Dieser Tage melden sich viele Experten zu Wort, die zu der Frage im
Titel etwas sagen wollen und können. Es ist dies einer der positiven
Nebeneffekte des Falls Snowden, worauf ich bereits gleich zu Anfang der gleichnamigen
Affäre verwiesen habe. In den deutschen Medien sind dies vor allem der
Chaos Computer Club (CCC) mit seinen Sprechern (Constanze Kurz, Frank Rieger), und
die Einzelkämpfer Sascha Lobo und Markus Beckedahl und einige Vertreter der
Piratenpartei. Nicht darunter sind die Gesellschaft für Informatik (GI) oder der
BitKom. Für die einen ist die obige Frage vermutlich nicht wissenschaftlich
interessant, für die anderen hat sie keine erkennbare ökonomische Relevanz. Man
überlässt sie daher dem Boulevard oder den Generalisten. Ich beginne meine
Betrachtung mit einem kurzen Rückblick.
Was war das Internet ursprünglich?
Das Internet war am Anfang ein kostenloser Postdienst für Hochschulen zum
Transport von Telegrammen, Briefen, computer-lesbaren Material und technischen
Berichten. Seine Nutzer waren Wissenschaftler und Studenten der Informatik
(engl. computer science) und verwandter Ingenieurfächer an amerikanischen
Elite-Universitäten. Ursprünglich umfasste dies die University of California at
Los Angeles (UCLA) und die Stanford University, später kamen die University of
Utah und die University of California in Santa Barbara dazu. Der erste Knoten
in Europa war im National Physical Laboratory (NPL) in England. Die erste
deutsche Adresse hatte das Rechenzentrum der Universität Karlsruhe. Der Dienst
benutzte vorhandene Rechner, die für Forschungszwecke zur Verfügung standen.
Ausgetauscht wurden Verabredungen, Beschreibungen von Forschungszielen,
Computer-Programme in unterschiedlichen Sprachen und Entwicklungszuständen und
Forschungsberichte in Textform.
Was ist das Internet heute?
Das Internet ist heute für alle Gerätetypen zugänglich, die über eine
minimale Computerkapazität verfügen. Anstatt einiger wenigen Spezialisten
bedient das Netz Milliarden von Nutzern weltweit, in allen Alters- und
Berufsgruppen. Der primäre Nutzer ist heute ein Mensch (siehe unten). Das
Internet ist eine Basis (engl. enabler) für eine Vielzahl unterschiedlicher Dienste
und Produkte. Die Dienste existierten größtenteils bereits vorher, wurden aber
mit andern Mitteln realisiert. Hierzu gehören:
- Post- und Fernschreibdienst (Telegrafie): Sowohl
für geschäftlichen und privaten Gebrauch weltweit kostenlos.
- Fernsprechdienst (Telefon): Alle Zweiergespräche
und Konferenzen nutzen zunehmend das Internet zur Übertragung. Teilweise
kostenlos.
- Archiv und Bibliothek: Ablage mit weltweitem
Zugriff für Daten und Dokumente für geschäftliche, wissenschaftliche und
private Nutzung.
- Auskunftei und Nachschlage-Lexikon: Das Internet
ist ein enormes Sammelbecken für Information und Wissen. Dank dem hohen Stand
der Suchmaschinentechnik ist es für jedermann leicht zu erschließen.
- Nachrichtenvermittlung: Privatleute, kommerzielle
und staatliche Organisationen stellen laufend aktuelle Information bereit, die
man gezielt beobachten kann. Die Agenturen gehen entweder direkt ins Netz oder
verkaufen weiter an Medien (Zeitungen und Rundfunk) zwecks Weiterverwendung.
- Ausdrucksmedium für Kreative: Die Schöpfer von
Belletristik, Sachbüchern, Kinderbüchern, Poesie, Spielen, Grafik, Gemälden und
Musik gehen zunehmend ins Internet.
- Medium für Essayisten: Parallel zu den
bestehenden Medien gehen viele Einzelpersonen direkt an die Öffentlichkeit (als
Blogger).
- Bücher-, Gemälde-, Musik- und Videoladen:
Zunächst wurden gedruckte Bücher und andere Datenträger online verkauft.
Inzwischen erscheinen fast alle Bücher auch oder nur als E-Books, sowie alle
andern Medien direkt im Netz.
- Versandhandel: Neben Büchern werden auch alle
physikalischen Produkte (Kleider, Lebensmittel, technische Geräte) online
verkauft und per Postkurier ausgeliefert.
- Reisebüro: Planung, Beratung und Buchung von
Reisen (Flug, Bahn, Mietwagen, Hotel) erfolgt nur noch direkt (d.h. elektronisch)
durch den Kunden.
- Sammlung von Kartenmaterial (Atlas): Für die
Nutzung ohne und mit GPS-Navigationsgeräten.
- Fernsehen, Kino, Konzerthaus: Alle Aufführungen
und Produkte können von zuhause aus und zeitversetzt genutzt werden.
- Buchhaltung, Lagerbuch: Repositorium für
Geschäftsunterlagen aller Art.
- Allgemeine und spezielle Märkte: Anbieter und
Käufer für Gebrauchtwaren und Alltagsbedarf, aber auch für Kunst und Wertgegenstände
werden weltweit zusammen geführt. Orts- und Zeitgleichheit sind nicht mehr
erforderlich.
- Finanzplatz: Finanzgeschäfte aller Art
(Wertpapiere, Versicherungen) lassen sich ortsunabhängig und schnell erledigen.
Große Differenzierung.
- Aus- und Weiterbildung: Nach vielen Versuchen
E-Learning innerhalb einzelner Schulen und Ausbildungsgänge einzusetzen,
scheinen MOOCs einen Massenmarkt zu adressieren.
- Jugendtreff und Heiratsmarkt: Durch
Selbstdarstellungen werden Kontakte geknüpft und gepflegt.
- Medizinische und psychologische Beratung: Viele
Patienten suchen zuerst im Netz nach Heilmethoden oder Medikamenten, ehe sie
einen Arzt oder Psychologen aufsuchen.
- Treffpunkt für Gruppierungen aller Art: Weltweit
können Hobbyisten und Esoteriker, fachliche, politische, religiöse und soziale
Interessensgemeinschaften sich darstellen und leicht kommunizieren.
- Spielplatz: Wettbüros und Spielkasinos sind
nicht mehr ortsgebunden. Alle Karten- und Brettspiele sowohl für Einzelpersonen
wie für Gruppen sind überall und jederzeit verfügbar.
- usw., usw.
Es gibt auch eine Gruppe neuer, meist amerikanische Geschäftsideen und
Anwendungen, die speziell für das Medium Internet entwickelt wurden. Sie
richten sich oft an große Massen von simultanen Nutzern, vor allem Jugendliche.
So wie früher beim Fernschach gegen unbekannte Partner können sich jetzt viele
Personen zeitgleich im Wettbewerb oder gemeinsam an geistig anspruchsvollen
Aufgaben betätigen. Diese Anwendungen sind ökonomisch gesehen noch lange nicht
so wichtig wie die oben gelisteten. Deshalb will ich hier nicht näher auf sie eingehen.
Vielleicht tue ich es später einmal.
Ist das Internet noch zu retten?
Zu dieser Frage äußerten sich am 8.8.2013 in einem Beitrag
für Zeit-Online zehn so genannte Pioniere und Theoretiker des Internet.
Darunter sind Jaron Lanier, Jeff Jarvis, Jevgeny Morozov, Viktor Mayer-Schönberger,
Anke Domscheit-Berg und Markus Beckedahl. Sieht man diese Namen, ist das
Attribut ‚Pioniere und Theoretiker‘ vielleicht übertrieben. Es sind zumindest
bekannte Autoren. Bezüglich der Zukunft des Internet gehen die Meinungen sehr
auseinander. Das liegt einerseits daran, dass das Internet bisher alles andere
als eine kontinuierliche Entwicklung durchlief. Nicht-lineare oder chaotische
Entwicklungen zu extrapolieren, ist immer riskant. Andererseits gibt sich kaum
jemand der Befragten die Mühe, von der eigenen Wunschvorstellung zu
abstrahieren. Da das, was dabei herauskam, nicht uninteressant ist, seien
einige Beispiele kurz zitiert.
Lanier ist Informatiker und Musiker. Ihn stört es, dass im Internet der
Wert geistigen Eigentums ignoriert und damit jedwede künstlerische Leistung
entwertet wird.
Bürger, die sich daran gewöhnt haben,
ihre Privatsphäre gegen die irreführende Illusion der Kostenlosigkeit
einzutauschen, sollten sich nicht wundern. Die Lösung des Problems:
Monetarisiert die Informationen von Otto Normalverbraucher.
Jarvis ist Journalist und Autor mehrerer Bücher über die durch das
Internet bewirkten strukturellen Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft.
Im Dienst dieser Bedürfnisse und Chancen
entstehen große neue Institutionen: Google, um uns mit den Informationen,
Facebook, um uns untereinander, Twitter, um uns mit jedermann zu verbinden. Sie
und wir handeln in einem voranschreitenden Prozess die Normen und die Ethik der
Privatsphäre, Transparenz und Kontrolle aus. Nun aber tritt der Staat in Erscheinung.
Er mag sich als Beschützer der Privatsphäre gerieren, in Wirklichkeit aber ist
er ihre größte Bedrohung, denn er kann Informationen sammeln und gegen uns
verwenden wie niemand sonst.
Morozov war als Blogger in Weißrussland tätig und lebt heute in den USA.
Warum dominieren im Internet Konsum und
Überwachung? Weil das, was wir "das Internet" nennen, nur eine kleine
̶ wenngleich wachsende ̶ Teilmenge aller anderen modernen
Interaktionen ist, die sich durch eine Eigenschaft auszeichnen. Sie alle werden
nämlich durch dasselbe technische Protokoll ermöglicht: TCP/IP.
Mayer-Schönberger ist
Professor am Internet Institute der Oxford University. Er veröffentlichte
in diesem Jahr ein Buch mit dem Titel "Big Data".
Das Internet ist die alle Bereiche unserer
Lebenswelt durchdringende Infrastruktur dieser Informationsflüsse. Der Kampf um
die Vorherrschaft über die Steuerung der Informationsflüsse und um die sich
daraus ergebende Deutungshoheit ist in vollem Gange.
Domscheit-Berg ist Spitzenkandidatin
der brandenburgischen Piratenpartei für die Bundestagswahl.
Wir können uns mehrheitlich weiter blind
und taub stellen und uns dann in einer Welt wiederfinden, in der wir versuchen,
unseren Kindern zu erklären, was ein freies Internet einmal bedeutete und wie
mit seinem Ende auch viele andere Freiheiten für immer verschwanden. Wir können
uns aber auch machtvoll erheben und das Internet ̶ so wie wir es kannten ̶ mit Zähnen und Klauen zurückerobern. Wir
können Alternativen entwickeln und nutzen, die vielfältig sind und nicht von
Monopolisten betrieben werden.
Zu Beckedahl heißt es, er sei einer
der bekanntesten deutschen Blogger. Er betreibt das Blog netzpolitik.org und
hat den Verein Digitale Gesellschaft gegründet.
Technisch können wir aus den Enthüllungen
lernen, dass der Schutz unserer Privatsphäre bei der Entwicklung von neuen
Technologien sofort von Anfang an mitgedacht werden muss. Dezentrale
Infrastrukturen bieten weniger Möglichkeiten zum Abgreifen der Daten als eine
Zentralisierung bei einem großen Anbieter. … Es geht um nichts Geringeres als
unsere digitale Zukunft mit den Grundwerten und Grundrechten, die wir kennen
und lieben gelernt haben. Und die für eine freie und demokratische Gesellschaft
essenziell sind.
Was wird das Internet in Zukunft sein?
Welche der bereits stattgefundenen Änderungen des Internets die
gravierendsten sind, wird unterschiedlich beurteilt. Für manche ist es die
Vielzahl der Anwendungen und Inhalte, für andere ist es die Rolle, die
Großunternehmen wie Amazon, Apple, Google, Facebook und Wikipedia inzwischen übernommen
haben. Durch sie sehen manche die so genannte Neutralität des Netzes gefährdet.
In den letzten Wochen erscheint vielen Menschen, dass die größte Änderung sich
aus der Rolle des Staates ergibt. Anbieter und Nutzer haben nicht länger das
Gefühl, sich selbst überlassen zu sein. Um die Gefahren durch internationalen
Terror oder organisierte Kriminalität in den Griff zu bekommen, scheinen
westliche Staaten ihre Zurückhaltung aufgegeben oder verloren zu haben.
Möglicherweise gelingt es, den Staat wieder etwas aus dem Internet heraus zu
drängen. Das geschieht aber eher durch kommerzielle Initiativen und Erfolge als
durch Graswurzel-Aktivitäten.
Es gibt eine Vielzahl von Forschungsprojekten auf der ganzen Welt, die
dem Thema Future Internet gewidmet sind. Das
amerikanische GENI-Projekt zählt hierbei zu den
bekanntesten. In Deutschland wurde Ende 2008 das German
Lab als nationale Experimentierplattform gegründet. Einige Kollegen fordern,
das (alte) Internet total abzulösen durch eine völlige Neukonzeption (engl. clean
slate). Angesichts der bisherigen Investitionen in Daten und Dienste (siehe
oben) sind dafür enge Grenzen gesetzt. Alle Änderungen müssen abwärts
kompatibel sein. Natürlich wird sich nicht nur das Volumen an Daten weiter erhöhen.
Es werden weitere Anwendungen und Datentypen hinzukommen. Es kann sein, dass
einzelne Bereiche sich noch weiter voneinander abschotten. Gründe dafür sind
Benutzerfreundlichkeit und Sicherheit. Wieweit sich Verschlüsselung in dieser
Hinsicht gegenüber Techniken wie Virtuelle Private Netze (VPN)
durchsetzt, ist offen. Ein aktuell zu lösendes Problem ist die Umstellung des
Internet-Protokolls von Version 4 auf Version 6. Hierbei geht es unter anderem
um eine Vergrößerung des Adressraums von 4,3 ·109 Adressen auf
3,4·1038 Adressen. Wie vor
zwei Jahren im Interview mit Christoph
Meinel diskutiert, müssen allein dafür 10-20 Jahre angesetzt werden.
Es ist heute bereits absehbar, dass viele technische Geräte miteinander
ohne menschliche Intervention kommunizieren werden (Internet der Dinge). Das
gilt nicht nur für die industrielle oder ökologische Planung und Steuerung,
sondern auch für Sportgeräte oder medizinisches Monitoring. Die technischen Grundlagen
dafür (z.B. RFID, Mikrosensornetze) sind schon lange vorhanden. Es fehlt nur an
guten Anwendungsideen (auch Killer Apps genannt) und effizienten
Implementierungen.
Oft existieren die alte, offline und die neue, online Realisierung
eines der oben genannten Dienste noch nebeneinander. Dieser Zustand kann noch
Jahrzehnte lang oder sogar unbeschränkt anhalten. Dass die alte Version teurer,
langsamer und weniger zuverlässig ist, ist nicht immer ausreichend, um alle
Nutzer zum Umsteigen zu bewegen. Ein analoges Beispiel sind Autos und
Pferdefuhrwerke. In vielen von Touristen besonders geschätzten Orten werden
Autos zurzeit von Pferdekutschen und Reitern verdrängt. Über eines können wir
sicher sein. Es wird auch in Zukunft viele neue Produkte und Dienste geben, an
die wir heute noch gar nicht denken.
Zusammenfassung
Das Internet ist die nützlichste Errungenschaft der praktischen Informatik
für die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft. Während die Einführung von
Computern nur bestimmte Berufe betraf, ist die Wirkung des Internet mit der
Elektrifizierung vergleichbar. Die Vorteile für alle Geschäftsbereiche und alle
gesellschaftlichen Gruppen liegen auf der Hand. Daher werden viele Berufe sich
ändern, manche wegfallen und neue entstehen. Zu hoffen, dass die durch das
Internet verursachte Entwicklung aufzuhalten oder gar rückgängig zu machen ist,
ist eine Illusion. Da immer noch viele (ältere) Leute dieser Illusion anhängen,
muss man sie aufklären. Bei Jugendlichen besteht kein Umschulungsbedarf. Sie wachsen
mit dem Internet zusammen auf. Im Englischen spricht man von ‚digital natives‘.
Die deutsche Übersetzung ‚digitale Eingeborne‘ geht uns nur schwer von den
Lippen. Da es keinen Fortschritt ohne Kosten gibt, keine Gewinner ohne
Verlierer, darf man die Kehrseiten des Internet nicht aus dem Auge verlieren.
Aus ihnen entstehen Gefahren und Ängste. Sie müssen ernst genommen werden.
Besonders resistent gegen zwingend notwendige Belehrungen sind – neben anderen Zeitgenossen – gewisse
Alt-Hippies, die glauben, dass man das Internet auf seine akademischen Anfangsjahre
zurückdrehen kann. Sie verwechseln gerne Utopie und Realität. Sie zu bekehren
lohnt sich nicht.