Im Vergleich zu Ein- und Auswanderung taucht das Wort
Binnenwanderung nur sehr selten auf. Die Einwanderung ist derzeit das alles
beherrschende Thema. Ihre Ursache ist der relative Wohlstand Deutschlands
gegenüber anderen Ländern. Bei der Auswanderung ist es genau andersherum. Sie wird
in die Höhe getrieben, wenn anderswo das ‚Gras grüner‘ ist. Vergleicht man die
Länder auf Europas Einkommensskala, so liegen die Einwanderungsländer an der
Spitze und die Auswanderungsländer am Schluss. Luxemburg und die Schweiz bilden
die Spitzenreiter, Bulgarien und Rumänien die Schlusslichter. Zusätzlich gibt
es ein Gefälle zwischen Kontinenten, etwa zwischen Europa und Afrika, das zu enormen
Wanderbewegungen Anlass gibt.
Neue RWI-Studie
Das RWI − heute Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, früher
Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung – in Essen hat soeben
eine Studie vorgelegt, in der im Grunde ein altbekanntes Strukturproblem
beschrieben wird. Nur die erhobenen Daten sind aktuell. Das RWI berichtete
darüber in einer Pressemitteilung vom 24.10.2019.
SPIEGEL Online kommentierte und illustrierte die Studie mit einem eigenen Text
und aufwändigen Grafiken.
Die absoluten Zahlen sind recht beachtlich. Zwischen 2008 und 2014
sind 15.9 Mill- Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit von einer Region
(Stadt, Landkreis) in eine andere umgezogen.
Moderne Form der Landflucht
Der größte Anteil betraf Personen im Alter zwischen 18 und 29
Jahren, und zwar 43%. Dabei stellt diese Altersgruppe nur 14% in der
Bevölkerung dar. Nur 19% von ihnen zieht in einen Landkreis, 81% in eine Stadt.
Den Landkreisen entstand eine Wanderungslücke von 460.000 Personen. Der
Sachverhalt erklärt sich wie folgt: Wenn heute ein immer größerer Anteil eines
Jahrgangs Abitur macht und studiert, ziehen immer mehr Jugendliche zwecks
Ausbildung in die Städte. Unsere kleinsten Universitätsstädte haben immerhin
80.000 Einwohner (z. B. Clausthal-Zellerfeld, Eichstätt, Ilmenau). Nur Mittweida,
Oberursel und Witzenhausen fallen ganz aus dem Rahmen. Nicht-akademische Berufe
konnte man früher in nahezu jedem Dorf und jeder Kleinstadt erlernen – und kann dies teilweise auch
weiterhin.
Ältere Personen wechseln wesentlich seltener ihre Region. Sie
zieht es auch eher in ländliche Regionen. Sie gleichen aber den Verlust an
Jugendlichen bei weitem nicht aus. Das führt zu einer Ausdünnung und
gleichzeitiger Überalterung ländlicher Gebiete. Bei den Neuen Bundesländern
verstärkt dieser Vorgang den schon länger vorhandenen Strukturwandel. In den alten
Bundesländern kennt man das Phänomen vor allem seit der Jahrtausendwende.
Verödende Dörfer und Kleinstädte
In früheren Zeiten gab es immer Tätigkeiten für Akademiker in
Kleinstädten und auf dem Lande. Erwähnen möchte ich Pastoren, Lehrer, Ärzte,
Richter und Gutsbesitzer. Dass Pastoren seltener geworden sind, hat ganz
spezielle Gründe. Auch die Anzahl der übrigen Tätigkeiten ist rückläufig, wenn
man sie vergleicht mit den vielen neuen Tätigkeiten, die entstanden sind, vor
allem im technischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Bereich. In der
Tendenz sind sie aber eher in Städten zu finden, was viele Studierende
veranlasst, nach Ende des Studiums dort zu bleiben.
Das breite Land ist dabei an Attraktivität zu verlieren, es sei
denn man achtet auf Wohnungskosten, Landluft und Schönheiten der Natur. Da
viele Dienstleistungen und Erwerbsmöglichkeiten ein regelmäßiges persönliches Wechseln
zur Stadt erfordern, kommt es sehr auf die Verkehrsinfrastruktur an, ob dieser Pendlermodus attraktiv ist. Eine Alternative, die sich anbietet, ist die
Nutzung durch digitale Netze, an deren Ausbau vielerorts aber noch gearbeitet
wird. Außerdem genießen einige Großstädte ein gewisses soziologisches Renommee.
Dieses drückt sich aus in modischen Accessoires wie Flaniermeile, Diskos, Partyszene,
Kunstateliers und Rotlichtmilieu.
Die Konsequenz des Gesagten ist, dass auf dem Lande oder in
Kleinstädten viele der dort verfügbaren Ressourcen oft nicht genutzt werden.
Das ist besonders eklatant für den Wohnungsmarkt. Überall gibt es leerstehende
oder schlecht genutzte Häuser und Wohnungen. Dass große Anwesen heute nur von
einem Bruchteil der Personen bewohnt werden, die früher dort wohnten, ist
normal. Die alleinstehende ältere Frau im Einfamilienhaus ist geradezu typisch.
Überspannter Wohnungsmarkt der Großstädte
Bis zum Jahre 2005 war die Landbevölkerung im Durchschnitt jünger als die Einwohner von Städten.
Inzwischen verhält es sich genau umgekehrt − und der Gegensatz vergrößert sich
rasch. Denn junge Erwachsene ziehen massenhaft vom Land in die Stadt, während einige
Ältere aus der Stadt aufs Land ziehen.
In fast allen Großstädten besteht ein Engpass für Wohnraum der
mittleren und unteren Preisklasse. Dass der Senat der Stadt Berlin deshalb den
Markt aushebeln will, kann man nur als Ausgeburt sozialistischer Denkweise
verstehen. Angemessener wäre es, wenn die Unternehmen, die in Großstätten
vertreten sein wollen, ihre Gehaltsstruktur dem Niveau der dortigen
Wohnungspreise anpassen würden.
Sondereffekte
Einige Gegenden Deutschlands weisen Sondereffekte aus. So werden
der Wohn- und Arbeitsmarkt von Lörrach und Trier fast vollständig von der Nähe
zur Schweiz bzw. zu Luxemburg bestimmt. Im jeweiligen Nachbarland liegen Löhne
wie Preise auf einem Niveau, das etwa doppelt so hoch ist als in Deutschland.
Es erfolgt ein Sog, der sowohl Löhne wie Wohnungspreise auf das jeweils höhere
Niveau treibt. Von der Politik zu fordern, sich der Situation regulierend
anzunehmen, ist schierer Unsinn.
Volkes Meinung
Einen Leserbrief, den die SPIEGEL-Version hervorrief, will ich in Gänze
wiedergeben (Pseudonym buffbuff). Ich teile dessen Meinung und genoss den Stil.
Nachdem jetzt gefühlt 80 prozent der
schüler abi machen und jeder davon dann studieren gehen kann, passiert das eben
auch. die kids gehen ein jahr nach australien und sonstwo chillen und schreiben
sich dann irgendwo ein. früher waren es vielleicht 10 bis 20 prozent der
schüler, die abi machten und davon gingen dann vielleicht zwei drittel
studieren und vielleicht ein drittel auch weiter weg. heute sind die
möglichkeiten ganz andere. das führt zu landflucht, weil wenn man einmal das
stadtleben angefangen hat, zu geniessen, geht man frühestens mit familie und
kindern wieder in landnähe. und jobs für studierte gibt es auf dem land eben
auch immer weniger. schulen schließen, also weniger lehrer, krankenhäuser werden
dicht gemacht, also weniger ärzte usw. usw.
Klaus Küspert aus St. Leon-Rot schrieb: Wenn Sie als Hochschulort Witzenhausen nennen, dann möchte ich doch noch Weihenstephan, Geisenheim und - nicht zuletzt natürlich - Idstein beisteuern.
AntwortenLöschenEs gibt Unternehmen, denen nachgesagt wird, dass sie Niederlassungen in Berlin, Hamburg und München gründeten, weil angeblich gute Mitarbeiter nicht bereit waren nach Böblingen, Gütersloh oder Walldorf zu ziehen. Wenn entsprechende Zahlen dies belegen sollten, so sind sie mir nicht bekannt. Ich vermute, dass sie äußerstenfalls in den Hunderten liegen.
AntwortenLöschenDass hingegen aus rein vertrieblicher Sicht die Attraktoren einer Großstadt sich bei Kundenveranstaltungen voll einsetzen lassen, stellt eine altbekannte Erfahrung dar.