Dienstag, 29. Oktober 2019

Binnenmigration – oder über aktuelle Veränderungen in Deutschlands Bevölkerungsstruktur

Im Vergleich zu Ein- und Auswanderung taucht das Wort Binnenwanderung nur sehr selten auf. Die Einwanderung ist derzeit das alles beherrschende Thema. Ihre Ursache ist der relative Wohlstand Deutschlands gegenüber anderen Ländern. Bei der Auswanderung ist es genau andersherum. Sie wird in die Höhe getrieben, wenn anderswo das ‚Gras grüner‘ ist. Vergleicht man die Länder auf Europas Einkommensskala, so liegen die Einwanderungsländer an der Spitze und die Auswanderungsländer am Schluss. Luxemburg und die Schweiz bilden die Spitzenreiter, Bulgarien und Rumänien die Schlusslichter. Zusätzlich gibt es ein Gefälle zwischen Kontinenten, etwa zwischen Europa und Afrika, das zu enormen Wanderbewegungen Anlass gibt.

Neue RWI-Studie

Das RWI − heute Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, früher Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung – in Essen hat soeben eine Studie vorgelegt, in der im Grunde ein altbekanntes Strukturproblem beschrieben wird. Nur die erhobenen Daten sind aktuell. Das RWI berichtete darüber in einer Pressemitteilung vom 24.10.2019. SPIEGEL Online kommentierte und illustrierte die Studie mit einem eigenen Text und aufwändigen Grafiken.

Die absoluten Zahlen sind recht beachtlich. Zwischen 2008 und 2014 sind 15.9 Mill- Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit von einer Region (Stadt, Landkreis) in eine andere umgezogen.

Moderne Form der Landflucht

Der größte Anteil betraf Personen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren, und zwar 43%. Dabei stellt diese Altersgruppe nur 14% in der Bevölkerung dar. Nur 19% von ihnen zieht in einen Landkreis, 81% in eine Stadt. Den Landkreisen entstand eine Wanderungslücke von 460.000 Personen. Der Sachverhalt erklärt sich wie folgt: Wenn heute ein immer größerer Anteil eines Jahrgangs Abitur macht und studiert, ziehen immer mehr Jugendliche zwecks Ausbildung in die Städte. Unsere kleinsten Universitätsstädte haben immerhin 80.000 Einwohner (z. B. Clausthal-Zellerfeld, Eichstätt, Ilmenau). Nur Mittweida, Oberursel und Witzenhausen fallen ganz aus dem Rahmen. Nicht-akademische Berufe konnte man früher in nahezu jedem Dorf und jeder Kleinstadt erlernen – und kann dies teilweise auch weiterhin.

Ältere Personen wechseln wesentlich seltener ihre Region. Sie zieht es auch eher in ländliche Regionen. Sie gleichen aber den Verlust an Jugendlichen bei weitem nicht aus. Das führt zu einer Ausdünnung und gleichzeitiger Überalterung ländlicher Gebiete. Bei den Neuen Bundesländern verstärkt dieser Vorgang den schon länger vorhandenen Strukturwandel. In den alten Bundesländern kennt man das Phänomen vor allem seit der Jahrtausendwende.

Verödende Dörfer und Kleinstädte

In früheren Zeiten gab es immer Tätigkeiten für Akademiker in Kleinstädten und auf dem Lande. Erwähnen möchte ich Pastoren, Lehrer, Ärzte, Richter und Gutsbesitzer. Dass Pastoren seltener geworden sind, hat ganz spezielle Gründe. Auch die Anzahl der übrigen Tätigkeiten ist rückläufig, wenn man sie vergleicht mit den vielen neuen Tätigkeiten, die entstanden sind, vor allem im technischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Bereich. In der Tendenz sind sie aber eher in Städten zu finden, was viele Studierende veranlasst, nach Ende des Studiums dort zu bleiben.

Das breite Land ist dabei an Attraktivität zu verlieren, es sei denn man achtet auf Wohnungskosten, Landluft und Schönheiten der Natur. Da viele Dienstleistungen und Erwerbsmöglichkeiten ein regelmäßiges persönliches Wechseln zur Stadt erfordern, kommt es sehr auf die Verkehrsinfrastruktur an, ob dieser Pendlermodus attraktiv ist. Eine Alternative, die sich anbietet, ist die Nutzung durch digitale Netze, an deren Ausbau vielerorts aber noch gearbeitet wird. Außerdem genießen einige Großstädte ein gewisses soziologisches Renommee. Dieses drückt sich aus in modischen Accessoires wie Flaniermeile, Diskos, Partyszene, Kunstateliers und Rotlichtmilieu.

Die Konsequenz des Gesagten ist, dass auf dem Lande oder in Kleinstädten viele der dort verfügbaren Ressourcen oft nicht genutzt werden. Das ist besonders eklatant für den Wohnungsmarkt. Überall gibt es leerstehende oder schlecht genutzte Häuser und Wohnungen. Dass große Anwesen heute nur von einem Bruchteil der Personen bewohnt werden, die früher dort wohnten, ist normal. Die alleinstehende ältere Frau im Einfamilienhaus ist geradezu typisch.

Überspannter Wohnungsmarkt der Großstädte

Bis zum Jahre 2005 war die Landbevölkerung im Durchschnitt  jünger als die Einwohner von Städten. Inzwischen verhält es sich genau umgekehrt − und der Gegensatz vergrößert sich rasch. Denn junge Erwachsene ziehen massenhaft vom Land in die Stadt, während einige Ältere aus der Stadt aufs Land ziehen.

In fast allen Großstädten besteht ein Engpass für Wohnraum der mittleren und unteren Preisklasse. Dass der Senat der Stadt Berlin deshalb den Markt aushebeln will, kann man nur als Ausgeburt sozialistischer Denkweise verstehen. Angemessener wäre es, wenn die Unternehmen, die in Großstätten vertreten sein wollen, ihre Gehaltsstruktur dem Niveau der dortigen Wohnungspreise anpassen würden.

Sondereffekte

Einige Gegenden Deutschlands weisen Sondereffekte aus. So werden der Wohn- und Arbeitsmarkt von Lörrach und Trier fast vollständig von der Nähe zur Schweiz bzw. zu Luxemburg bestimmt. Im jeweiligen Nachbarland liegen Löhne wie Preise auf einem Niveau, das etwa doppelt so hoch ist als in Deutschland. Es erfolgt ein Sog, der sowohl Löhne wie Wohnungspreise auf das jeweils höhere Niveau treibt. Von der Politik zu fordern, sich der Situation regulierend anzunehmen, ist schierer Unsinn.

Volkes Meinung

Einen Leserbrief, den die SPIEGEL-Version hervorrief, will ich in Gänze wiedergeben (Pseudonym buffbuff). Ich teile dessen Meinung und genoss den Stil.

Nachdem jetzt gefühlt 80 prozent der schüler abi machen und jeder davon dann studieren gehen kann, passiert das eben auch. die kids gehen ein jahr nach australien und sonstwo chillen und schreiben sich dann irgendwo ein. früher waren es vielleicht 10 bis 20 prozent der schüler, die abi machten und davon gingen dann vielleicht zwei drittel studieren und vielleicht ein drittel auch weiter weg. heute sind die möglichkeiten ganz andere. das führt zu landflucht, weil wenn man einmal das stadtleben angefangen hat, zu geniessen, geht man frühestens mit familie und kindern wieder in landnähe. und jobs für studierte gibt es auf dem land eben auch immer weniger. schulen schließen, also weniger lehrer, krankenhäuser werden dicht gemacht, also weniger ärzte usw. usw.

2 Kommentare:

  1. Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Wenn Sie als Hochschulort Witzenhausen nennen, dann möchte ich doch noch Weihenstephan, Geisenheim und - nicht zuletzt natürlich - Idstein beisteuern.

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  2. Es gibt Unternehmen, denen nachgesagt wird, dass sie Niederlassungen in Berlin, Hamburg und München gründeten, weil angeblich gute Mitarbeiter nicht bereit waren nach Böblingen, Gütersloh oder Walldorf zu ziehen. Wenn entsprechende Zahlen dies belegen sollten, so sind sie mir nicht bekannt. Ich vermute, dass sie äußerstenfalls in den Hunderten liegen.

    Dass hingegen aus rein vertrieblicher Sicht die Attraktoren einer Großstadt sich bei Kundenveranstaltungen voll einsetzen lassen, stellt eine altbekannte Erfahrung dar.

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