Freitag, 1. März 2013

Gerechtigkeit und Gleichheit bei Rawls und Stiglitz

Es kostete mich einige Anstrengung, um mich durch das neue Buch von Joseph Stiglitz durchzukämpfen. Es heißt Der Preis der Ungleichheit und erschien 2012. Obwohl Gleichheit im Gedankengut der französischen Revolution als politisches Prinzip gefordert wird, fand ich immer, dass Gerechtigkeit ein wesentlich besserer Begriff ist. Ungleichheit ist doch nur eine Form mangelnder Gerechtigkeit, dachte ich. Vor allem erinnerte ich mich an John Rawls (1921-2002) und dessen Buch Theorie der Gerechtigkeit, das ich vor Jahren gelesen habe.

Rawls definierte das ‘Prinzip der Gerechtigkeit‘ wie folgt: (a) die Grundrechte aller Menschen sind gleich; (b) soziale oder ökonomische Ungleichheiten sind von Vorteil, falls sie für alle zugänglich sind; (a) hat Vorrang über (b). Dieses Prinzip wird ergänzt durch das ‚Differenz-Prinzip`. Es lautet: Wenn es keine Verteilung gibt, die besser für beide ist, dann nehme man Gleichheit. Unterschiedliche Begabungen und Fähigkeiten sind nützlich, wenn sie für die Vergrößerung des Gemeinwohls eingesetzt werden. Anders ausgedrückt: Ungleichheit ist akzeptabel, wenn sie das Los aller verbessert. Außerdem sprach Rawls das in der US-Verfassung verbürgte Grundrecht auf Glück an. Ein Mensch ist glücklich, wenn er erfolgreich ist und er seinen langfristigen (rationalen) Lebensplan erfüllen kann, meinte Rawls.

Beim Lesen des Buches von Stiglitz fragte ich mich, was er wohl zu diesen Gedanken von Rawls zu sagen habe. Die Antwort ist enttäuschend. Rawls kommt nicht vor. Das ist überraschend, sind doch beide US-Amerikaner und Universitätsprofessoren. Vielleicht liegt es darin, dass Rawls Philosoph war, und bereits seit 10 Jahren tot ist. Stieglitz ist jedoch Ökonom und ein international bekannter Autor und Redner. War mir Rawls etwas zu sehr bemüht, das amerikanische System als gut und gerecht erscheinen zu lassen, scheint Stiglitz genau das Gegenteil zu verfolgen. Das Ideal liegt für ihn eher in Schweden. Stiglitz meint deshalb so stark auftragen zu müssen, weil nach seiner Meinung Amerikaner glauben, dass Ungleichheit unvermeidlich, ja wünschenswert ist. Trotz dieser Enttäuschung möchte ich im Folgenden schlaglichtartig beleuchten, was Stiglitz zu sagen hat. Ich räume gerne ein, dass ein anderer Leser andere Punkte als wichtig oder interessant ansehen wird.

Ursachen der Ungleichheit

Laut Stiglitz erklärt die Ökonomie Lohn- und Preisunterschiede mit der so genannten Grenzproduktivitätstheorie. Je wertvoller eine Leistung für den Markt ist, umso mehr verdient man. Nur bei transparenten Preisen fließe Geld dahin, wo der Nutzen am größten ist. Als ersten Grund, warum dies nicht immer klappt, nennt Stiglitz die Informations-Asymmetrie. Gemeint ist, dass nicht alle Marktteilnehmer über dieselbe Information verfügen. Oft wird versucht, diese Asymmetrie bewusst herbeizuführen. Ein typisches Beispiel sind Derivate. Sie verschleiern die kritischen Eigenschaften eines Wertpapier-Geschäfts für den Bankkunden. Wären Märkte effizient, d.h. würden Preise alles ausdrücken, was man über Angebot und Nachfrage wissen muss, bräuchte niemand Information über Firmen und Produkte zu sammeln.

Einen großen Komplex von Tätigkeiten, bei dem der ideale Markt umgangen oder überlistet wird, bezeichnet Stiglitz mit ‚Rent Seeking‘. Er fasst damit praktisch alle Fälle zusammen, in denen jemand sich ungerechtfertigt bereichert. Die Verschleuderung von Staatseigentum gehört dazu, wodurch russische Oligarchen reich wurden, aber auch Monopole wie das von Microsoft, das es erlaubte, Mitbewerber aus dem Markt zu drängen. Der Libor-Skandal der Banken ist nur ein Beispiel neben vielen aus der Finanzbranche. Im Falle von ‚Rent Seeking‘ geht die Belohnung nicht an diejenigen, die Werte schaffen.

In den USA hat die Entwicklung der letzten zehn Jahre das Verhältnis von Kapital und Arbeit stark verändert. Es ist teilweise eine direkte Konsequenz der von den Republikanern eingeschlagenen Politik. Kapitalerträge steigen ungebremst. Das Einkommen aus Lohnarbeit sinkt. Arbeiter tragen das volle Risiko des technischen Wandels. Sie müssen niedrigere Löhne akzeptieren, wenn ihre Branche stagniert oder wegfällt. Es findet eine Polarisierung statt. Die niedrig qualifizierten Arbeiter erhalten immer weniger. Die hochqualifizierten Angestellten verdienen umso mehr. Das Kapital wandert um die Welt auf der Suche nach bestmöglicher Rendite. Arbeiter bleiben meistens am Ort. Die vollkommene Liberalisierung würde dazu führen, dass sich die Löhne in China und den USA angleichen werden.

Die Wirtschaftspolitik ist ein Kampf der Ideen. Die politische Rechte interessiere sich nur für die Gleichheit der Startchancen. Die Linke strebe  ̶  überspitzt gesagt  ̶  die Gleichheit der Ergebnisse an. Seit Reagan hat der Liberalismus von Milton Friedman die Oberhand. Die Steuern auf Veräußerungen und Erbschaften sanken. Das kam primär dem ohnehin reichen Bevölkerungsteil zu Gute. Der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft wurde zurückgedrängt. Dahinter stand der Glaube, dass privates Handeln immer vernünftiger ist als staatliches. Der Staat sei grundsätzlich ineffektiv. Die Finanzkrise vergrößerte die Kluft zwischen Arm und Reich. Die Bankenrettung half den Reichen. Die unzureichende Hypotheken-Restrukturierung belastete die Armen. Es sei zwar so, dass Innovationen vorwiegend von Privatunternehmen gemacht werden. Sie werden aber durch den Staat erst ermöglicht. Er schafft die Infrastruktur in Form von Gesetzen, Anreizen und Bildung. Wäre dies nicht so, müssten alle Länder gleich gut sein, da die Menschen gleich sind. Für mich klingt das recht idealistisch.

An Verschwörungstheorien erinnert, wenn Stiglitz verkündet, dass die reichen 1% der Bevölkerung ihr Geld dazu verwenden, um die Masse der 99% davon zu überzeugen, dass sie die gleichen Interessen haben. Mit anderen Worten, sie manipulieren die öffentliche Meinung. Um ihre Privilegien zu retten, nutzen sie alle Erkenntnisse der Psychologie und alle modernen Methoden des Marketings.

Folgen der Ungleichheit

Nachdem Stiglitz noch einige weitere Faktoren und Gründe identifiziert hat, die zur Entstehung von Ungleichheit führen, zeigt er die Folgen auf. In erster Linie geht  Sozialkapital verloren, d.h. die Bindungen zwischen den Bürgern, allgemein als Solidarität bezeichnet. Sie halten das System für nicht fair. Die Ungleichheit gefährdet auch die Demokratie. Der Staat kann seine Aufgaben nicht mehr erfüllen. Wegen des Misstrauens in den Staat sinkt die Beteiligung an Wahlen. Sie liegt in den USA bereits nahe an 50%.

Wo der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes in die Irre führte, kam es zu wirtschaftlichen Krisen. Die dadurch entstandenen Lücken in der Nachfrage kann nur der Staat füllen, indem er den Verbrauch anregt. Marktversagen sei nämlich nichts anderes als Staatsversagen. Da die Jugend besonders betroffen ist, brachen in Nordafrika, Spanien und England Unruhen aus. In Amerika deutete die ‚Occupy Wall Street‘-Bewegung darauf hin, dass nicht nur das Finanzsystem im Argen liegt. Diverse Protestbewegungen in andern Ländern schlossen sich an.

Gegenmaßnahmen und Lösungen

Den Fehlentwicklungen, zu denen der Liberalismus fähig ist, werden die Vorteile gegenübergestellt, die eine stärker sozial ausgerichtete Wirtschaftspolitik bringen würde. Wie bereits erwähnt, verweist Stiglitz gern auf Skandinavien. Dort sei der Lebensstandard höher als in den USA, obwohl dort außer Effizienz auch Fairness hoch im Kurs steht. Ein gerechter Lohn sei möglich. Dabei müssten die Kapitalbesitzer und die ‚Rent Seekers‘ etwas kürzer treten. Die reichen 1% sollten aus Eigennutz den armen 99% zu mehr Chancengleichheit verhelfen. Staatliche Krankenversicherung und Stipendien für Studierwillige seien von Nöten. Die rasant steigenden Kosten für Bildung erschwerten den sozialen Aufstieg. Endlich müsste die Steuerprogression verschärft und Erbschaften besteuert werden. Der Kapitalfluss über Landesgrenzen hinweg müsste kontrolliert werden, um Unternehmen und Privatpersonen daran zu hindern, ihre Gewinne da zu versteuern, wo die Steuern am niedrigsten sind, im Fachjargon als Steuerflucht bekannt.

Der Staat müsste Exzesse an der Spitze der Einkommenspyramide zügeln. Er muss Governance-Gesetze erlassen und durchsetzen. Ohne ‚Corporate Governance‘ würden sich Vorstände hohe Vergütungen genehmigen oder sich Firmenerträge aneignen. (Es sei daran erinnert, dass Martin Winterkorn dieses Jahr statt der ihm zustehenden 20 Mill. Euro nur noch 14 Mill. bekommt, und zwar entgegen dem Wunsch seines Betriebsrats). Schließlich sollte die Wahlpflicht eingeführt werden.

In den weltweiten Jugendunruhen sieht Stiglitz ein Wetterleuchten. Im Gegensatz zu einigen Teilnehmern der Innenstadt-Camps strebt er nicht nach der Weltrevolution. Ein Wandel der Gesellschaft würde ihm reichen. Auch braucht die neue Gesellschaft nur sozialer als die alte zu sein, und nicht einmal sozialistisch. Dass es auf der Welt auch Unruhen gibt, die andere Gründe haben, als das Streben nach höheren Löhnen und arbeitslosem Einkommen, passt bei Stiglitz nicht auf den Radarschirm. Es ist mit ökonomischen Theorien nicht erklärbar. Frühere Bücher von Stiglitz waren etwas weniger ideologisch überfrachtet. Vielleicht wollte er mit diesem Buch einen Beitrag zu Obamas Wahlkampf leisten.

Gerechtigkeit und Wahrheit

Wie John Rawls bemerkte, ist Gerechtigkeit ein zentraler Begriff für Wirtschaft und Gesellschaft. Er ist vergleichbar mit dem Begriff Wahrheit in Religion und Wissenschaft. Mit dem Wahrheitsbegriff der Wissenschaft befasste sich ein früherer Eintrag dieses Blogs. Es ist einer der am meisten gelesen Beiträge geworden.

Gerechtigkeit kann sich auf vielerlei Dinge beziehen, z. B. auf Verfahren, Entscheidungen, Verpflichtungen, Institutionen und Personen. Gleichheit hat den Vorteil, dass sie meistens relativ leicht zu definieren und festzustellen ist. Sie ist nicht immer erreichbar. Bei Gerechtigkeit hingegen beginnen die Probleme bereits mit der Definition. Was lange als gerecht galt, kann plötzlich als ungerecht empfunden werden. Es hängt von der relativen Verhandlungsposition ab, was als fairer Ausgleich von Interessen akzeptiert wird. Der Begriff .gerecht' wird also mit dem Wort 'fair' erklärt. Sehr viel weiter bringt uns dies nicht.  

4 Kommentare:

  1. Am 1.3.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Ich entnehme aus dem Mittelstraß-Lexikon zu dem berühmten Satz „ultra posse nemo obligatur“, der in Gerechtigkeits-Debatten häufig vergessen wird, folgende Anmerkung von Oswald Schwemmer (Berlin):

    „ultra posse nemo obligatur“ (lat. niemand kann über sein Vermögen hinaus verpflichtet werden) auf den römischen Juristen Celsius (um 100 n.Chr.) zurückgehender Grundsatz, nach dem etwas, das auszuführen oder zu erreichen unmöglich ist, auch nicht geboten werden kann, bzw. nach dem aus dem Nicht-Können das Nicht-Sollen folgt. In der modernen Diskussion um die ‚rationale‘, d.h. wissenschaftliche oder methodische Begründbarkeit von Handlungsnormen oder Verpflichtungen überhaupt spielt dieses Prinzip eine zentrale Rolle, da es zu erlauben scheint, ‚Seinsätze‘ , also Behauptungen über Tatsachen ­- in diesem Falle über das Können von Personen - als (Ausschluß-)Gründe für ‚Sollensätze‘, also Formulierungen von Geboten zu benutzen.

    Was soll das Reden über „Gerechtigkeit“ ,“Gleichheit“ oder „Fairness“, wenn dieser klassische Satz unbeachtet bleibt?

    Er wurde sogar Grundlage der Hartz IV –Gesetzgebung. Ein Nicht-Können kann seitdem amtlich festgestellt werden.

    „Aus Nicht-Können folgt Nicht-Sollen“: Der Satz verbindet Wissenschaftliches mit Ethischem. Der einzige Satz dieser Art, den ich kenne. Und ausgerechnet den vergisst man immer, obwohl so berühmt und sogar seit Hartz IV praktisch wirksam.

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    1. Es scheint mir, als ob dieser römische Grundsatz lediglich die untere Grenze bestimmt, bis zu der jemand belastet werden kann. Niemand der bei Trost ist, kommt auf die Idee, bei Firmen und Privatleuten mehr als 100% ihres Einkommens an den Staat abzuführen. Aber 70% ist auch ganz schön hart, abhängig davon wie groß die absoluten Zahlen sind.

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    2. Manchmal passieren doch Dinge, die man nicht fuer moeglich hält. Die Regierung von Olof Palme schickte Astrid Lindgren einen Steuerbescheid über 102% ihres Jahreseinkommens. Soviel zum Musterland Schweden.

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  2. Am 1.3.2013 schrieb Peter Hiemann aus Grasse:

    ich habe nur Stiglitz' Buch "Die Chancen der Globalisierung" gelesen. Auch in diesem Buch erwähnt Stiglitz das schwedische Gesellschaftssystem als "Modell, dessen Erfolg beweisst, dass alternative Formen erfolgreicher Marktwirtschaften bestehen können". Er gibt aber auch zu bedenken, dass "das schwedische Modell in anderen Ländern nicht so gut funktioniert oder für ein bestimmtes Entwicklungsland ungeeignet sein mag".

    Meines Wissens werden in Schweden mehr als in Deutschland soziale Einrichtungen mit Steuermitteln finanziert. Das Wirtschaftssystem unterscheidet sich nicht vom Rest Europas. Ingvar Kamprad von IKEA lässt grüssen. Natürlich unterscheidet sich jedes europäische Land in dem Mix seiner Industrie. Natürlich unterscheidet sich jedes Unternehmen in seiner strategischen Zielsetzung.

    In Schweden scheint es eine längere Tradition zu geben, "gesellschaftliche Kooperation" auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu praktizieren. Es wäre interessant zu erfahren, auf welche schwedischen Details sich Stiglitz beruft, wenn er Schweden als Vorbild präsentiert. Ich habe darüber keine Information.

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