelle alle Konsulate retten muss, zumal Lady Ashton bereits über 7000 Beamte in aller Welt verfügt. Gauck sollte nicht nur die Bürger zum Umdenken anhalten, auch bei Politikern scheint dies manchmal nötig zu sein.

Gewünschte Wirkungen

Es ist immer sinnvoller nach vorne zu blicken als zurück. Ein Mann wie Gauck sollte nicht in der Geschichte nach Antworten suchen, die es dort nicht gibt. Er sollte nicht nach einem Europa-Narrativ suchen, das bestenfalls ein phantasievolles Märchen sein kann, mit dubiosen Wurzeln und fraglicher Wirkung. Europas Kultur ist weder einmalig noch überlegen. Ägypten, China, Indien und Persien haben ältere Kulturen.

Er sollte sagen, wohin nach seiner Meinung die Entwicklung geht. Er muss den Mut haben, uns zu sagen, was uns bevorsteht, auch dass die Zukunft nicht alternativlos ist. Aber was sind die Alternativen? Wir sollten sie bewusst auswählen. Wir können und müssen die Zukunft gestalten.

Zu wünschen wäre, dass die Gestaltung der Zukunft Europas von einer Volksbewegung (einer oder mehreren NGOs) begleitet wird. Das Anliegen ist zu wichtig, um es Politikern zu überlassen. Wir sollten versuchen von mehrsprachigen Ländern zu lernen. Da gibt es Erfolge wie im Falle der Schweiz. Es gibt auch Fehlschläge wie im Falle Belgiens. Wir sollten aufmerksam verfolgen, wie große Einwanderungsstaaten (England, Kanada) mit ihren Problemen fertig werden. Die USA sind gerade in Schwierigkeiten, da sie sich wirtschaftlich und militärisch überhoben haben, aber gesellschaftlich zerfallen.

Statt Bürokraten zu überfordern, die in der Subventionierung der Landwirtschaft, der Standardisierung von Produkten oder der Vergabe von Forschungsmitteln ihr Bestes tun, sollte man nach einfachen Erfolgen suchen. Für mich ist Schwäbisch Hall ein solches Beispiel. Sieben Journalisten aus Sevilla besuchten die schwäbische Kleinstadt. Eine Woche darauf gingen bei der örtlichen Arbeitsagentur 13.000 Bewerbungen aus Spanien und Portugal ein. Es waren Ingenieure, Bauarbeiter und Krankenschwestern dabei, die vorher monatelang ohne Arbeit gewesen waren.

Wie viele Tausend Polinnen arbeiten in deutschen Haushalten? Sie nehmen Berufstätigen die Pflege ihrer Angehörigen ab. Ihre Flexibilität und Mobilität ist den deutschen Politikern nicht ganz geheuer. Deshalb werden sie ignoriert und in die Illegalität abgeschoben. Manchmal wächst Europa schneller zusammen als erlaubt.

Auf meinem Fachgebiet bringt eine Organisation mit dem Namen Infomatics Europe die Dekane europäischer Informatik-Fakultäten zusammen. Letztes Jahr sprachen sie über die Vergleichbarkeit der Promotionsleistungen. Vielleicht wurde auch über nicht-besetzte Lehrstühle gesprochen. Mir fällt nach Albert von Lauingen (ϯ1280) kein deutscher Professor an der Sorbonne ein. In den USA kenne ich mehrere.

Ob sie es glauben oder nicht: Es ist möglich, spürbare Vorteile eines vereinten Europas aufzuzeigen, ohne dass dafür sehr viel Geld ‚in die Hand genommen‘ werden muss. Das hat anscheinend noch niemand dem Bundespräsidenten gesagt. Ich bin sicher, er würde sich freuen.

Nachtrag: Übrigens hatte ich meine Ideen bezüglich realistischer Ziele für Europa in einem Beitrag im letzten August bereits aufgeschrienen.

1 Kommentar:

  1. Am 1.3.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Europa : „Bannerträger oder Bedenkenträger?“ , das ist nicht die Frage.

    Schwärmerei, das ist das Problem!

    In seiner berühmten Schrift „ Was heißt: sich im Denken orientieren?“ (1786) kommt Immanuel Kant, nachdem er über die Freiheit im Denken und die Gesetze der Vernunft sich ausgelassen hat, auf den gesetzlosen Gebrauch der Vernunft zu sprechen.

    Wir lesen: „Der Gang der Dinge ist ungefähr dieser: Zuerst gefällt sich das Genie sehr in seinem kühnen Schwunge, da es den Faden, woran es sonst die Vernunft lenkte, abgestreift hat. Es bezaubert bald auch andere durch Machtsprüche und große Erwartungen und scheint sich selbst nunmehr auf den Thron gesetzt zu haben, den langsame, schwerfällige Vernunft so schlecht zierte; wobei es gleichwohl immer die Sprache derselben führt. Die alsdann angenommene Maxime der Ungültigkeit einer zu oberst gesetzgebenden Vernunft nennen wir gemeine Menschen S c h w ä r m e r e i ; jene Günstlinge der gütigen Natur aber Erleuchtung“.

    Und dann weiter bei Kant , eine Seite später: „Und so zerstört Freiheit im Denken, wenn sie so gar unabhängig von Gesetzen der Vernunft verfahren will, endlich sich selbst“.

    Man merkt den ironischen Ton, den Kant anschlägt. Und so wollen wir das auch tun. Es war „genial“, in Maastricht die Defizit- und Verschuldenskriterien für alle freischwebend verbindlich zu erklären, obwohl alle in geheimen Vorbehalt (Mentalreservation, reservatio mentalis) gehandelt haben. Alle haben dann auch den Maastricht-Vertrag gebrochen.

    Der Ausschluss eines geheimen Vorbehalts gehört zu den Verbotsbestimmungen Kants in seinem Werk „Zum ewigen Frieden“ (1796).

    Und was ist heute?. Die Armen aus Bulgarien und Rumänien strömen zu uns ins Land . Nur verzauberte Schwärmer konnten nach dem Beitrittsbeschluss erwarten, dass das nicht passiert.

    „Si j‘ étais roi“, würde ich den Schwärmern gewaltig die Leviten lesen, wie das ein Paul Kirchhof ja auch tut. Unreife charakterisiert das politische Handeln. Die Akteure gehören gar nicht auf den Stuhl, auf dem sie sitzen.

    „Wie können wir das System ändern, in dem Unreife auf falschen Stühlen sitzen“ würde Kant mit Blick auf die Medien heute fragen, in klassisch republikanischer Absicht. Kant war Republikaner schon in monarchischer Zeit. Die „res publica“, die öffentliche Angelegenheit lag ihm am Herzen, tief reflektiert, nicht nur oberflächlich als medialer Wortschwall

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