Schon immer wunderte es mich, wenn
Bekannte voll Stolz bekundeten, dass nach ihrer Überzeugung Gott Mathematiker
sein müsste, da die von ihm geschaffene Welt wohl nur mathematisch zu erklären sei.
Jetzt ergab sich eine Gelegenheit, dieser Annahme auf den Grund zu gehen.
Englands beliebtester Mathe-Guru Ian Stewart
hat ein Buch vorgelegt, in dem er die Welt anhand von 17 Formeln erklärt. Das Buch heißt: Weltformeln (engl: Seventeen Equations that Changed the World).
Ich habe das Buch überflogen und es dann
meinen naturwissenschaftlichen Freunden zum Lesen empfohlen. Ich selbst bin
beim zweiten Lesen nach der vierten Formel abgelenkt worden.
Inzwischen stieß ich nämlich auf ein
anderes Buch, das die Titelfrage direkter angeht. Es ist Mario Livios Buch mit
dem Titel Ist Gott ein Mathematiker? Es erschien schon 2010 und ist wesentlich
unterhaltsamer als Ian Stewarts Buch. Es ist eine lockere Geschichte der
Mathematik mit vielen Anekdoten und Zitaten. Dabei versucht es der Frage nach
dem göttlichen Ursprung der Mathematik auf den Grund zu gehen. Mario
Livio (Jahrgang 1945) ist in Rumänien
geboren und lebte die meiste Zeit in Israel. Er arbeitet zurzeit in Baltimore,
Maryland, als Astrophysiker. Ich kann das Buch sehr empfehlen. Da es fraglich
ist, ob ich nochmals zu Ian Stewarts Buch zurückkehre, gebe ich schon einmal
zum Besten, wie weit mich Mario Livio brachte.
Aufstieg der mathematischen Welterklärung
Den Anfang machte die Geometrie. Die
jungen Leute (es waren nur Männer), die sich um 530 vor Chr. in Kroton in
Kalabrien im Hause des Pythagoras (570-510
v. Chr.) aufhielten, glaubten, sie hätten das göttliche Prinzip entdeckt, das
die Welt zusammenhält. Erst als jemand ihnen klarmachte, dass sie nicht in der
Lage seien, die Hypothenuse eines Dreiecks der Kathedenlänge 1 anzugeben, brach
ihre Welt zusammen. Die Leute, die darauf bestanden, dass Wurzel 2 keine
rationale Zahl sei, also nicht durch Division zweier ganzer Zahlen ermittelt
werden könnte, wurden aus ihrer (Glaubens- ) Gemeinschaft ausgeschlossen. Das
hatte allerdings nur lokale Wirkung. Denn über Platons Akademie in Athen soll
um 300 v. Chr. der Satz gestanden haben: ‚Lasst keinen der Geometrie unkundigen
eintreten‘.
Das Mittelalter, das Euklids Werk aus
dem Arabischem ins Lateinische übersetzte, hielt die Geometrie für die einzige
gründliche Wissenschaft. Noch Thomas
Hobbes (1588-1679) hob lobend hervor,
dass nur die Geometrie präzise Definitionen vorausschickt, ehe sie etwas ableitet,
also als wahr behauptet. Allmählich trat auch die Algebra einen ähnlichen Siegeszug
an. Galileo Galilei
(1564-1642) war zwar mehr von seinen Fernrohren als von der Mathematik fasziniert.
Er hielt sie dennoch für göttlich. Er geriet mit seiner Kirche in Konflikt,
weil er bezweifelte, dass sie die Quelle aller Wissenschaft sei. Johannes Kepler (1571-1630),
der Schwabe, schwor auf Zahlenverhältnisse und schöne Kurven.
Als René Descartes (1596-1650) zeigte,
wie man Zahlen (Koordinaten) und Kurven zusammenbringen kann, gewann schließlich
die Überzeugung, dass man alles berechnen kann. ‚Discours de la méthode de bien
conduire la raison‘ (Abhandlung über die Methode zur Steuerung der Vernunft),
so hieß der Titel seines Hauptwerks. Bei Descartes und später bei Newton
erreichte der Glaube an die Allmacht der Mathematik seinen Höhepunkt. Für sie
war Gott Mathematiker oder zumindest der gleichzeitige Urheber der Mathematik
sowie der physikalischen Realität. Beide enthielten Wahrheiten, von denen man
glaubte, dass sie direkt von Gott stammten.
Zweifel an der mathematischen Allmacht
Zwei der bekanntesten Vertreter der
Aufklärung befanden sich schon in Rückzugsgefechten. Euklids Geometrie sei
wahr, auch wenn es keine Kreise gäbe. Das meinte David
Hume (1711-1776). Für Immanuel
Kant (1724-1804) gehörte der
euklidische Raum zum ‚a priori-Wissen‘ des Menschen. Seine Nutzung bedarf
keiner Erfahrung. Unsere Sinne können nicht anders, als Euklid zu gehorchen. Da
Kant außerdem das Walten der Vernunft und die Existenz eines höheren Wesens als
vorgegeben ansah, fand er nicht überall in der Welt so viel Zustimmung wie bei
uns in Deutschland. Laut Kant steuert uns die Vernunft und nicht wir sie, wie
dies Descartes beschrieb.
Anfang des 19. Jahrhunderts kam als
Erstes die Geometrie in Schwierigkeiten. Der Ungar Janos Bolyai (1802-1860),
aber auch Carl Friedrich Gauß (1777-1866) und vor allem sein Schüler Bernhard Riemann (1826-1866) zeigten,
dass man ohne das von Euklid schon mit Misstrauen verwandte Parallelenaxiom zu
ganz anderen Geometrien gelangt. Die sphärische Geometrie, mit der Gauß
arbeitete (und nach ihm alle Geodäten der Welt), ist nur eine von vielen nicht-euklidischen
Geometrien. Das ließ den Verdacht aufkommen, die Geometrie sei eine menschliche
Erfindung.
Wenn Gott schon keine Geometrie betreibt
– so hoffte man – dann betreibt er wenigstens Logik und Arithmetik. Leider ging
auch diese Hoffnung verloren. Die Meinung verbreitete sich, dass nicht nur die
Geometrie sondern auch die Zahlen Geschöpfe des Menschen seien. Schon Leopold Kronecker (1823-1891)
hatte den berühmten Satz in die Welt gesetzt, dass Gott (nur) die natürlichen Zahlen,
also die positiven ganzen Zahlen, geschaffen habe, der Mensch aber den Rest.
Der Holländer Luitzen Brouwer
(1881-1966) vertrat die Meinung, dass auch die natürlichen Zahlen ein Produkt
der menschlichen Intuition seien. Sie seien natürliche Denkobjekte. Kleinkinder
und Mitglieder einer primitiven Urwaldgemeinschaft lernen sie quasi von selbst,
da sie in einer Umwelt voller diskreter Gegenstände aufwachsen.
Als letztes Teilgebiet verteidigte die Logik
ihre göttliche Herkunft. Gottlob
Frege (1848-1925) brachte die 2000
Jahre alte Logik in eine strenge mathematische Form. Er verlieh ihr einen
Kalkül. Gleichzeitig wollte er die Grundlagen der Mathematik neu legen. In
seiner ‚Begriffsschrift‘ unternahm er es, auch die Arithmetik aus der Logik abzuleiten.
Er hatte sein grundlegendes Werk gerade zum Druck gegeben, als Bertrand Russell (1872-1970) ihn
brieflich darauf hinwies, dass es gedankliche Schnitzer enthielt. Er hatte
nicht beachtet, dass sein exakt aussehendes logisches Gebäude widersprüchliche
Aussagen zulässt. Man nennt diese Aussagen Paradoxe oder Antinomien. Die
bekannteste dieser Antinomien ist der Werbespruch eines Barbiers, der angibt,
alle Menschen zu rasieren, die sich nicht selbst rasieren. Hier ist offen, wer
den Barbier rasiert, sofern er ein Mann und keine Frau ist.
Russel und sein Ko-Autor Whitehead lösten
zwar dieses Problem, indem sie eine Typentheorie schufen. Für Informatiker gehört
dieser Typenbegriff heute zum täglichen Brot. Mathematiker konnten sich jedoch
nie so recht damit anfreunden. Eine Welt, die sich nur behandeln lässt, in dem
man sie zerstückelt, widerstrebt dem Geist der Mathematik. David
Hilbert (1862-1943) glaubte die
Mathematik retten zu können, indem er sie auf ein inhaltsloses Spielen mit
Formalismen reduzierte. Auch dieser Rettungsversuch schlug fehl, als Kurt Gödel (1906-1978) sich
anmaßte nachzuweisen, dass jedes etwas anspruchsvolle formale System Sätze
enthält, die weder als richtig oder falsch bewiesen werden können
(Unvollständigkeitssatz). Er gab dem bereits wankenden Turm den letzten Stoß.
Gedanken zum Selbstverständnis der
Mathematik
Im Grunde ist diese Darstellung der
Entwicklung mathematischen Denkens sehr ernüchternd. Umso mehr wundert es, dass
sogar Zeitgenossen noch von Mathematik in geradezu euphorischer Weise reden.
Ein Beispiel ist der Engländer James
Jeans (1877-1946), der meinte, dass
das Universum von einem Vollblutmathematiker entworfen zu sein scheint. Auch Albert Einstein (1879-1955)
wunderte sich, dass die Mathematik, obwohl sie von jeder Erfahrung unabhängig
ist, dennoch vorzüglich auf Gegenstände der Welt passt.
Roger Penrose
(Jahrgang 1931) hält es geradezu für ein Wunder, dass sich die reale Welt an die
platonische Mathematik hält. Mit platonisch ist die Vorstellung Platons
gemeint, dass die Gesetzte der Natur realer sind als die Natur selbst. Die
Natur ist bei Platon nur eine temporäre Verkörperung ewiger Gesetze. Nach
dieser Definition wird auch der Satz verständlich, mit dem Livio das
Selbstverständnis heutiger Mathematiker beschreibt: Mathematiker seien am
Sonntag Formalisten (im Sinne von David Hilbert), während der Woche jedoch
Platoniker. Eher vorsichtig drückt sich Michael Atiyah
(Jahrgang 1929) aus. Der in England geborene und geadelte Libanese umschreibt
es so: Das Gehirn des Menschen hat eine Entwicklung durchlaufen, die es ihm ermöglichte,
die Welt zu erschließen. Warum sollte es nicht auch die Mathematik entwickelt
haben, die hierfür so auffallend gut geeignet ist?
Zu den Autoren, die Mathematik als
reines Menschenwerk ansehen, gehört der Informatikern und Ingenieuren sehr
bekannte Richard Hamming
(1915-1996). Er hielt die Erklärungsmacht der Mathematik für eine Illusion. Es
gäbe so viel, was die Mathematik nicht erkläre. Das überträfe bei Weitem das,
was sie erkläre. Laut Livio werden immer wieder Beispiele zitiert, aus denen
geschlossen wird, dass aus mathematischen Formeln neue physikalische Phänomene
vorhergesagt werden konnten. Das berühmteste Beispiel sind Maxwells
Gleichungen, die zur Folge gehabt hätten, dass Heinrich Hertz elektrische
Wellen entdeckte. Ist es nicht eher seine Vorstellung von elektrischem Strom
und magnetischen Feldern, also seine Physik, die die Wellennatur beinhaltete,
als die mathematische Struktur der von ihm angegebenen Formeln? Eine ähnliches
Situation besteht bei den Higgs-Teilchen. Wenn die Physik Erfolge hat, indem
sie nach Symmetrien sucht, hat das nichts mit Mathematik zu tun. Symmetrien
gibt es auch in der Biologie, d.h. Formen, die auf aufeinander abgebildet
werden können. Als jüngsten Autor zitiert Livio den schwedischen Kosmologen Max
Tegmark (Jahrgang 1967). Von ihm
stammt der Satz: ‚Das Universum wird nicht durch Mathematik beschrieben, es ist
Mathematik‘.
Einordnung und Bewertung
Es ist keine Frage, dass Mathematik ein
enorm erfolgreiches Werkzeug ist. Das gilt aber auch für Fernrohre und
Mikroskope, Spaten und Hämmer. Daraus zu folgern, dass der zu beschreibende
Gegenstand selbst mathematischer Natur ist, erscheint abstrus. In der langen
Geschichte der Menschheit wurden Tiere (Stiere, Schlangen) vergöttert, aber
auch Himmelskörper (Sonne, Fixsterne) und Naturerscheinungen (Donner,
Erdbeben). Werkzeuge (Hammer, Sichel) erreichten diesen Status nur selten. Eine
naturliche Sprache (Arabisch, Hebräisch) kann für heilig gehalten werden, wenn
wichtige Offenbarungen in ihnen verfasst sind. Die Mathematik hat denselben Nimbus.
Manche Autoren halten sie nämlich für eine Sprache, ja für die universelle
Sprache der Menschheit. Was Griechen, und vor ihnen Ägypter und Inder, mittels
dieser Sprache erdachten, hat sich über die ganze Welt verbreitet.
Der von Livio öfters zitierte
Mathematiker Stephen Wolfram
(Jahrgang 1959) meint, dass die Programmiersprachen eine ähnliche Rolle spielen
könnten wie die Mathematik. Man kann mit ihnen die Welt beschreiben, ja sogar ganz
neue Welten schaffen. Die Programmierung als solche ̶ ihre Methoden
und Sprachen ̶ hat ein Potenzial, das dem der Mathematik entspricht,
ja vielleicht sogar darüber hinausgeht. Das gilt auch für die didaktischen
Möglichkeiten, die sich bieten, um die Welt des Lebendigen zu erklären. Um
ähnlich standardisiert zu werden wie die Mathematik, dafür besteht jedoch kaum
noch eine Chance. Viele Programmierer
hatten das Erlebnis, dass ihr Programm auch Fälle und Situationen richtig
behandelte, an die sie beim Schreiben des Programms nicht gedacht hatten. Ich
kann mir jedoch keinen Programmierer vorstellen, der daraus ableitet, dass
seine (oder irgendwelche anderen) Programme göttlichen Ursprungs seien.
Durch das ganze Buch
taucht immer wieder die Frage auf, ob Mathematiker ihre Erkenntnisse entdecken
oder erfinden würden. Wenn man entdecken sagt, meint man, dass die Phänomene
bereits vorher existierten. Beim Erfinden treten sie neu in die Welt. Die
Antwort, die Livio gibt, ist etwas an den Haaren herbeigezogen. Das Konzept der
Primzahlen sei eine Erfindung. Alle Sätze über Primzahlen seien Entdeckungen.
Es ist gut, dass Informatiker dieses Definitionsproblem nicht haben, an dem
Mathematiker so zu leiden scheinen. Trotzdem sind sich viele Informatiker immer
noch nicht im Klaren darüber, dass es ihre Chance und ihre Aufgabe ist, ihr
Fachgebiet durch Erfindungen technisch weiterzubringen.
NB: Dass Livio eine ähnliche Auffassung
über Mathematik vertritt, wie ich sie in diesem Blog schon öfters ausgedrückt
habe, dürfte dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein. Außerdem möchte ich bemerken,
dass der Idealismus Kantscher Prägung zumindest bei einem Beitragenden dieses
Blogs auch heute noch hoch im Kurs steht.
Am 29.1.2015 schrieb Hartmut Wedekind:
Übernehmen Sie doch Lorenzens Aufsatz komplett, damit jeder
sich seine eigenen Meinung bilden kann. Immerhin ist der Aufsatz auch wegen
seiner profunden Kritik einige Klassen besser als das wenig aufregende Buch von Livio, das
eigentlich jeder historisch gebildete
Mathematiker mit ein bisschen Fleiß schreiben kann.
Heute schrieb Hartmut Wedekind aus Darmstadt:
AntwortenLöschenVom Paul Lorenzen in "Mathematik als Sprache" (1951) habe ich erfahren, dass das Thema zu dem alten Mathematiker-Streit "Konstruktivisten versus Axiomatisten bzw. Existenztheoretiker" führt. Man kann auch "Operationalisten versus Deskriptionisten" sagen. Statt "es existiert z.B. eine Primzahl.." sagen die anderen "ich konstruiere eine Primzahl." Das ist ein gewaltiger Unterschied . Bei Konstruktivisten gibt es z.B. keine indirekten Beweise, weil ja alles direkt konstruiert werden muss, was häufig ein Algorithmus ist. Für den Konstruktivsten ist der Mensch ein Mathematiker, kein Gott. In der konstruktiven Logik fallen rund die Hälfte der Lehrsätze weg, weil sie nicht konstruktiv sind und das "tertium non datur" als Voraussetzung haben.
Gestern schrieb Stefan aus Frankfurt:
AntwortenLöschender Beitrag hat mir wirklich gut gefallen.
Soeben schrieb Peter Hiemann aus Grasse:
AntwortenLöschenMario Livio hat eine Geschichte vorgelegt, in der es nicht um die Beschreibung von „Grundfunktionen der Mathematik“ (Lorenzens Anliegen) geht. Vielmehr verdeutlicht Livio, wie mathematische Vorstellungen das kulturelle Umfeld bzw. Weltanschauungen einiger herausragender historischen Epochen beeinflusst haben. Livio erklärt seine Perspektive sehr deutlich, wenn er sich der Ansicht des Mathematikers Michael Francis Atiyah anschließt: „Das Gehirn hat eine Evolution durchlaufen, die es ihm ermöglicht, die physikalische Welt zu erschließen, es sollte daher nicht allzu sehr verwundern, dass es eine Sprache – die Mathematik – entwickelt hat, die für diesen Zweck sehr gut geeignet ist.“
Lorenzens Vortrag von 1951 „Ist Mathematik eine Sprache“ basiert auf Überlegungen, dass Menschen im Allgemeinen anders kommunizieren als Mathematiker, wenn diese Operationen mit mathematischen Symbolen und Ausdrücken durchführen. Zitat Lorenzen: „Die [menschliche Sprache ist] Beschreibung (Deskription) von Wirklichem. Der Sprechende befindet sich in einer Situation, die er einem Anderen mit Hilfe der Deskription mitteilen will. …..Das charakteristisch Nicht-Sprachliche der Mathematik zeigt sich erst, wenn wir Zahlen und Rechnen ausschließen und uns auf die eigentliche Mathematik beschränken. Die Situation, in der sich der Mathematiker im eigentlichen Sinne befindet, ist nun diese: es sind ihm formale Operationsregeln für Zeichen vorgegeben.“
Da Livio und Lorenzen völlig verschiedene Perspektiven für ihre Gedankengänge gewählt haben, ist die Behauptung unzulässig, dass Lorenzens „Aufsatz auch wegen seiner profunden Kritik einige Klassen besser [ist] als das wenig aufregende Buch von Livio“.
Meines Erachtens reicht es nicht, das Phänomen menschlicher Ausdrucksformen auf eine „deskriptive“ oder „konstruktive“ Funktion zu beschränken. Neurobiologische Experimente weisen darauf hin, dass ein andauernder Fluss von Reflexionen, den wir Bewusstsein nennen und mit unserer Identität assoziieren, den Erwerb individueller Sprachfähigkeiten ermöglicht, organisiert und dessen Kohärenz bewahrt. Bei den Wechselwirkungen eines Individuums mit dessen vielfältigem Interessen hinsichtlich seines kulturellen Umfelds (z.B. Physik, Biologie, Ökonomie, Mathematik, Logik, Kunst, etc.) kommt es darauf an, sich seiner selbst, seiner eigenen Persönlichkeit und der Persönlichkeit seiner Kommunikationspartner in möglichst vielen Aspekten bewusst zu sein bzw. gerecht zu werden.
Übrigens darf vermutet werden, dass Lorenzen wusste, dass die Geschichte der Physik und Mathematik genügend Beispiele bereithält, in der Mathematiker und Physiker nicht nur vorgegebene formale Operationsregeln für Zeichen zur Geltung gebracht haben, sondern neue Operationsregeln kreiert und angewandt haben. Im Fall der Formulierung der Allgemeinen Relativitätstheorie war Teamarbeit zwischen Physiker und Mathematiker erforderlich. Von der kreativen Veränderung physikalischer und mathematischer Vorstellungen berichtet Mario Livio.
Michael Atiyahs Aussage über die mathematische Beschreibung der physikalischen Welt ließe sich dahingehend erweitern, dass Spracherwerb und Sprachentwicklung jeglicher Art mit der Entfaltung geistiger Fähigkeiten direkt korreliert ist, um die Welt in dessen vielfältigen Aspekten zu „begreifen“.
Gestern Abend schrieb Hans Diel aus Sindelfingen:
AntwortenLöschenIch bin auch der Meinung, dass es überhaupt keinen Sinn macht das Buch von Livio mit dem Aufsatz von Lorenzen zu vergleichen, da es in den beiden Publikationen um völlig verschiedene Themen geht, auch wenn in beiden Themen das Wort "Mathematik" vorkommt.
Lorenzens Buch "Einführung in die operative Logik" hat bei mir vor 50 Jahren einen starken Eindruck hinterlassen. Das erwähne ich, um meine große Hochachtung vor Paul Lorenzen zu bekunden. Umso mehr hat mich sein Beitrag "Ist Mathematik eine Sprache?" enttäuscht. Auch wenn er seine Aussagen am Anfang und am Ende des Artikels relativiert und abschwächt (" Es liegt mir nichts daran, die Gegenthese aufzustellen, daß Mathematik keine Sprache sei."), ist er meiner Meinung nach in seinen Argumenten gegen die Einordnung von Mathematik als Sprache ziemlich unsauber.
Beispielsweise schreibt er gegen Ende "Betrachtet man die Mathematik als eine Sprache, dann ist z.B. die Formel x hoch n + y hoch n = z hoch n (für festes n) eine ,,Aussage", die die durch x, y, z bezeichneten „Gegenstände" beschreibt. Ob es Gegenstände gibt oder nicht, auf die diese Aussage zutrifft, ist dann unabhängig von unserem Konstruktionsvermögen, irgendwie, sozusagen beim lieben Gott, entschieden. Er sieht dies als Argument gegen die Einordnung der Mathematik als Sprache. Ich meine dass, wo immer der betreffende Sachverhalt oder die Vermutung zur Diskussion kommt, die Existenz der durch x, y, z bezeichneten Gegenstände angenommen wird (es geht nicht darum die Existenz zu beweisen). Selbst wenn der von Lorenzen gesehene Makel zutreffen würde, so ist das ein Makel, der bei nicht-mathematischen Sprachen mindestens so oft vorkommt wie in der Mathematik.
Gerade schrieb Hartmut Wedekind:
AntwortenLöschenDie völlige Unausgewogenheit des Herrn Livio kommt zum Beispiel im letzten Absatz auf Seite 212 zum Ausdruck. Er zeigt deutlich, dass der Autor von einer ingenieurnahen, konstruktiven (intuitiven) Mathematik und Logik keine Ahnung hat.
„Der Vollständigkeit halber sollte doch noch angemerkt werden, dass es eine Denkschule gab - den Intuitionismus - , der sowohl den Logizismus als auch den Formalismus vehement ablehnte. Der Fackelträger dieser Schule war der einigermaßen fanatische niederländische Mathematiker Luitzen E.J. Brouwer (1881-1966)“. Als ob Brouwers Gegner, u.a. David Hilbert, nicht fanatisch gewesen sind. „Wir lassen uns aus unserem Paradies nicht vertreiben“ (Hilbert)
(http://de.wikipedia.org/wiki/Hilbertprogramm ).
Da sind sie wieder die „Gottähnlichen“ in ihrem Paradies. In Wirklichkeit sind es unverbesserliche Dogmatiker, und damit Wissenschaftler mit einer starken Beschränkung. Ein Dogmatiker nach Duden „ist ein unkritischer Verfechter einer Lehrmeinung“. Und das trifft zu!
Die Aussagen
AntwortenLöschen(1) Lorenzens Vortrag ist einige Klassen besser als das wenig aufregende Buch von Livio
(2) Jeder historisch gebildete Mathematiker mit ein bisschen Fleiß kann Livios Geschichte
schreiben
(3) Herrn Livios Geschichte ist völlig unausgewogen
(4) Der Autor (Livio) hat von einer ingenieurnahen, konstruktiven (intuitiven) Mathematik
und Logik keine Ahnung
(5) Da sind sie wieder die „Gottähnlichen“ in ihrem Paradies
(6) In Wirklichkeit sind es unverbesserliche Dogmatiker
(7) Sie sind Wissenschaftler mit einer starken Beschränkung
mögen niemanden davon abhalten, Mario Livios Geschichte mit Vergnügen zu lesen.
Die Frage, ob Mathematiker ihre Erkenntnisse entdecken oder erfinden,
AntwortenLöschenist durch mich — der ich mal Mathematiker war — ganz einfach zu beantworten:
Man muss sich nur vor Augen führen, dass der Begriff Mathematik für zwei grundverschiedene Dinge steht: für mathematische Gesetze einerseits, dann aber auch für die Methodik, die der Mensch entwickelt hat, über solche Gesetze zu sprechen, sie zu formulieren und zu beweisen.
Damit ist klar: Jedes mathematische Gesetz wird entdeckt (aber niemals vom Menschen geschaffen).
Der Begriff der Primzahl etwa ist der Methodik zuzurechnen (er wurde, als Konzept, vom Menschen geschaffen). Die Tatsache aber, dass es Primzahlen gibt (Instanzen des Konzepts) ist eine Entdeckung, die der Mensch dann machen konnte.
Mathematische Gesetze zu entdecken, bedeutet: sie zu erahnen, ggfs. auch eine Begriffswelt zu schaffen (um die Ahnung formulieren zu können) und dann einen Beweis zu finden.
Damit, Herr Bertal, hoffe ich klar gemacht zu haben, dass das Definitionsproblem, von dem Sie glauben, dass Mathematiker so sehr "darunter leiden", für uns, die Mathematiker, überhaupt nicht existiert.
Vielen Dank für den Kommentar. Die Mehrzahl der mir bekannten Mathematiker scheint dieselbe Auffassung zu vertreten wie Sie. Es gibt allerdings auch kreative Mathematiker, die Erfindungen machen. Meine Bemerkung im Blog war eigentlich an die (oft aus der Mathematik kommenden) Informatiker gerichtet, die immer noch von sich glauben, dass sie Entdeckungen machen.
LöschenSoeben schrieb Peter Hiemann aus Grasse:
AntwortenLöschenmeines Erachtens ist die Frage „Entdeckung oder Erfindung“ für die meisten wissenschaftlichen Arbeiten ohne Bedeutung. Am Beispiel der Entdeckung des genetischen Codes lässt sich das ganz gut verdeutlichen.
Alle biologischen Systeme, die ein genetisches Programm mittels eines DNA-Moleküls besitzen, benutzen einem gemeinsamen „Code“. Dieser Code legt fest, wie in der Nukleinsäure DNA befindlichen Dreiergruppen aufeinanderfolgender Nukleobasen – Tripletts oder Codons genannt – in Aminosäuren übersetzt werden. Am 27. Mai 1961 um 3 Uhr morgens gelang dem deutschen Biochemiker Heinrich Matthaei im Labor von Marshall Nirenberg mit dem Poly-U-Experiment der entscheidende Durchbruch: die Entschlüsselung des Codons UUU für die Aminosäure Phenylalanin. 1966, fünf Jahre nach der Entzifferung des ersten Codons, war die vollständige Entschlüsselung des genetischen Codes mit allen 64 Basentripletts gelungen.
Es ist offensichtlich, dass Matthaei eine wesentliche Eigenschaft der Natur entdeckt hat. Um das Phänomen zu verstehen, benötigte er molekularbiologisches und informationstechnisches Wissen. Die von ihm benutzten biochemischen Methoden und die Idee der Translation von Information basierten auf menschlichen Fähigkeiten, die von einer Vielzahl von Wissenschaftlern erarbeitet worden waren. Die Frage, ob der genetische Code „erfunden“ wurde (von wem auch immer) oder im Laufe der biologischen Evolution entstanden war, hat bei der Entdeckung des genetischen Codes keine Rolle gespielt.
Die Vorstellung, dass biologische Phänomene nur unter Berücksichtigung evolutionärer Prinzipien verstanden werden können, wird heute von der großen Mehrheit der Naturwissenschaftler vertreten. Physiker sind gerade am Überlegen (Lee Smolin), ob zur Erklärung physikalischer Phänomene auch evolutionäre Prinzipien eine Rolle spielen könnten. Die Welt der „Reinen Mathematik“ ist eine Welt für sich. Sie besteht aus Vorstellungen abstrakter Strukturen und vielfältigen Beziehungen zwischen mathematischen „Elementen“. Die heute existierenden mathematischen Strukturen und Theorien sind das Ergebnis geistiger Tätigkeit , die im Laufe der menschlichen Kulturgeschichte geleistet wurde und wird.
Der langen Rede kurzer Sinn: Existierende naturwissenschaftliche Arbeitshypothesen und Theorien sind das Resultat geistiger Tätigkeit. Die Frage, ob ein Phänomen auf einem einmaligen Schöpfungsvorgang beruht oder das Ergebnis eines langwierigen evolutionären Prozesses ist, ist für wissenschaftliche Erkenntnis zweitrangig. Menschliche Erfahrung spricht dafür, dass menschliche Vorstellungen „nicht vom Himmel fallen“.
NB Bertal Dresen): Die Biologie gehörte in der Vergangenheit ohne Zweifel zu den rein entdeckenden Wissenschaften. Den Schritt zu Erfindungen, also zu Neuschöpfungen, vollzieht sie nur sehr zögernd. Mit Recht. Ich halte die begriffliche Unterscheidung für sehr hilfreich. Natürlich bauen viele Erfindungen auf Entdeckungen auf.