Erich Neuhold (Jahrgang 1940) ist emeritierter
Informatikprofessor der Technischen Universität Darmstadt und Honorarprofessor
der Universität Wien. Von 1986 bis 2005 war er Leiter des Fraunhofer-Instituts
für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI) in Darmstadt. Von
1972 bis 1983 war er Professor an der Universität Stuttgart und von 1984 bis
1986 an der Technischen Universität Wien. Er war in Forschung und
Management-Positionen bei IBM in Europa und den USA tätig. Er war 1983-1984
Direktor eines der Hewlett Packard (HP) Research Labs in Palo Alto und er ist
seit vielen Jahren Berater der NSF in den USA, der DFG und der Europäischen
Kommission.
Seine Fachgebiete
umfassen verteilte Datenbanken außerhalb und innerhalb des Internets (z.B. unstrukturierte,
halbstrukturierte und strukturierte Daten), Informationsgewinnung und
Retrieval, Web-Services und Geschäftsprozesse. Er und sein Team haben sich
intensiv mit der Anwendung auf komplexe Systeme wie digitale Bibliotheken,
Kulturerbe, E-Science, E-Commerce und E-Government befasst. Neuhold hat 10
Bücher und etwa 200 Fachartikel veröffentlicht. Er ist ein Fellow der IEEE und
der Gesellschaft für Informatik (GI). Neuhold erhielt den Titel eines Dipl.
Ing. in Elektrotechnik im Jahr 1963 und eines Dr. Techn. in Informatik im Jahr
1967, beide von der Technischen Universität Wien.
Bertal Dresen (BD):
An
Ihrer Berufslaufbahn fällt auf, dass Sie in drei Ländern, zwei Firmen und an
drei Universitäten tätig waren. Ein solch breites Erfahrungsspektrum haben
nicht viele Kollegen aufzuweisen. Fangen wir in Wien an. Wie muss man sich das
Wiener Labor der IBM zwischen 1970 und 1980 vorstellen? Wer trieb an, wer riss
mit? Welche Wirkungen halten Sie für am bedeutendsten in Bezug auf die industrielle
Anwendung oder die Wissenschaft, für IBM oder außerhalb?
Erich
Neuhold (EN): Während
meiner Zeit am IBM Labor Wien war Heinz Zemanek der Leiter und die treibende
Kraft. Er hat das Labor aufgebaut und ihm seine wissenschaftliche Ausrichtung
gegeben. Auf dem Gebiet formaler semantischer Beschreibungen hat das Labor mit
den Sprachen VDL (Vienna Definition Language) und VDM (Vienna Development
Method) und der formalen Beschreibung von Programmiersprachen weltweite
Anerkennung erhalten.
BD: Ich habe in diesem Blog meine
Erinnerungen an Heinz Zemanek wiedergegeben. Sie betrafen vor allem
seine Zeit in Böblingen und die Jahre danach. Wie haben Sie Zemanek erlebt?
Worin sehen Sie Zemaneks hervorstechendste Leistung?
EN: Wie bereits gesagt, war Heinz Zemanek
für mich die Seele des Labors. Seine Ideen, seine wissenschaftlichen Ziele
haben es letztlich ermöglicht, dass das Labor Weltruhm erlangen konnte.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die 'große' IBM darüber gar nicht so
begeistert war. Zemanek hat immer wieder junge Wissenschaftler ans Labor geholt
und ihnen eine ausgezeichnete Forschungsumgebung geboten. Für eine Reihe von ihnen,
darunter auch mir, hat er damit den Weg in eine wissenschaftliche Karriere
geebnet. Vor seiner IBM-Zeit hatten Zemanek und sein Team mit dem Mailüfterl
den ersten volltransistorisierten Rechner Europas geschaffen.
BD: Nach Ihrer (ersten) Wiener Zeit gingen
Sie zu IBM Research in Yorktown Heights, NY. Sie arbeiteten dort intensiv mit George Radin zusammen. Das muss während des
801-Projekts gewesen sein? Wie erlebten Sie damals die IBM? Was möchten Sie zu
George Radin über meine Würdigung hinausgehend sagen? Welche Erinnerungen haben
Sie an Marc Ausländer, John Cocke, Marty Hopkins und andere Kollegen von
Research?
EN: Alle von Ihnen genannten Personen waren
ausgezeichnete Wissenschaftler, die auch menschlich hohe Anerkennung verdienten.
George Radin als der Manager hatte sicherlich einen wichtigen Anteil an dieser
ausgezeichneten Arbeitsumgebung und der extrem hohen Motivation der Gruppe. Die
große Zahl von IBM Fellows, die daraus hervor ging, legt natürlich auch ein
Zeugnis dafür dar. John Cocke war der Senior der Gruppe und hat auch
wesentliche Ideen, wie den Ansatz der RISC-Architektur geliefert, die dann mit
der 801 das erste Mal weltweit [als Prototyp] realisiert wurde. Joel Birnbaum
als IBM Research Direktor in Yorktown Heights hat durch seinen flexiblen
Management-Stil diese Entwicklung sicherlich auch unterstützt.
BD: Im Jahre 1972 nahmen Sie den Ruf an die
Universität Stuttgart an. Was bewog Sie dazu einer deutschen Universität den
Vorzug zu geben, etwa im Vergleich zu einer Karriere in der industriellen
Forschung? Haben sich Ihre Erwartungen
erfüllt?
EN: Ich habe zwischen Universitäten, der
Industrie und der Großforschung mehrmals hin und her gewechselt und habe dies
nie bereut. Die Welten sind sehr verschieden, aber jede hat ihre Reize und ihre
Herausforderungen. Universität und Großforschung erlauben eine enge wissenschaftliche
Zusammenarbeit mit jungen Menschen und erlaubt es, diese zum Erfolg zu führen.
Die Industrie wie auch manche Teile der Großforschung sind auf Projekte mit
Marktfähigkeit ausgerichtet, je nach Situation mit mehr oder weniger Einfluss
von Produktion, Marketing und Vertrieb. Das war ein ganz anderer interessanter
Anreiz für mich.
BD: Wie sehen Sie Ihre Zeit in Stuttgart in
der Retroperspektive? Ich erinnere mich an Ihre Vorlesung über formale
Semantik. Ich sah darin eine Weiterentwicklung Ihrer Wiener Arbeiten. Setzten
wir damals zu viel Hoffnung auf formale Verifikationsmethoden? Ist Tony Hoare
ein einsamer Kämpfer geblieben? Ist das Thema ‚Semantisches Web‘ die
zukunftsweisende Anwendung formaler Methoden, auf die wir hoffen können?
EN: Formale Beschreibungsverfahren und
formale Beweise waren mein eigentlicher Startpunkt in die Computer-Wissenschaften,
aber eigentlich habe ich damals nie über die möglichen industriellen
Anwendungen nachgedacht. Teilaspekte dieser Methoden haben sich später als sehr
nützlich erwiesen, wie auch die Karrieren weltweit bekannter Forscher zeigen.
Aber wirklich komplexe Systeme konnten mit solchen Methoden weder beschrieben
noch verifiziert werden. Im Internet und mit dem Semantischen Web ist dies auch
nicht gelungen.
BD: Was Ihr Arbeitsgebiet bei HP war, ist
mir entfallen. Ich weiß nur, dass Joel Birnbaum, der früher bei IBM war, dort
die Idee der RISC-Architekturen populär machte. Welche Spuren haben Sie bei HP
hinterlassen?
EN: Bei HP war ich Direktor eines
Forschungslabors in Palo Alto, das sich mit Betriebssystemen, Datenbanksystemen
und Kommunikationssoftware beschäftigt hat. Ich war zu der Zeit bei den
HP-Labs unter der Führung von Joel Birnbaum (der von IBM hierher kam), als die
HP RISC-Architektur realisiert wurde. Mein Labor war an der für diese neuen
Systeme benötigten Software konzeptuell beteiligt und hat auch die
Datenbankstrategie von HP wesentlich mit beeinflusst.
BD: Ihre längste Zeit – fast 20 Jahre –
waren Sie in Darmstadt. Sie leiteten dort das Institut für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI), zuerst
als Institut der GMD, später unter dem Dach der Fraunhofer-Gesellschaft. Ich
fand viele Projekte des IPSI äußerst interessant und erinnere mich noch an sehr
eindrucksvolle Demos. Wie sehen Sie heute die Wirkung des IPSI auf Wissenschaft
und Wirtschaft?
EN: Beim IPSI der GMD war die Orientierung
auf (eventuell-) anwendungsorientierte Forschung ausgerichtet, während die
Fraunhofer-Gesellschaft sich mehr der Auftragsforschung widmet. Da in
Deutschland wenig primäre IT-Firmen existieren, z.B. SAP, Software AG, sind
diese Aufträge sehr häufig mehr Consulting und Experimente als Forschung.
Forschungsförderung, wie vom BMBF oder der EU sind in der Fraunhofer-Gesellschaft
nicht besonders hoch geschätzt. Im wissenschaftlichen Bereich hatte das IPSI
Weltrang erreicht und wurde international immer wieder erwähnt. Wir hatten auch
bereits während der GMD-Zeit eine Reihe erfolgreicher Firmengründungen
durchgeführt.
BD: Das Gebiet der Publikationsdienste ist
im Web bekanntlich enorm gewachsen. Im Jahre 1998 schrieben Sie in der Festschrift [1] anlässlich des
10-jährigen Bestehens von IPSI: ‚Ten
years from now, we all should be able to design our individualized digital professional
and personal lives, find our own effective way to select, interpret and produce
data, information and knowledge.‘ Wieweit ist das eine Hoffnung geblieben oder haben wir uns dieser
Vision angenähert? Oder sind Sie der Meinung von Jaron Lanier, dass das Internet sein Potenzial nicht
erreichte, da es mit PDF-Dateien regelrecht vollgestopft, ja abgewürgt wurde.
Zudem ließen sich die Nutzer von ‚Sirenen-Servern‘ betören. Haben nicht Firmen
wie Google und Facebook alles, was überhaupt sinnvoll ist, längst ausprobiert?
EN: Wie jeder weiß, hat sich meine Prognose
weitgehend erfüllt. Das Internet, mit Fest- und Mobilnetz ist aus dem heutigen
Leben, auch in Entwicklungsländern, nicht mehr wegzudenken. E-Commerce,
E-Government, Enter- und Infotainment sind wesentliche Teile unseres täglichen
Handelns geworden. Was ich allerdings nicht vorhergesehen habe, ist der Umfang
der Spionage, die in das persönliche Leben und das der Firmen ständig eindringt
und immer tiefere Analysen ohne echte Beachtung existierender Gesetze und sogar
Verfassungen erlaubt. Ob dies Firmen wie Google, Facebook, Apple ̶ als
die am weitesten bekannten Beispiele ̶ oder Regierungsstellen sind wie NSA, BND oder
Mossad ̶
um nur einige zu nennen ̶ alle
verhalten sich gleich und begründen es mit kommerziellem Interesse,
Wissensdrang oder Sicherheit. Leider sind aus der Geschichte diese
Entwicklungen bekannt, die immer am Ende zur Überwachung, der Einschränkung der
Meinungsfreiheit und damit zu polizeistaatlichem Verhalten führten. Metternich,
Stalin, Hitler und Ulbricht hätten es heute viel leichter.
BD: Im Jahre 2001 ging das IPSI mit den
übrigen Instituten der GMD zur Fraunhofer-Gesellschaft über. Im Jahresrückblick
2003 [2] hoben Sie hervor, dass die stärkere Betonung der Auftragsforschung für
Sie und Ihre Mitarbeiter eine Herausforderung darstelle. Wie bewerten Sie heute
die Umorientierung des Instituts? Kam es zu Ausgründungen oder zu marktgängigen
Produkten oder Diensten?
EN: Für die Umstellung in die Fraunhofer-Welt
blieb mir nicht mehr genügend Zeit vor meinem Ruhestand im Jahre 2005. Aber wie auch
andere GMD-Institute gezeigt haben, war und ist diese Umstellung nicht leicht. War
die Auflösung der GMD überhaupt notwendig und vernünftig? Ich und viele
internationale Persönlichkeiten glauben es nicht. War es Politik?
BD: Sie sind alsbald zehn Jahre emeritiert.
Wie hat sich das privat und fachlich ausgewirkt? Wie ich weiß, leben Ihre Frau
und Sie sowohl in Wien wie im Schwabenland. Wenn ich nochmals an Zemanek
erinnere, so gab es für ihn keinen Ort auf der Welt, der an Wien herankam. War
er ein Sonderfall?
EN: Wir haben in den USA (New York State und
Kalifornien) wie auch in Hessen, dem Schwabenland und Wien (wo ich aufgewachsen
bin) gelebt und uns überall sehr wohl gefühlt und viele Freunde gefunden, mit
denen wir bis heute noch engen Kontakt halten. Mit unserem jetzigen Aufenthalt
in Böblingen (und teilweise in Wien) haben wir in Deutschland wesentlich länger
gelebt als in einem der andren Länder und es nie bereut. Das Schwabenland liegt
uns natürlich, und nicht nur wegen drei unserer fünf Enkelkinder, besonders am
Herzen.
BD: Lieber Herr Neuhold, haben Sie vielen
Dank für dieses Interview. Es erinnert an die vielen Stationen Ihres
Berufsweges. Wenn es mir auch nicht gelang, Sie zu provokanten technischen
Aussagen zu verleiten, dafür sind Sie umso deutlicher in Bezug auf
gesellschaftliche Auswirkungen und Forschungspolitik.
Zusätzliche Referenzen:
- Frankhauser, P., Ockenfeld, M.: Integrated Publication and Information Systems. 10 Years of Research and Development. Darmstadt 1998
- Fraunhofer-Institut für Integrierte Publikations- und Informationssysteme (IPSI): Leistungen und Ergebnisse. Jahresbericht 2003
Soeben schrieb Otto Buchegger aus Tübingen:
AntwortenLöschenSehr interessant und für mich mit vielen Erinnerungen verbunden!