Mittwoch, 20. März 2013

Wirtschaft, wie sie ist und wie sie sein sollte

Zwei zeitgenössische Wissenschaftler, die sich – von verschiedenen Seiten kommend  ̶  mit Ökonomie befassen, sind Amartya Sen (1933-) und Julian Nida-Rümelin (1954-). Beiden gemeinsam ist, dass sie sich vor allem Gedanken über die soziale und ethische Seite der Wirtschaft machen. Dabei geht es weniger um detaillierte und objektive Erklärungen der Prozesse und Zusammenhänge, als um eine geistesgeschichtliche Einordnung (‚Was passiert da eigentlich?‘) und um eine normative Bewertung und Infragestellung (‚Wollen wir das wirklich?‘). Nida-Rümelin bezeichnet Sen als Freund, mit dem er über Jahrzehnte hinweg Kontakt pflegte. Wie dieser so schätze er die formalen Methoden der Entscheidungstheorie und teile die Skepsis gegenüber dem Menschenbild (‚anthropologische Prämissen‘) der zeitgenössischen Wirtschaftstheorie.

Amartya Sen ist in Bengalen, dem heutigen Bangladesch, geboren. Er ist Professor für Wirtschaftswissenschaften in Harvard und erhielt 1998 den Nobelpreis. Mein Freund Peter Hiemann in Grasse hatte sich vor einigen Monaten mit Sen befasst. Ich las gerade ein Buch von Nida-Rümelin. Ich gebe hier die Berichte über beide Lese-Erlebnisse in Gegenüberstellung. Ich beginne mit Hiemanns Kommentaren zu Amartya Sens Buch ‚Ökonomie für den Menschen – Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft‘ von 2002.

Das Buch basiert auf Vorlesungen, die er vor Mitgliedern der Weltbank 1996 und 1997 gehalten hat. Sens Zielsetzung war: „Gesellschaftliche Organe, darunter viele Institutionen (der Staat, der Markt, das Rechtssystem, politische Parteien, die Medien, öffentliche Interessengruppen und Diskussionsforen) unter dem Gesichtspunkt zu thematisieren, dass sie die wesentlichen Freiheiten von Individuen erweitern und garantieren.“ Sen betont, dass „sich unterschiedliche Institutionen komplementär ergänzen müssen  ̶  vor allem marktunabhängige Organisationen und der Markt – sei eines der wichtigsten Themen seines Buches“. Sens Zielsetzung entspricht im Grunde dem Denkansatz, ökonomische Systeme als interagierende Teile eines gesellschaftlichen Gesamtsystems zu interpretieren. Im Folgenden versuche ich eine Zusammenfassung einige seiner wesentlichen Überlegungen.

Sen sieht in Adam Smiths ökonomisches Hauptwerk „Wohlstand der Nationen – Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen“ (1776) einen Meilenstein der Wirtschaftstheorie, auf dem nachfolgende Überlegungen aufbauen. Insbesondere ist für Smith und Sen die Freiheit der Marktwirtschaft grundlegend und wichtiger als jeder ökonomische Lehrsatz. In dieser Hinsicht würdigt Sen auch Karl Marx, der im Aufkommen der Lohnarbeit (freie Wahl des Arbeitsplatzes) einen wichtigen gesellschaftlichen Fortschritt sah. Sen stellt fest, dass auch heute noch die freie Wahl des Arbeitsplatzes in vielen gesellschaftlichen Strukturen nicht verwirklicht ist. Zum Beispiel bei Grundbesitzern der oberen Kasten in rückständigen Teilen Indiens, wo es um die Wahrung „altehrwürdiger“ Interessen geht. 

Sen gibt Adam Smith recht, der schon im 18. Jahrhundert feststellte, dass Freiheit der Marktwirtschaft auch „Verschwender und Plänemacher“ auf den Plan ruft, die er für Probleme der „sozialen Vergeudung und Verlust an produktiven Kapital“ verantwortlich machte. Für Smith war jeder „Verschwender ein Feind der Allgemeinheit“. Sen zitiert eine Bemerkung Adam Smiths, die er für eine dessen berühmtester hält: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe.....

Sens grundlegende Ansicht über Markteffizienz besagt, dass es bei dessen Beurteilung auf Fairness und die gerechte Verteilung von Freiheiten ankommt. Obwohl er in ausreichenden Einkommen einen Indikator für stabile ökonomische Verhältnisse sieht, ist er überzeugt, dass es gleichermaßen darauf ankommt, Einkommen in Verwirklichungschancen und erfreuliche Lebensumstände umzuwandeln. Bei der Bewertung der Marktmechanismen müssen nach Sen soziale Aspekte und Gerechtigkeitskriterien gleichzeitig thematisiert werden. Dabei ist zu beachten, dass in verschiedenen Wirtschaftsregionen verschiedene Kriterien zur Anwendung kommen. Zum Beispiel gelten in Europa garantierte Mindesteinkommen und allgemeine Krankenversicherung als wichtige Voraussetzungen für sozial gerechte Chancenverteilung in einer gesellschaftlich effizienten Marktwirtschaft, in USA gilt hohe Beschäftigung als wichtigstes Kriterium für Markteffizienz. 

Bei der Bewertung der Marktmechanismen wird die Verflechtung von politischen und ökonomischen Interessen sehr deutlich. „Politischen Einfluss um ökonomischer Gewinne willen zu suchen ist in unserer Welt eine handfeste Tatsache“. Nach Sen können solche Einflüsse sowohl positive als auch negative gesellschaftliche Auswirkungen haben. Sen zitiert in diesem Zusammenhang Adam Smith, der die Konsequenzen solcher Konflikte wohl realistischer beurteilte. Der meinte, „die Vertreter althergebrachter Interessen würden häufig triumphieren, weil sie das eigene Interesse sehr viel besser kennen – und nicht das öffentliche“. Sen dagegen möchte „allgemein marktfeindlichen Argumenten“ keinen Vorschub leisten, und scheint Konflikten zwischen unternehmerischen und öffentlichen Interessen vorwiegend einen potentiell  positiven Zweck abzugewinnen, indem verschiedenen Parteien Diskussionen als Prüfstein für eine offene Demokratie nutzen. In einem für Sen typischen Nachsatz, schränkt er seine allzu optimistische Aussage wieder ein: „Politische Freiheit kann die Verwirklichung einer anderen Freiheit, nämlich die vorurteilslose Auseinandersetzung über ökonomische Fragen, unterstützen“.

Wiederholt betont Sen, dass der „Einsatz der Märkte“ (was immer er unter Einsatz versteht) mit der Entwicklung gesellschaftlicher Chancen verbunden ist, die er im weitesten Sinn als Freiheiten verschiedener Arten sieht, d.h. als „demokratische Rechte, Sicherheitsgarantien, Möglichkeiten der Zusammenarbeit usw.“. Sen ist übrigens überzeugt, dass die Logik des Marktmechanismus auf private Güter abgestellt ist. Viele Bereiche der öffentlichen Vorsorge (z.B. öffentliche Güter und  Umweltschutz) können von privaten Märkten nicht bereitgestellt werden.

Sen weist auf einige potentielle Probleme hin, die der „Kunst des gezielten Einsatzes“ öffentlicher Mittel für soziale Zwecke entgegenstehen. Durch „Verzerrung der Information“ gelangen Individuen unberechtigt zu sozialen Leistungen. Durch „Verzerrung der Anreize“ kommt es zu kontraproduktiven Verschiebungen des „Arbeitsmarktes“ (Abhalten von weiterer ökonomischer Tätigkeit). Es besteht die Gefahr, dass Sozialhilfe sich negativ auf die Selbstachtung und die Achtung anderer auswirkt („negativer Nutzen und Stigmatisierung“). Schließlich sind Sozialprogramme stets mit „Verwaltungskosten und Korruptionsrisiko“ belastet. Sens Aussagen über „Finanzielle Klugheit und die Notwendigkeit der Integration“ bieten keine Erkenntnisse, die geeignet wären, Finanzmärkte zu „managen“. Sen behauptet, dass „Inflation ihrem Wesen nach ein dauerhafter Prozess ist, und Inflation zudem die Tendenz hat, mit der Inflationsrate zu wachsen“. Sens sehr allgemeiner Ratschlag lautet: „Die vermutlichen Kosten einer Tolerierung der Inflation sind gegen die Kosten einer Reduktion oder vollständigen Aufhebung der Inflation abzuwägen.“

Amartya Sen widmet ein Kapitel dem Thema „Die Bedeutsamkeit der Demokratie“. Sen wendet sich eindringlich gegen Behauptungen, dass Arme unweigerlich der Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse über politische Freiheiten den Vorzug geben würden.  Er wendet sich ebenfalls gegen die Behauptung, dass demokratische Freiheiten und Rechte   ein Hemmschuh für gesellschaftliche Entwicklung und Wirtschaftswachstum seien. Sen argumentiert, dass ökonomische Bedürfnisse die Dringlichkeit nach politischer Freiheit erhöhen. Sen begründet diese Ansicht mit der Wichtigkeit, die der konstruktiven Beteiligung aller Individuen einer Gesellschaft an der Entwicklung der politischen und ökonomischen Verhältnisse zukommt.  An anderer Stelle seines Buches verweist er auf das „Fiasko des bürokratischen Sozialismus“ ehemaliger Gesellschaftssysteme in  Osteuropa und der Sowjetunion. 

Vielleicht lohnt es sich, Sens Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ zusätzlich anzuschauen.  Einer Rezension dieses Buches konnte ich entnehmen, dass „er ein Verfahren befürwortet, bei dem auf die Eigenart der fraglichen Gesellschaft Rücksicht genommen wird, auf ihre tatsächlichen Verhaltensmuster. Seiner Meinung nach bedarf es Einigungen über die Rangfolge von Alternativen durch den Prozess eines öffentlichen Vernunftgebrauches. Diesen Ansatz bezeichnet er als komparativ. Die von ihm kritisierte  Konzeption einer sozial-politischen Grundordnung, welche auf dem Wert der Gleichheit beruht, bezeichnet er als transzendental. Soziale Verwirklichung der Gerechtigkeit soll Sen zufolge nicht nach Nutzen oder Glück oder der bloßen Verfügbarkeit von bestimmten Gütern bewertet werden, sondern an den Befähigungen und Chancen der Menschen einer Gemeinschaft.“

Eine sorgfältige Analyse von Sens  Aussagen, wieweit er in seinem Buch seinen Zielsetzungen gerecht wird, die Beziehungen, Verflechtungen und Abhängigkeiten von Staat, Markt, Rechtssystem, politischen Parteien, Medien und öffentlichen Interessengruppen darzustellen, habe ich nicht versucht durchzuführen. Das wäre eine sehr aufwendige Arbeit, die dadurch erschwert wird, dass Sens Aussagen sehr allgemein gehalten sind und breit gestreut (auch wiederholt) präsentiert sind.

Ich stimme mit Sen überein,
  • dass wir in einer Welt der Institutionen leben und arbeiten,
  • dass die Bewertung von Institutionen Aussagen über individuelle Freiheitsgrade erlaubt  und
  • dass der Marktmechanismus eine der wichtigsten elementaren Einrichtungen ist, mit deren Hilfe Menschen interagieren.
Meine Erwartungen, dass Sens theoretisches Modell detaillierte Aussagen über ökonomische Strukturen und Prozesse enthält, insbesondere über spezielle Funktionen und potentielle Ursachen für notwendige funktionale Veränderungen, waren wohl zu hoch gesteckt. Die derzeitigen Diskussionen, bedingt durch die globalen Finanzkrisen in USA und Europa, bieten wesentlich mehr Einsichten über politische und ökonomische Prozesse, die instabile gesellschaftliche Verhältnisse verursachen. Es wird interessant sein zu verfolgen, welchen Einfluss zukünftige pragmatische politische und ökonomische Regelsetzungen, um Finanzmärkte und Arbeitsmärkte zu stabilisieren, auf zukünftige ökonomische Theoriebildungen haben werden. An vielen Stellen des Buches hatte ich den Eindruck, dass sich Sen zu sehr bemüht, real existierende Konfliktsituationen zwischen unternehmerischen (vor allem von global agierenden Großunternehmen und systemischen Finanzinstitutionen) und öffentlichen Interessen aus dem Wege zu gehen. 

Während meines Versuchs, in Amartya Sens Thesen ein System, eine ökonomische Theorie zu erkennen, wurde mir deutlich, wie diversifiziert (und verwirrend) wirtschaftswissenschaftliche Ansätze sind, um ökonomische Theorien zu formulieren. Professionelle Ökonomen werden sich weiterhin damit beschäftigen und versuchen, für einige ökonomische Teilbereiche allgemeine Regeln und Algorithmen zu finden, die kurzfristige Prognosen erlauben. Neuen systematischen Ansätzen in politischen Theorien, unter anderen die „Neue Politische Ökonomie (NPÖ)“, könnte zukünftig größere Bedeutung zukommen. Deren Arbeitshypothesen umfassen  Theorien und Forschungsgebiete, die politisches Verhalten, Entscheidungsprozesse und Strukturen mit ökonomischen Prozessen verknüpfen. Auf der einen Seite kritisiert Amartya Sen (zu Recht?) den Denkansatz bzw. die Annahme der NPÖ, dass politische Entscheidungen als Nebenprodukt ökonomischer Entscheidungsprozesse angesehen werden. Auf der anderen Seite lässt Sen Aussagen vermissen, wie er sich die strukturelle Kopplung (bei Sen „Interdependenz“) von politischen und ökonomischen Systemen vorstellt.

Beim Studium von Sens Thesen ist mir aufgefallen, dass Sen keine Hinweise auf die ökonomischen Theoretiker John Maynard Keynes und Milton Friedman verwendet, obwohl beide in der öffentlichen ökonomisch orientierten Diskussion eine dominierende Rolle spielen. Sen dürfte bewusst sein, dass beide nicht nur Theoretiker waren, sondern direkten Einfluss auf politische Entscheidungsträger hatten und haben. Das gleiche galt vermutlich auch für Adam Smith im 18. Jahrhundert. Seine berühmte „unsichtbare Hand des Marktes“ findet heute weniger die von Sen gewürdigte Anerkennung, sondern wird vorwiegend als Argument verwendet, um neoliberales kapitalistisches Verhalten zu kritisieren.  Sen stellt mehr oder weniger „amüsiert“ fest: „Es ist eine Ironie der Ideengeschichte, dass mancher, der heutzutage eine radikale Politik fordert, sich oft für alte ökonomische Thesen erwärmt, die von Smith, Ricardo und Marx einhellig zurückgewiesen wurden.“

Soweit der Kommentar von Peter Hiemann zu dem Buch von Amartya Sen.

Julian Nida-Rümelin ist von Hause aus Philosoph. Er war während der ersten Regierung Schröder (1998-2002) Kulturstaatsminister in Berlin. Sein 2011 erschienenes Buch ‚Die Optimierungsfalle‘ beweist, dass er über den Zaun schauen kann und will. Er macht dies natürlich mit philosophischer Brille. Entsprechend den Teilen des Buches geht er von der Ökonomischen Rationalität aus, über Ethik zur Praktischen Vernunft. Zusammengefasst lautet sein Kredo: Der Homo Oeconomicus, der nur optimiert, wäre eine Katastrophe. Wir brauchen die moralische Persönlichkeit (im Sinne Kants). Zum Glück gibt es heute auch verantwortlich Handelnde in der Wirtschaft.

Im Detail macht er eine Reihe interessanter Aussagen, die ich unkommentiert nebeneinander stelle. Es ist ökonomisch rational, mit geringem Aufwand einen höchstmöglichen Profit oder zumindest einen guten Preis zu erzielen. In einer pareto-optimalen Verteilung kann niemand besser gestellt werden, ohne jemanden schlechter zu stellen. Jede Optimierung ist immer auch eine Wertung. Dinge wie Freundschaft und Liebe lassen sich nicht als Optimierung erklären. Ohne Altruismus gibt es kein gutes Leben.

Immanuel Kant glaubte, dass der Mensch nicht nur utilitaristisch (nach Hume) handelt, sondern aufgrund eines Pflichtgefühls, dem Sittengesetz. Nach Kants Meinung gehört zur Vernunft stets die Moral. Entscheidend sind nicht die Präferenzen, sondern was angemessen ist (Kategorischer Imperativ). Unsere Handlungen ordnen sich immer den Zielen unter, z.B. bei einem gemeinsamen Bankraub. Jemand, der eine Tat vollbringt, wissend, dass der Galgen dafür bereits steht, kann nicht schuldig sein, meinen viele Kantianer (Galgentest). Der islamistische Selbstmordattentäter ist das aktuelle Beispiel. Jede Kommunikation muss wahr (dem Wissensstand entsprechend), wahrhaftig (der eigenen Meinung entsprechend) und verlässlich (der Realität entsprechend) sein. Vertrauen wird nur aufgebaut, wenn der wirtschaftliche Erfolg hintangestellt wird.

Ethik definiert Tugenden. Einige davon findet man schon bei Platon (Beherrschtheit, Willensstärke). Verlässlichkeit ist ein wesentlicher Aspekt im Berufsethos. Mangelnde Urteilskraft führte in der Wirtschaftskrise zu falschen Einschätzungen. Vielen Menschen fällt es schwer, Komplexität auszuhalten. Entscheidungsstärke liegt vor, wenn strukturelle Entscheidungen schwerer wiegen als rein situationsbedingte (kohärente Praxis). Ohne Besonnenheit (nicht im Affekt handelnd) und Empathie (andere achtend) klappt kein menschliches Zusammenleben.

Die Gleichheit der Bürger ist mit der Ungleichheit im Betrieb verträglich. Nur Glück und Gerechtigkeit ergeben ein gelungenes Leben. Auf richtiges Handeln kommt es an. Es besteht ein Konflikt zwischen den Rechten des Individuums, der Freiheit anderer und der Nutzenoptimierung. Laut Amartya Sen sei dieser Konflikt nicht lösbar. Kant passe auch nicht immer, Platon sei manchmal besser.

Bildung muss Wissen und Tugenden vermitteln. Wir brauchen eine humane Ökonomie. Dafür benutzt er den Begriff ‚Strukturelle Rationalität‘. Die Menschen handeln nicht atomistisch, sondern in Verbindung (analog den Teilchen in der Quantentheorie). Wir haben viele Gründe für unser Handeln, die nicht zwingend und rational sind, z.B. eingegangene Verpflichtungen. Sie ergeben (nach Rawls) ein Gleichgewicht in unseren Überlegungen. Alles nur auf feste Gründe zu reduzieren, scheitert; aber nicht alles ist kulturbezogen.

Nida-Rümelin sieht seine Rolle darin, das ‚Kantsche Projekt‘ fortzuführen. Im Markt gibt es sehr oft externe Effekte. Es gibt Wirkungen von und auf Dritte. Die Rolle des Staates ergibt sich daraus, dass der Markt nicht perfekt ist. Er liefert keine kollektiven Güter, noch sorgt er für Nachhaltigkeit. Die Interessen zukünftiger Generationen werden nicht wahrgenommen. Neben Markt und Staat sollte es noch einen Dritten Sektor geben. Freiwillige Arbeit muss stärker beachtet und anerkannt werden, beginnend bei der unbezahlten Familienarbeit bis zu nicht-staatlichen Initiativen (NGOs). Zwei Sätze am Schluss gefielen mir sehr gut. ‚Alle Praxis ist Menschenwerk. Es gibt keine ehernen Gesetze der Biologie, der Geschichte oder der Ökonomie.‘ Um einige Wissenschaftler zurück auf die Erde zu holen, möchte ich da hinzufügen: ‚Auch Theorie ist nur Menschenwerk‘. Weniger gut gefielen mir Urteile von der Form: Software ist meist schlecht, da sie schlampig entwickelt wird; deutsche Autos dagegen sind immer gut.

In meinen Augen vertreten beide Autoren eine ziemlich idealisierende Sicht auf die Ökonomie. Um von ihr auf die Staats- und Bankenkrisen in Griechenland und Zypern oder die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien zu kommen, bedarf es doch einiger Zusatzinformationen. Die Abstraktion, wie beide sie pflegen, macht halt alles einfacher. Dass Nida-Rümelin noch mehr moralisiert als Sen, ist nicht überraschend. Die Philosophie nimmt sich halt das Recht, alle Phänomene der nicht-physischen Welt nicht nur als Ausfluss der geistigen Bemühungen ihrer Vordenker darzustellen, sondern auch als reduzierbar auf einige wenige Grundprinzipien.

2 Kommentare:

  1. Am 21.3.2013 schrieb Peter Hiemann aus Zarzis.

    Leider kann ich nicht erkennen, ob und was Nida-Rümelin zum Thema Wirtschaftswissenschaft beizutragen hat. Ich habe Nida-Rümelin schon bei Scobel erlebt, wo er mir als Moralist aufgefallen ist, und zum gestellten Thema wenig beitragen konnte. Vermutlich ist das für jemanden, „der seine Rolle darin sieht, das ‚Kantsche Projekt‘ fortzuführen“ völlig „normal“. Nicht „normal“ finde ich aber, dass Nida-Rümelins sich moralischer Aussagen bedient, um komplexe geistige und gesellschaftliche Zusammenhänge darzustellen. Welch ein Unterschied zwischen Metzinger und Nida-Rümelin. Ich kann bei Nida-Rümelin im Gegensatz zu Metzinger nicht erkennen, dass er versucht, seine Aussagen auf wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse oder auf plausible Arbeitshypothesen zu stützten und zu konkretisieren.

    Metzinger:

    „Wissen bezieht sich auf die wirkliche Welt und hängt von sozialen und äußeren Umständen ab. Externe Faktoren in Umwelt und Gesellschaft entscheiden, ob es als Halluzination, Krankheit, als Weisheit oder Heiligkeit gilt.“

    „Es gibt seit Jahren einen Wettkampf darum, wer den menschlichen Geist erklären darf – die Neurowissenschaftler, die Kognitionsforscher oder die Psychologen.“

    „Im Moment liegen die Neuroforscher klar vorn. Das Gehirn ist ein sehr komplexes System, die übergreifende Theorie fehlt uns noch. Aber wir haben eine enorme Menge von Daten, die ständig anwächst. Es wäre lächerlich, den Erkenntnisfortschritt zu bagatellisieren.“

    »Die Philosophen« gibt es nicht. Viele würden mir zustimmen, dass Personalität etwas ist, das in Gesellschaften durch wechselseitige Anerkennungsbeziehungen zwischen rationalen Individuen konstituiert wird. Personen gibt es nicht einfach so, genauso wenig wie »den Geist«.“

    Quelle: Metzinger in ZEIT Interview: Der Riss im Selbstmodell

    Nida-Rümelin

    „Die Grenzen [rationalen Handelns] sind durch Strukturen der Lebens- und Gesellschaftsform, die uns wünschenswert erscheinen und die die Begründungspraxis bestimmen, gezogen. Diese Einbettung der singulären Handlung in Strukturen findet ihren offensichtlichsten Ausdruck in der Praxis der Begründung von Handlungen. Akzeptierte Gründe bringen jeweils bestimmte Aspekte dieser strukturellen Einbettung zum Ausdruck.“

    Kommentar:

    Strukturelle (geistige) Einbettung hängt bei Nida-Rümelin nicht von sozialen und äußeren Umständen ab, sondern liegt in so etwas wie der moralischen Substanz der Handlung.

    Quelle: Nida-Rümelin in „Strukturelle Rationalität“.

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  2. Am 21.3.2013 schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:

    Wir in Erlangen kennen Herrn Nidda-Rümelin mehr als Schüler des Hauptstadt-Philosophen (wie wir sagten), Wolfgang Stegmüller in München. Die Liebe der Konstruktiven zu den Analytischen in München war nicht besonders groß. Aber immerhin. Man trieb in München Wissenschaftstheorie. Das Buch von Stegmüller „Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik“ haben wir alle verschlungen. Bloß: Es war sehr in Richtung „Wiener Kreis“ um Rudolf Carnap und wenig originell. Stegmüller war Logischer Empirist. Wie Nidda-Rümelin aus dieser Schule dann später den Weg zur Ethik gefunden hat, ist mir entgangen. Aufmerksam wurde ich auf ihn durch seine politischen Aktivitäten im Kabinett Schröder. Auch jetzt steht er Gewehr bei Fuß, um unter Ude als Ministerpräsident in Bayern Wissenschaftsminister zu werden.

    Mit seinem Buch „ Die Optimierungsfalle“, das ich zu Weihnachten geschenkt bekam, hab ich nicht viel anzufangen gewusst. Die wissenschaftstheoretische Schiene jedenfalls hat er verlassen. Ich glaube auch, in der Politik und den Medien füllt N-R sich viel wohler, ähnlich wie die anderen philosophischen Berühmtheiten Habermas und Sloterdijk. Unser Erlanger Mittelstraß (*1936) hatte auch mal Ambitionen in dieser Hinsicht. Er hat aber gut daran getan, die Finger von der politischen Welt zu lassen. Mittelstraß hat sich (seit 1980) auf seine bald 8-bändige Enzyklopädie (2.Auflage) gestürzt, ein Meisterwerk lexikografischer Kunst. Er hat damit mehr für die Wissenschaft erreicht als all diese politischen Berühmtheiten, deren Sterne kommen und wieder vergehen. Eine Enzyklopädie in Philosophie und Wissenschaftstheorie fertiggebracht, hat eigentlich in Deutschland nur der „alte Ritter“ mit seinen „Historischen Wörterbuch der Philosophie“. Leider ist das nur ein Sammelsurium aus vielen Schulen und der eine Beitrag weiß wenig von dem anderen.

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