Montag, 28. März 2016

Gruppenreise durch China vor fast 30 Jahren

Im Frühjahr 1987 nahmen meine Frau und ich an einer vierwöchigen Gruppenreise durch China teil. Sie begann in Peking und endete in Hongkong. Es war die Regierungszeit von Deng Xiaoping. Es waren erst wenige Jahre her, seit sich das Land nach außen geöffnet hatte. Das Tianamen-Massaker vom Juni 1989 kam später. Ich veröffentliche hier meinen ungekürzten Reisebericht von 1987. Mein Ziel ist es, den heutigen Reisenden den Wandel zu zeigen. Dieser drückt sich vor allem im Straßenbild aus. Noch dominieren Fahrräder und Einheitskleidung.

Reisebericht von 1987 (mit vielen Bildern) 

(Hier klicken!)

Nachtrag 2016

Auf dem Bahnhof in Guangzhou musste sich Wei, unser chinesischer Reisebegleiter, von uns verabschieden. Hongkong war damals noch Ausland. Beim Durchstöbern meiner Mitbringsel aus China stieß ich dieser Tage auf eine auffallend dicke Postkarte. Auf der Vorderseite ist ein Panda-Bär abgebildet, auf der Rückseite ein handschriftlicher Text.


Abschiedswunsch des Reiseleiters

Diese politische Aussage war offensichtlich im Sinne seines Arbeitgebers, des Ministeriums in Peking. Wer des Chinesischen mächtig ist, kann die in der Übersetzung erscheinende Unklarheit möglicherweise aufklären. Nie hatte Wei während der drei Wochen, in denen wir zusammen waren, zu verstehen gegeben, dass er für Deutschland mehr Sympathie empfindet als für die USA. 

Für seine Frau in Tübingen nahmen wir ein kleines Päckchen mit. Ich vermute, es enthielt grünen Tee. Wir trafen Weis Frau im Tübinger Studentenwohnheim. Sie studierte deutsches Jugendrecht. In China gab es, trotz seiner 3000-jährigen Geschichte, dieses Rechtsgebiet nicht. Bei uns war es immerhin 65 Jahre alt. Es war 1923 eingeführt und seither laufend erweitert worden.

Dienstag, 22. März 2016

Ein Physiker (v)erklärt die Software-Welt

Mein in der Schweiz lebender Ex-Kollege Walter Hehl entdeckte, dass es neben dem physikalischen Wissen über die Welt noch andere Dinge von Bedeutung gibt. Er ist erstaunt und voller Bewunderung. Sein kürzlich bei Springer in Heidelberg erschienenes Buch heißt Wechselwirkung  ̶  Wie Prinzipien der Software die Philosophie verändern. Es hat 294 Seiten. Nach mehreren Büchern, in denen der Autor der Informatik nahe stehende Themen behandelte, versucht er jetzt eine Brücke zu bauen zwischen Naturwissenschaften, Technik und Philosophie. Er ist damit in guter Gesellschaft. Dieses Buch hat eine ganz besondere, ja überraschende Sicht der Dinge. Ich finde das Buch mutig und erhellend. Dass ich nicht immer der gleichen Meinung wie der Autor bin, liegt vor allem daran, dass er einige Informatik-Fachbegriffe etwas lockerer verwendet, als ich dies tue. Auch da ist er nicht der Erste. Seine Botschaft wird dadurch zwar etwas belastet, sie bleibt aber noch gut erkennbar.

Darstellung per Klappentext und Überschriften

Der Anspruch, den das Buch erhebt, wird klar durch den Klappentext. Anstatt ihn umzuformulieren, gebe ich ihn verbatim wieder.

In Software gegossene Algorithmen, die Schachweltmeister besiegen oder bei Fragespielen erfolgreich gegen Menschen bestehen, zeigen die radikalen Änderungen in einer durch Software getriebenen Welt, für deren Verständnis Brücken zwischen Informatikern sowie Technikern und Philosophen notwendig sind. In diesem Sinne argumentiert der Autor für eine Technikphilosophie, in der Software eine bedeutende Rolle spielt. Begriffe erfahren dadurch neue Sichtweisen und Bedeutungen. Das Ergebnis ist eine moderne Form des Dreiweltenmodells von Karl Popper, jetzt mit Software als der zweiten Weltsäule neben der Teilchenwelt der Physik. Die wichtigsten Begriffe des Buchs sind in einem Glossar zusammengefasst.

Eine ‚von Software getriebene Welt‘, das ließ mich aufhorchen. ‚Software als Weltsäule‘, da wird es echt kryptisch. Was könnte da bloß gemeint sein? So fragte ich mich. Eine Stufe tiefer in das Buch führt eine Liste der darin vorkommenden Kapitelüberschriften. Sie sollen unkommentiert gelistet werden.

Was ist Philosophie? Was ist Software? Philosophisches aus und für Software und Softwaretechnologie. Philosophisches mit Software: Emergenz, Evolution und Weltmodell (Ontologie). Strömende Software und Bewusstsein. Wissen, Verstehen und Intelligenz mit Software. Es muss nicht Silizium (oder Ähnliches) sein. Software der Seele: Weil wir Computer sind. Freier Wille, Gehirn-im-Tank, Identität. Und wo bleibt der Geist? Wechselwirkungen.

Es war keine Frage, dass dieses Entree den Appetit weckte. Ich kann (und will) hier nicht sagen, wie man alle diese Aussagen im Buch interpretieren sollte. Das Buch selber zu lesen, ist ja kein großer Aufwand. Man täte sogar dem Autor einen Gefallen. Er will ja Anstöße geben. Ich beschränke mich hier weitgehend darauf darzustellen, wie man diese Dinge auch noch sehen kann. Wo immer möglich beziehe ich mich auf entsprechende Ausführungen in diesem Blog. Stichworte wie Bewusstsein, Emergenz, Evolution, freier Wille und Wissen kamen auch hier vor. Ich verweise auch auf einige Themen, die ich im Zusammenhang einer Philosophie der Technik vermisse. Das alles geschieht unter der Prämisse, wesentlich knapper zu sein als Kollege Hehl. Woher diese ganzen Gedanken stammen, ist teilweise im Buch erklärt. Manches entgeht mir. Ich war streckenweise ziemlich überrascht.

Ende des Physikalismus

Die Physik, genauer gesagt der Physikalismus, hat offensichtlich nicht mehr für alles eine Antwort. Es ist dies die These, dass alles, was existiert, physisch sei, oder dass zwischen den Eigenschaften aller real existierenden Objekte und deren physikalischen Eigenschaften eine eindeutige Beziehung besteht. Sowohl die Schwächen des Physikalismus wie auch das Ausbleiben von Fortschritten des Fachgebiets selbst hat viele Physiker sehr verunsichert. In diesem Blog wurden diese Selbstzweifel der Physiker mehrmals angesprochen. Einige befassen sich daher mit nicht-physikalischen Themen, z.B. der String-Theorie. Das ist – überspitzt gesagt – eine Theorie, auf die auch Philosophen hätten kommen können. Sie ist nämlich nicht falsifizierbar. Die Informatik, und hier speziell die Software, scheint neben der Philosophie eine andere Disziplin zu sein, von der Physiker hoffen, dass sie uns weiter bringt im Bemühen, die Welt zu verstehen. Sie ist nämlich mehr als nur Mathematik oder Informationstheorie, da auch Prozesse adressiert werden. Auch hier kann man Modelle und Theorien bauen, die nicht falsifizierbar sind. Das gilt allerdings nur für den Theoretiker. Dem praktisch arbeitenden Informatiker darf dies nicht passieren. Hehl führt den Begriff Softwareismus ein für eine Auffassung, die Software als ein sehr weit greifendes gedankliches Modell verwendet.

Überraschend an dem hier propagierten Weltmodell ist, dass der Autor fast die gesamte nicht-physikalische Welt unter dem Begriff Software subsumiert. Es gehört nicht nur die gesamte Biologie dazu, sondern auch Medizin, Soziologie, Psychologie und alle Wortwissenschaften (auch als Geisteswissenschaften bekannt). Der Autor macht dabei die ihm passenden Annahmen, was Software ist und leisten kann. Er liegt dabei manchmal etwas daneben. Alle Lebewesen werden als Computer gesehen. Liebe und Kunst stellen noch von der Software unabhängige Gebiete dar, wobei Kunst schon von Software angesteckt sein kann.

Was ist hier mit dem Begriff Software wirklich gemeint?

Meine fachlich einigermaßen präzise Definition von Software lautet: Es ist das, was ein Informatik-Gerät zusätzlich zur Hardware benötigt, um Daten zu verarbeiten. Dazu gehört derjenige Teil der Programme, die aus dem Speicher heraus benutzt werden, aber auch Beschreibungen aller Daten nach Format und Bedeutung sowie Suchhilfen (z. B. Indizes), speziell für größere Datenmengen oder komplexere Datenstrukturen. Sind entsprechende Funktionen direkt als Teil der Hardware realisiert, gehören sie nicht zur Software. Etwas ungenauer ist die Definition in Wikipedia. Danach ist Software ein Sammelbegriff für Programme und die zugehörigen Daten. Sie kann als Beiwerk zusätzlich Bestandteile wie z. B. die Dokumentation in der digitalen oder gedruckten Form eines Handbuchs enthalten.

Für Laien möchte ich noch hinzufügen: Ein System ohne Software kann ebenso leistungsfähig sein, wie eines mit Software. Software allein kann überhaupt nichts. Weder läuft sie, noch schleicht sie dahin. Wer Software als Grundpfeiler allen Lebens benutzt, oder ein Weltbild darauf aufbaut, hat zumindest auf sehr unsicheren Grund gebaut.

Als Physiker damit begannen, die Biologie als etwas zu erkennen, dass nicht mit Mitteln und Begriffen aus der Physik erklärt werden konnte, kamen sie auf Information als das für sie Neue und Unbegreifliche. So spricht Manfred Eigen (*1927) von Selbsterhaltung von Information und der Ursemantik als entscheidend für die Entstehung des Lebens. Längst wurde erkannt, dass das Vorhandensein des Genom nicht ausreicht, um Leben zu erklären. Dem in der Informatik tätig gewesenen Physiker Hehl ist bekannt, dass neben Daten auch die Prozesse eine große Bedeutung haben. Er wollte auch sie berücksichtigt sehen. Das Wort Software dient ihm als Platzhalter für einen Begriff, der Prozesse plus Daten beinhaltet.

Eine Analogie kann hier helfen. Im Falle von Musik entspräche Software der Partitur. Noten sind einzelne Befehle. Nicht die Partitur macht Musik, sondern die Musiker. Wenn ein Komponist umfangreiche Partituren schreibt, kann das seinen Schreibtisch in Unordnung bringen, genau wie verbose Software den Speicher eines Rechners belastet. Die (musikalische) Wirkung ist gleich Null. Der Tisch mag brechen, aber nicht die Mauern von Jericho wie einst beim Ertönen früh-israelitischer Musikinstrumente. Dass dazu Partituren benötigt waren, also Software, ist unwahrscheinlich. Software beschreibt zwar von Maschinen oder Menschen ausführbare Prozesse. Software mit Musik zu vergleichen ist aber ebenso falsch wie Musik mit Software gleichzusetzen. 

Auf Information oder Daten ausführlich einzugehen, hält Hehl wohl für unnötig. Es kann auch sein, dass ihm die Schwierigkeiten bewusst sind, die der Begriff Information verursacht hat, seit er von Claude Shannon (1916-2001) in einer rein mathematischen Richtung definiert wurde. Eine ausführliche Abhandlung zum Thema Information findet sich in diesem Blog. Aus Sicht der Informatik ist es gleichermaßen irreführend, wenn man sich auf Prozesse konzentriert und Daten außer Acht läßt wie umgekehrt. Mehr als nur eine Sache im Blick zu haben, überfordert offensichtlich manche Leute.

Berührungen zwischen Informatik und Philosophie

Über die Aufgaben der Philosophie haben sich immer wieder Menschen Gedanken gemacht. Eigentlich ist sie seit Jahrhunderten auf dem Rückzug. Sie umfasste einmal auch alle Naturwissenschaften, außer der Medizin. Die Philosophie nimmt (auch heute noch) für sich in Anspruch, dass sie die grundlegenden Begriffe, Fragen, Thesen und Positionen herausarbeiten soll, die anderen Wissenschaften zugrunde liegen. Ob sie das nicht überfordert, fragen viele. Es bleiben ihr zumindest die drei Fragen, die Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft bereits stellte: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Die Fragen stehen für die Teilgebiete Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik. Nur zu der ersten Frage kann die Informatik möglicherweise Beiträge leisten. Obwohl in Hehls Buch viel von Philosophie die Rede ist, gemeint ist immer nur ein enges Teilgebiet.

Informatiker oder Software-Leute maßen sich nicht an, dass sie Fragen von folgender Art beantworten können: Wer oder (lieber) was löste Bewegungen in der Welt aus? Weder Zuses (Rechen-) Plan noch alle späteren Programmiersprachen setzten irgendetwas in Bewegung. Sie setzten weder Bagger in Gang oder eine Wanduhr. Noch lösten sie Erdbeben aus, einen Windstoß, eine Vulkaneruption, das Ausbreiten von Photonen (ob Wellen oder Partikel); noch das Kreisen von Planeten oder das Fließen eines Flusses. Auch lösten sie nicht den Urknall aus. Wenn etwas in Bewegung gesetzt werden soll, kann man sehr oft mit Geräten eingreifen, die mittels Software gesteuert sind, manchmal aber auch mit Worten (in anderen Sprachen), mit Armbewegungen, mit Feuer, mit Wasser oder mit Steinmassen. Sofern die Physik diese Fragen nicht selbst beantworten kann, kann die Metaphysik zu Hilfe kommen.

Übertragbare Konzepte zwischen Informatik und anderen Wissenschaften

Viele in der Informatik entstandene und benutzte Konzepte erscheinen auch außerhalb der Informatik anwendbar zu sein. Zu dieser Ansicht gelangten Kollegen immer wieder. Ein sehr naheliegendes Beispiel ist der Beitrag von Jasmin Fischer, Dave Harel und Thomas Henzinger zum Thema ‚Biology as Reactivity‘ in den Communications der ACM (Heft 54,10 vom Oktober 2011). Viele der von Hehl angeschnittenen Fragen werden in einer Diskussion in diesem Blog im Mai 2013 angesprochen. Über den Zusammenhang zwischen Information und biologischem Leben geht es in einen Blog-Eintrag von April 2014. Sehr relevant ist die Diskussion um das Verhältnis von Sprache und Biologie, die sich anschließend zwischen Peter Hiemann und Hartmut Wedekind entwickelte.

Schöne Zitate von A – Z

Hehls Buch macht ausgiebig Gebrauch von Zitaten. Zitate müssen heute nicht ein Beweis für große Belesenheit sein. Es gibt viele Wege, sie im Internet zu finden. Drei davon gefielen mir besonders gut. Von dem Physiker Richard Feynman (1918-1988) stammt der Satz: Was ich nicht schaffen kann, verstehe ich nicht (engl: What I cannot create, I do not understand). Das ist eine sehr schöne Art auszudrücken, welche Rolle den konstruierenden Wissenschaften zukommt. Dass Informatik eine Ingenieurwissenschaft ist, wird immer wieder vergessen oder unterschlagen. Der holländische Informatiker Edsger Dijkstra (1930-2002) wird mit dem Satz zitiert: Die Frage, ob Computer denken können, ist nicht interessanter als zu fragen, ob ein U-Boot schwimmen kann. Dies besagt, dass diese Frage eigentlich nur Wortwissenschaftler berühren sollte. Da Albert Einstein (1879-1955) nie fehlen darf, wenn kluge Zitate gefragt sind, hier ein Beispiel: Durch bloßes logisches Denken vermögen wir keinerlei Wissen über die Erfahrungswelt zu erlangen; alles Wissen über die Wirklichkeit geht von der Erfahrung aus und mündet in ihr. Das tröstet die Empiriker, wenn Logiker zu vorlaut werden.

Der Mathematiker Gregory Chaitin (*1947) denkt bereits in eine Richtung, die Walter Hehl fortführt. Von Chaitin stammt der Satz: Gott ist Programmierer, und wenn man die Welt verstehen will, muss man Programmieren können. Oder Die Evolution ist ein vom Zufall bestimmter Aufstieg in einem Software-Raum (engl. Evolution is an uphill random walk in software space). Von Chaitin, einem anderen Ex-Kollegen, ist es nicht allzu weit zu Walter Hehl. Nur plumpsen wir aus Chaitins abstrakter, mathematischer Welt auf den Steinboden der Realität. Da kann es dann schmerzhaft werden. Es folgt jetzt eine Auswahl aus dem Zusammenhang gerissener Zitate aus Hehls Buch.

Software ist die Disziplin vom Erschaffen funktionierender komplexer Systeme und führt damit zu ihrem Verstehen. … Software beschreibt das Sein und das Werden. … Software hat eine epistomologische Aufgabe zu lösen, d.h. richtige Größen und Operationen zu finden. … Überall wo etwas wächst, werden Instruktionen ausgeführt. Alles was fließt, ist Software. … Software steht für das Konstruktive per se. … Software ist ein Grundelement der Welt. … Es ist eine immaterielle Substanz, die Neues schafft; die aus Hardware emergiert. … Eine Welt ohne Zufall gibt es nur als Ausnahme. … Bei der Natur-Software werden Specs erst nach der Entwicklung geschrieben. … Emergenz erfolgt bei Software beim Lauf und bei der Entwicklung. … Musik ist Software. Musiker sind die Prozessoren. … Zufall ist in der Quantenphysik ontisch geworden. … Bei Software gibt es ungeplanten Zufall durch Fehler im Code. … ‚Brute force‘ zum Lösen von Problemen ist Kreativität, die keine Freiheit braucht. … Wenn Naturgesetze und Software-Gesetze zusammenkommen, entsteht Großartiges und total Neues. … Die Evolution ist ein Software-System, dessen Speicher das Genom ist. … Die Erforschung der Evo-Devo ist Natur-Software-Engineering. Natur-Software ist nicht optimal, ist aber konfigurierbar. … Der Mensch könnte allmählich von Natur- zu künstlicher Software übergehen (meinen die Transhumanisten). … Wir können Natur-Software nicht reengineeren. …Die Erweiterung der Natur-Software erfolgt an vielen Stellen gleichzeitig. …Das Bewusstsein ist laufende Software, die auf Ereignisse reagiert. … Das Ich-Gefühl ist ein großes laufendes Programm. … Computer haben Gefühle, soweit sie Sensoren dafür haben. … Das Internet schafft ein gemeinsames Bewusstsein (Weltbewusstsein). … Facebook ist ein Betriebssystem für die Menschheit. …Die Schichten der Interpretation eines Bildes sind Emergenzkaskaden. … Was der Mensch kann, kann der Computer auch, nur besser. ... Denken ist Gesamtheit aller bewussten Prozesse im Gehirn. Die natürliche Sprache ist der einschaltbare laufende Interpreter. … Computer ist jedes Objekt, das umkonfiguriert werden kann, um Probleme zu lösen. … Die Seele sind die Prozesse unseres Innenlebens; sie ist Software, und zwar eine laufende, strömende Software. … Wir können die Seele konstruktiv verstehen durch Bauen in Software. … Software übernimmt Geistiges, da Gehirn laufende Software ist. … Sprache ist vernetzte Software. ... Auch Naturgesetze haben Geist. … Das Thema Geist ist untechnisch und unwissenschaftlich; deshalb schwer zu fassen. … Mathematik ist absolut und geistig. … Software ist außerhalb der Kausalität. … Softwareismus versucht eine technische Systematisierung von Erkenntnisvorgängen; der Wechselwirkung von Menschen, Maschinen und Netzwerken. … Da wo etwas agiert, läuft Software. … Software ist eine Metapher für die Beschreibung der Welt, des Lebendigen. … Software ist die Cephalisation der Welt wie von Teilhard de Chardin vorhergesagt.

Schlussgedanken

Immer wieder erlagen Menschen der Versuchung, ihre Werkzeuge zu überhöhen, ja ihnen mystische Eigenschaften anzudichten. Warum nicht auch der Software? Oft entsteht daraus eine Idealisierung, ja eine Vergöttlichung (Apotheose). Ich gebe zu, dass die obige Auflistung der Zitate aus dem Buch von Walter Hehl dem Autor gegenüber etwas unfair erscheinen mag. Sie soll jedoch verdeutlichen, welche Zumutung der Text für fachlich qualifizierte Leserinnen und Leser darstellt. Als jemand, der ein Berufsleben lang anderen Menschen zu erklären versuchte, was an Software anders ist als an anderen Werkzeugen, berührt es besonders, wenn Software derart überhöht wird. Es grenzt ja fast an Verklärung. 

PS. Das Kunstwort ‚Softwareismus‘ hat Google nur fünfmal gefunden, ausschließlich im Buch von Hehl. Ich möchte es daher als Neuschöpfung ansehen. Ob sie bestehen bleibt, d.h. seine Benutzung sich ausbreitet, wird sich zeigen. Eine sechste Nutzung wird erscheinen, sobald dieser Blog-Beitrag im Netz ist. Zum Vergleich: Physikalismus fand Google 20.400 Mal. Da ist noch Raum für Wachstum.

Montag, 14. März 2016

Warum es (wieder) als chic gilt, Russland und den USA zu misstrauen

Es scheint zurzeit zum guten Ton zu gehören, sich über zwei der größten Weltmächte aufzuregen. Im Falle Russlands und der USA zeigt dieses Misstrauen eine sehr interessante Ausprägung. Unser Verhalten liegt nicht nur daran, dass man sich lieber an den Großen reibt als an Kleinen. Wenn der stärkste Junge in der Nachbarschaft mal eine Abreibung bekommt, freut es einen. Auch in der internationalen Politik gibt es derartige Gefühle oder emotionale Konstellationen. Man misstraut dem Mächtigen und hegt Sympathie für den Kleinen, den Außenseiter (engl. underdog). China, Brasilien und Indien sind auch groß, spielen aber in unserer Aufmerksamkeit nur eine relativ untergeordnete Rolle. 

Soweit Vorurteile oder falsche Bilder dabei eine Rolle spielen, steht auch die Rolle der Medien zur Diskussion, besonders die der öffentlich rechtlichen Medien. Diese Diskussion hat viele Aspekte und gipfelt in dem von PEGIDA erhobenen Vorwurf der Lügenpresse. Dieser Vorwurf wurde zuletzt von den Nazis erhoben, und zwar während der Weimarer Zeit, d.h. vor ihrer Machtergreifung und der damit einhergehenden Gleichschaltung der Presse.

Zwei deutsche Journalisten haben sich in letzter Zeit dieser Problematik angenommen. Gabriele Krone-Schmalz (*1949) ist Professorin für Fernsehen und Journalistik in Iserlohn. Sie war zwischen 1987 und 1991 als ARD-Korrespondentin in Moskau tätig. Ihr Buch, das ich im Folgenden bespreche, heißt Russland verstehen. Es hat 176 Seiten und erschien 2016 in der 14. Auflage. Ein ähnlich motiviertes Buch über die USA stammt von Christoph von Marschall (*1959). Seit 2005 berichtete er als US-Korrespondent des Tagesspiegels, einer Berliner Tageszeitung, aus Washington. Seit 2012 gehörte er zum Presse Corps des Weißen Hauses. Seit 2013 lebt er in Berlin. Sein Buch heißt Was ist mit den Amis los?  Es erschien 2016 und hat 272 Seiten.

Eine Sicht auf Russland

Um das heutige Russland zu verstehen, führt uns Krone-Schmalz zurück in die Zeit der Präsidentschaft von Boris Jelzin. Der frühere Staatsbesitz wurde quasi mit Gewalt privatisiert. Nutznießer waren sehr wendige Unternehmer, die mit relativ wenig Geld zu großem Besitz gelangten. Sie werden als Oligarchen bezeichnet. Als Putin an die Macht kam, versuchte dieser diese Entwicklung zu bremsen.

Während seiner beiden ersten Amtszeiten (2000-2008) habe Putin nicht nur die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung, die Selbstachtung des Landes, sondern auch den Anschluss an den Westen betrieben. Putins Rede im Deutschen Bundestag im September 2001 (also kurz nach 9/11) habe genau dies zum Ausdruck gebracht. Er warb darin bereits für einen Eurasischer Wirtschaftsraum. Die Wende trat ein mit dem Georgienkrieg im Sommer 2008. Damals wurde, vor allem von amerikanischer Seite, die Aufnahme Georgiens und der Ukraine in die NATO gefordert. Nicht zuletzt dank deutscher und französischer Intervention wurde dieser Schritt in der NATO-Osterweiterung verhindert. Der ukrainische Präsident Juschtschenko brachte sogar die Schießung bzw. Blockade des russischen Schwarzmeerhafens Sewastopol ins Gespräch.

Im Jahre 2012 beginnt Putins dritte Amtszeit. Die Entwicklung in der Ukraine nimmt einen für Russland äußerst unangenehmen Verlauf. Ein Assoziierungsabkommen mit der EU wird verhandelt, in dem außer wirtschaftlichen auch politische und militärische Fragen angesprochen werden. Als der russland-freundliche Präsident Janukowytsch Ende 2013 die Ratifizierung verweigert, kommt es zu den Unruhen auf dem Maidan-Platz in Kiew. Ein im Februar 2014 unter anderem von Außenminister Frank Walter Steinmeier ausgehandelter Vertrag sah vor, zur verfassungsmäßigen Ordnung zurückzukehren. Dieser Vertrag wurde in der Folgezeit als nicht-existent behandelt. Nationalistische Kräfte übernehmen die Mehrheit in Parlament und Regierung. Russisch als zweite Amtssprache wird wieder abgeschafft. Obwohl die amerikanische Regierung sich offiziell zurückhielt, waren private Stiftungen umso aktiver. Präsident Obama verstieg sich schließlich zu einem diplomatischen Lapsus, indem er Russland als Mittelmacht bezeichnete.

Was folgte, war die Krimkrise sowie der Krieg in der Ukraine. Krone-Schmalz vertritt die Meinung, Putin habe auf der Krim in Notwehr gehandelt. Angela Merkel und die meisten westlichen Politiker sprechen von „völkerrechtswidriger Annexion“ der Krim. Krone-Schmalz zitiert einen Juristen namens Reinhard Merkel, der den Anschluss der Krim an die Russische Föderation als Sezession und nicht als Annexion ansieht. Das entspricht auch der russischen Position. Offensichtlich fand der Anschluss in der vorwiegend russisch-sprachigen Bevölkerung der Krim große Zustimmung: Nach Aussage von PEW-Research, einer amerikanischen Meinungsforschungsfirma, seien es sogar 91%. Der UN-Sicherheitsrat hat allerdings die russische Position nicht akzeptiert.

Aufgrund seiner Arroganz habe der Westen seine Chancen vertan, meint Krone-Schmalz. Außerdem kritisiert sie die westlichen Medien. Diese würden in der Ostukraine immer nur von den pro-russischen Separatisten reden. Dabei gäbe es zumindest drei verschiedene Gruppen: Föderalisten, die eine stärkere Dezentralisierung wünschten, Separatisten, die eine Selbständigkeit anstrebten und schließlich solche, die einen Anschluss an Russland wünschten. Warum Russland in Syrien interveniert, dazu hat Krone-Schmalz sich nicht geäußert, noch zu der Frage, wie Russland dort wieder herauskommt. Meine Interpretation der Staatsdoktrin Putins hatte ich in einem früheren Blogeintrag zusammengefasst.

Eine Sicht auf die USA

Laut von Marschall gibt es einen Seufzer, der uns Deutschen immer öfter entfährt, nämlich, dass die Amerikaner spinnen. Sein Buch beginnt mit der Auflistung einer Reihe von Vorurteilen. Interessant ist, was er zu Obama sagt. Dieser habe  ̶  wie kaum ein Präsident vor ihm  ̶  einen extremen Wandel in der Zustimmung erlitten. In Deutschland, weil er zu wenig geändert habe, in den USA, weil er zu viel geändert habe. Im ersten Falle war hauptsächlich die Außenpolitik gemeint, im zweiten Falle primär die Innenpolitik. Ich gehe im Folgenden auf zwölf der bekannteren Beispiele von Vor- oder Fehlurteilen ein. Von Marschall versucht klar zu machen, dass die von deutschen Medien und deutschen Politikern üblicherweise vermittelte Sicht nicht die einzig mögliche ist.
  • Fatale Rolle der Geheimdienste: Im Sommer 2013 machte ein temporär bei der NSA beschäftigter junger Mann (Edward Snowdon) deutlich, wie gründlich und umfassend amerikanische Geheimdienste die weltweite Telekommunikation überwachen. Sie übten keinerlei Nachsicht, auch nicht bei Verbündeten der USA. Der Aufschrei in deutschen Medien war groß. Frankreich und England fühlten sich nicht betroffen. Im Gegenteil, ihre Geheimdienste arbeiteten ganz ähnlich. Beide Länder hatten nämlich schlimme Terrorangriffe erlebt. Nur Deutschland war bisher verschont geblieben. Bei der deutsche Regierung hielt sich die Entrüstung in Grenzen. Die amerikanische Regierung machte nur geringfügige Korrekturen in ihren Methoden.
  • Andere illegale Maßnahmen nach 9/11: Die Regierung Bush hatte als Reaktion auf den ersten Angriff in der amerikanischen Geschichte auf das amerikanische Mutterland zweifellos überreagiert. Es folgte der Patriot Act mit der Einrichtung des Heimatschutz-Ministeriums. Im Falle des Irak reagierte man mit Kriegsrecht, obwohl die Beweislage nicht klar war. Über 800 Gefangene von dort und aus Afghanistan landeten in Guantánamo, einer Zone, von der man glaubte, dass amerikanisches Recht keine Anwendung finden würde. Dem hat der Supreme Court widersprochen. Er bestätigte lediglich den Status der dort einsitzenden Gefangenen als illegale Kombattanten und ließ für ihre Verurteilung Militärgerichte zu. Obama hatte in seinem Wahlkampf versprochen, Guantánamo aufzulösen. Dies gelang ihm nicht, weil das Parlament sich weigerte, die Prozesse in die USA zu verlegen. Noch befinden sich 116 Häftlinge dort, davon 45, die für eine für Freilassung vorgesehen sind.
  • Verzögerte Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung: Eine staatliche Pflicht, sich gegen Krankheiten und andere Risiken des Lebens zu versichern, wird von vielen Amerikanern als Eingriff in ihre Freiheit angesehen. Deshalb gab es heftige Widerstände, vor allem von Seiten der Republikaner, gegen Bill Clintons Pläne eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen. Obama hat dieses Projekt verwirklicht vermöge einer unglaublichen politischen Anstrengung. Der Effekt war, dass der Anteil Nicht-Versicherter von 15% auf 11,9% fiel.
  • Nicht überwundene Rassendiskriminierung: Die Erschießung schwarzer Jugendlicher durch weiße Polizisten ließ Rassenunruhen in mehrerer Städten aufflammen. Der Anfang war Ferguson, Missouri. Durch die Wahl Obamas zum Präsidenten war zwar der politische Fortschritt offensichtlich, die Gesellschaft als Ganze hinkt hinterher. Das bezeugen auch die Unzahlen von Gefangenen in amerikanischen Gefängnissen, bei denen es sich vorwiegend um Schwarze handelt. In den USA sitzen prozentual neun Mal mehr Gefangene ein als in Deutschland.
  • Romantischer Waffenkult: Nach jedem Amoklauf, besonders an Schulen, wird von Deutschen stets der private Schusswaffenbesitz generell in Frage gestellt. Während wir pauschal diskutieren, ist dies in Amerika verpönt. Der Waffenbesitz gilt als traditionelles Recht aller Bürger, an dem niemand zu rütteln wagt. Lediglich der bessere Schutz gegen Psychopathen wird gefordert.
  • Festhalten an der Todesstrafe: Die USA gehören zu den wenigen Demokratien, in denen noch die Todesstrafe verhängt und vollstreckt wird. Da es immer wieder zu Fehlurteilen kommt, sei davon auszugehen, dass im Laufe der Zeit immer mehr Bundesstaaten auf die Vollstreckung verzichten werden.
  • Verfilzung von Politik und Wirtschaft: In den USA ist das Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaft anders als bei uns. Eine erfolgreiche Laufbahn in der Wirtschaft gilt als beste Qualifikation für eine politische Aufgabe. Auch die guten Beziehungen zwischen Washington und der Wallstreet führten dazu, dass das Parlament die nach der Finanzkrise von 2008 verhängte Bankenaufsicht schnell wieder reduzierte.
  • Uneinheitliche Einwanderungspolitik den Lateinamerikanern gegenüber: Die USA haben eine lange Tradition als begehrtes Einwanderungsland. Die über die Landgrenze zu Mexiko erfolgende illegale Einwanderung hat ein Ausmaß angenommen, dass sie von vielen US-Amerikanern nicht mehr als verkraftbar angesehen wird. Es wird daher, vor allem von den Anrainerstaaten wie Texas, Arizona und Kalifornien, eine strengere Kontrolle verlangt.
  • Stümperhafte Außenpolitik, vor allem im Nahen Osten: Die amerikanische Außenpolitik unterliegt einem permanenten Dilemma. Sie soll überall auf der Welt Frieden und Fortschritt fördern, soll sich aber nicht einmischen. Am offensichtlichsten ist dies im Nahen Osten. So erwartet man Unterstützung für Israel und gleichzeitige Distanzierung von dessen Politik. Nach von Marschall sei für diese Politik die christliche Lobby genauso verantwortlich wie die jüdische. Keine von beiden könne das Hauptproblem lösen, das Fehlen friedenswilliger Partner.
  • Inkonsequente Abrüstungspolitik, insbesondere bezüglich atomarer Waffen: Die USA verfügen über einen Militäretat von nahezu 800 Mrd. US-Dollar pro Jahr. Dem standen im deutschen Bundeshaushalt etwa 33 Mrd. EU für 2015 gegenüber. In Rüstungsfragen ist Deutschland bestenfalls ein Trittbrettfahrer. Obama hatte zu Beginn seiner Amtszeit den Plan, in Abstimmung mit Russland, auf beiden Seiten den Bestand an Atomwaffen zu reduzieren. Inzwischen spricht davon niemand mehr. Dafür haben es die USA und Russland geschafft, den Iran von seinem Atomprogramm abzubringen.
  • Mangelndes Bewusstsein für Klima und Umwelt:  Die USA und China galten lange Zeit als die Bremser in der internationalen Klimapolitik. Inzwischen haben sie sich über den in Paris verabredeten Vertrag eingebunden. Ob der Vertrag vom US-Kongress auch ratifiziert wird, ist zu hoffen. Wir Europäer sind überrascht, wie bedenkenlos die USA ihre eigenen Öl- und Erdgasbestände durch Fracking abbauen. Das Land hat sich damit fast von Energie-Importen unabhängig gemacht.
  • Überbetonung der Vorteile des Freihandels: Als letzter Punkt, der uns Deutschen Kummer macht, sei an die noch laufenden Verhandlungen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) erinnert. In drei Ländern würde sehr emotional dagegen argumentiert: Österreich, Deutschland und Luxemburg. Es würde Angst geschürt wegen der Chlorhühnchen und der gierigen US-Anwälte, die per Schiedsgerichte europäisches Recht umgehen könnten. 

Mit einem beruhigenden und einen alarmierenden Punkt aus von Marschalls Buch will ich das Gesagte beenden. Im Vergleich zu Russland verfügen die USA über eine gewachsene demokratische Tradition, die es dem Lande gestattet sich immer wieder veränderten Situationen anzupassen. Das Land ist in der Lage, Fehler auch wieder zu korrigieren. Wir bräuchten daher keine Angst zu haben, dass die USA demnächst als Weltmacht verschwinden. Andererseits gäbe es in den USA immer wieder Leute, die der Einmaligkeit dieses Landes huldigen. Das sind die Anhänger des Exzeptionalismus. Sie meinen, dass ihr Land von Gott ausgewählt wurde, um allen Menschen eine Hoffnung zu geben (engl. as shining city on the hill). Vor solcher Selbsthypnose sollte man warnen.

Über uns selber

Meine Titelfrage hätte auch lauten können: Kann man Russland und den USA trauen? Dann wäre es vorwiegend darum gegangen, eine Erklärung dafür zu finden, ob es überhaupt Grund zum Misstrauen gibt, wer und was dieses Misstrauen ausgelöst hat, und was dagegen getan werden kann bzw. getan werden sollte. Um Antworten zu diesen Fragen zu erhalten, wären Zitate aus den beiden Büchern der Experten ausreichend gewesen. So wie der Titel jetzt steht, wird die Aufmerksamkeit auch auf uns selbst gelenkt. Er bringt zum Ausdruck, dass wir nicht nur einen vermeidbaren Fehler machen, sondern dass wir ihn sogar gerne machen. Anders ausgedrückt: Ach, das hätte mir eigentlich nicht passieren dürfen, aber siehe da, schon wieder ist es mir passiert. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Es ist manchmal schwer, emotionale Einstellungen durch rationale Überlegungen zu ersetzen. Für den einen Teil von uns Deutschen war Russland Jahrzehnte lang der Hort des Bösen, eine Bedrohung, die uns nicht schlafen ließ. Bei anderen waren die USA der Klassenfeind oder der selbst-ernannte Weltpolizist. Auf einmal, d.h. seit 1989 sollten sie es nicht mehr sein. Jetzt, d.h. seit 2003 (Beginn des Irakkriegs) bzw. 2008  (Georgienkrieg) tun beide wieder Dinge, die uns Mitteleuropäern nicht gefallen. Dabei kommen unterschwellig alte Ressentiments hoch.

Gabriele Krone-Schmalz wundert sich darüber, warum die Bezeichnung ‚Russlandversteher‘, der oft auf sie angewandt wird, fast ein Schimpfwort ist. Welches Bild unserer Gesellschaft drückt dies aus? Bei mir ruft es die Erinnerung wach an Zeiten, als das Abhören ausländischer Radiosender eine Straftat darstellte. Christoph von Marschall sagt nichts darüber, wie er sich vorkommt. Er konstatiert jedoch, dass es bei uns einen latenten Antiamerikanismus gäbe. Man kann dies aber auch als Anti-Atlantismus sehen, also einen Widerstand gegen die atlantische Wertegemeinschaft. Er kann zusammenhängen mit dem schwierigen Weg Deutschlands nach Westen, über den der Historiker  Heinrich August Winkler schreibt. Stärker als Russland haben mich immer die USA beschäftigt. In einem Beitrag vor zwei Jahren sprach ich die deutsch-amerikanische Hassliebe an. Diese bezöge sich einerseits auf die amerikanische Wirtschaft, aber auch auf die amerikanische Regierung, Ich verwies dabei vor allem auf die NSA-Affäre.

Wie mühsam es für Nationen ist, mit geänderten Situationen fertig zu werden, erleben wir gerade in der Flüchtlingskrise. Hier können uns weder die USA noch Russland eine Anleitung geben. Wir müssen als Land selbst damit fertig werden, ob mit oder ohne Unterstützung unserer Partner. Gemeint sind damit weniger Russland und die USA als die anderen EU-Mitglieder.

Montag, 7. März 2016

Sprachhandelnde in Kultur und Wissenschaft

Im SPIEGEL 9/2016 war eine Rede Martin Walsers (*1927) wiedergegeben, die dieser letztes Jahr in Bochum gehalten hatte. Sie bewog mich zunächst zu einem eher beiläufigen Kommentar. Nicht immer fände ich unseren 'Bundesoberautor' so treffend im Formulieren, schrieb ich an einige Kollegen. Einen Satz hob ich besonders hervor, da er eine aktuelle politische Kontroverse sehr schön auf den Punkt brachte:

Erinnern wir uns noch an die so genannten Experten, die Griechenland zurückschicken wollten in die Drachme.... Das ist Gott sei Dank, Merkel sei Dank, nicht gelungen.

Etwas überrascht war ich von der Überheblichkeit, mit der ein seiner sprachlichen Begabung bewusster Mensch sich über den Rest der Menschheit zu erheben scheint. Er ernannte den Sprachhandelnden, also Menschen wie sich, zum maßgeblichen Träger der abendländischen Kultur. Ich hätte Walsers Text bald wieder vergessen, hätte nicht mein Freund Peter Hiemann sich auch mit ihm befasst. Er hat die Rede gründlich studiert und schrieb:

Der heute 88-jährige Schriftsteller Martin Walser ist ein pragmatisch denkender  Zeitgenosse, der sich auf einen reichen Erfahrungsschatz beruft. Als Walser aufgefordert wurde, sich zum Thema „Herausforderung Zukunft“ zu äußern, entschloss er sich, die Perspektive eines 'Sprachhandelnden' einzunehmen. Walsers Gedanken zur derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland hat er in einem Essay unter dem Titel „Schaffen wir das? Ja.“ dargestellt. Persönliche Zukunftserwartungen beruhen auf der Basis existierender persönlicher Vorstellungen.und Fähigkeiten. Zukunftsprognosen für mögliche Entwicklungen von Persönlichkeiten, Bevölkerungsgruppen oder gesellschaftliche Institutionen sind immer ein Wagnis. Sie enthalten das Risiko, auf unzulässigen Projektion eigener Vorstellungen zu beruhen.

Es verwundert, wie Walser als 'Sprachhandler' die ihn umgebende Welt und deren menschliche Individuen sieht: „Wir sind in der glücklichen Lage, dass Deutschland durch seinen Überstieg ins  Europäische gegen manche genetisch deutsche Untugend geschützt ist.“ … „Zum Glück ist jeder, der von Natur aus auf Sprachhandlung angewiesen ist [wer ist das nicht?], ein natürlicher Gegner von Machtausübung jeder Art.“ … „Dieser Sprachgeist [europäischer Geschichte und Sprachen] hat viele Namen: Aufklärung, Toleranz, Humanität, ja sogar Demokratie.“ … „Gefragt sind jetzt Sprachhandlungen im Dienste der Vernunft [Walser verweist in diesem Zusammenhang auf Goethes Bewunderung für Mohammed, s.u.]. … „Die größte Herausforderung bei allem ist jedoch die Bildungsferne [der Fremden]. Ich konkretisiere: die Sprache.“ … „Die Sprache ist der Vorrat aller in einem Land möglichen Lebensqualitäten. [Lebensqualität manifestiert sich in gegebenen Möglichkeiten ökonomischer und kultureller persönlicher Entwicklungen].“  … „Erst wenn ihm [dem Fremden] unsere Sprache selbstverständlich geworden ist, lebt er menschenwürdig.“

Dass Walser das Wort 'Integration' furchtbar findet, deutet daraufhin, dass seine einschränkende sprachliche Sicht verhindert, den wesentlichen positiven Zweck von  Integrationsprozessen zu erfassen: Jeder Mensch erwirbt Vorstellungen und Handlungsfähigkeiten, die er benötigt, um als soziales Wesen 'funktionsfähig' zu sein. Gesellschaften, die Strukturen flexibel gestalten können, besitzen die Möglichkeiten, langfristig zu überleben. Denk- und Verhaltensweisen können revidiert werden, indem Integrationsprozesse durchlaufen werden, die in veränderten funktionsfähigen gesellschaftlichen  Beziehungen resultieren. Menschliche Sprachen sind sowohl Kommunikationsmittel, um gesellschaftlich relevante Wechselwirkungen zu bewerkstelligen, als auch Ausdrucksmittel, um geistigen Vorstellungen  Ausdruck zu verleihen.

Walser verweist in seinem Essay kaum auf derzeit gefragte 'vernünftige' Vorstellungen hinsichtlich individueller und internationaler gesellschaftlicher Beziehungen. Ich finde, dass der verantwortliche Spiegelredakteur für Walsers Essay eine zwar für Walsers Ansicht treffende aber fragwürdige Überschrift „Die Sprache entscheidet alles“ gewählt hat. Im Übrigen lag es mir fern, Walsers persönliche Ansichten über existierende Persönlichkeiten oder Institutionen zu kommentieren.

Walsers Hinweis auf Goethes Bewunderung mohammedanischer Vorstellungen lässt vermuten, dass auch Walser deterministische Vorstellungen vertritt. Das Zitat aus dem Artikel in der
NZZ lautet: „War Goethe ein Mohammedaner?: „Die «geistige Tugend», die Goethe mit dem Islam vor allem verband, war seine Neigung zum Determinismus, zum Glauben an ein durch Gott vorbestimmtes Schicksal, denn «Zuversicht und Ergebung» seien «die echte Grundlage jeder besseren Religion“.




Gefiederte Schlange

Schon bei früherer Gelegenheit hatte ich darauf hingewiesen, dass ich zwar die Rolle der Sprache für Kultur und Zivilisation für sehr wichtig halte, dass sie aber nach meiner Meinung oft überbetont wird. Die nicht-sprachbasierte Kultur zu leugnen oder gering zu schätzen, halte ich inzwischen für gefährlich. Diese Gefahr zeigt sich in den Folgen, die sich daraus insbesondere für Wirtschaft und Gesellschaft ergeben.


Wort- oder Buchreligionen

Die Mythen der Bibel und damit auch ihre alttestamentliche Schöpfungsgeschichte gehören zum gemeinsamen Überlieferungsstoff dreier Weltreligionen. Mohammed, ihr jüngster Gründer, spricht von den drei Buchreligionen. Er betont damit zwar die Form ihrer Überlieferung, nämlich ein in Buchstaben geschriebener Text. Das Johannes-Evangelium fasst es am prägnantesten zusammen:

Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.

Dieses Zitat gab immer wieder Theologen aller Konfessionen Anlass für Predigten.  Einige berühmte Dichter und Philosophen haben sich auch damit beschäftigt. So lässt Goethe den Faust (Teil I, Kapitel 6) grübeln:

Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

Ich will weder mit der Bibel noch mit Goethe in Konkurrenz treten. Ein paar weltliche Gedanken seien trotzdem erlaubt. Der monotheistische Herrschergott noch seine Priester hatten es nötig, selbst Hand an die realen Dinge zu legen. Vielfach lebten sie von Spenden, auch Opfer genannt. Ein Wort als Beschwörung gesprochen genügte, und die irdischen und überirdischen Dinge gehorchten. Es passierten laufend sogar Sachen, die wir heute als Wunder bezeichnen. Eine Theologie ohne Worte kann man sich nicht vorstellen. Auch in alten Gesellschaften hörte alles auf das Wort  ̶  oder besser gesagt – den Befehl, die Kamele des Beduinen, die Frauen des Paschas und die Sklaven des Grundbesitzers. Viele Kirchenleute und Demokraten störten sich nicht an der Sklaverei, vielerorts bis ins 19. Jahrhundert hinein.


Predigender Maya-Priester

Bücher gehörten lange zum wertvollsten Besitz einer Familie. Nur Klöster und Fürstenhäuser konnten sich Bibliotheken voller Bücher leisten. Dank Gutenbergs Kunst sank ihr Wert kolossal. Sie kamen auch unter das Volk. Luthers Reformation zog großen Nutzen daraus. Heute sind sie quasi kostenlos zu beziehen und zu speichern. Alle Buchreligionen können davon profitieren und tun es wohl auch.

Dem Naturwissenschaftler Faust kam die Rolle, die Worte als solche spielen  ̶  also die Kategorie Wort  ̶   wohl als längst überholt vor. Er dachte eher an konkrete Begriffe wie Kraft und Energie. Im modernen Weltbild sind sie zwar zentral. Sie befriedigten ihn aber nicht. So wie vieles in der Physik handelt es sich auch bei ihnen um Abstraktionen. Sieht man auch das soziale Leben als relevant an, dann sind diese Begriffe (d.h. die beiden Worte, in physikalischer oder anderer Bedeutung) teils unpassend, teils gefährlich. Sowohl Kraft wie Energie sind nur Möglichkeiten. Sie können ungenutzt bleiben. Nur der Tatmensch, der mit ihrer Hilfe etwas schafft, zählt. Er gibt sich mit dem Vorgefundenen nicht zufrieden. Er setzt die Welt in Bewegung (siehe unten).

Real- und Verbalwissenschaften

Es war der englische Lord Percy Snow (1905-1980), der darauf aufmerksam machte, dass ein Teil seiner Zeitgenossen es vor 60 Jahren als bequem empfand, dem überholten Weltbild der Antike weiter anzuhängen. Höflich wie er war, bewertete er nicht, sondern sprach nur von zwei unterschiedlichen Kulturen. Er wollte keine Seite schlecht erscheinen lassen, sondern verwies lediglich auf die erheblichen Unterschiede. Was mit der ersten und eigentlichen Kultur gemeint war, brauchte er niemandem zu erklären. Die Überraschung, ja das Unerhörte war, dass er der Naturwissenschaft und Technik den Status einer Kultur einräumte. Außerdem bemängelte er, dass die Qualität der Bildung weltweit im Niedergang sei. Der Zusammenbruch der Kommunikation zwischen den zwei Kulturen sei eines der Haupthindernisse, die Probleme der Welt zu lösen. Von Standes- und Zeitgenossen wurde er heftig bekämpft.

Eine ähnliche Argumentation wie Lord Snow verfolgt in unseren Tagen der Biologe Ulrich Kutschera (*1955). Er unterscheidet zwischen Realwissenschaften einerseits und Verbalwissenschaften andererseits. Seine formelhafte Aussage lautet Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen Sinn außer im Lichte der Biologie. Mit seinem Bestreben nach einer „Einheit des Wissens“ auf Basis der Biologie vertritt er die von Edward Wilson vertretenen Positionen. Diese werden  ̶  leicht abfällig  ̶  als Szientismus bezeichnend. Kutscheras oben zitierte Formel ist eine Anspielung auf den Satz: „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution“. Dieser Satz zählt heute zu den geflügelten Worten dieser Wissenschaft. Er stammt von dem Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky (1900-1975). Der Satz besagt nicht, dass evolutionäre Prozesse an sich sinnstiftend seien. Vielmehr können biologisch relevante Wechselwirkungen evolutionär wirksam zu sinnvollen Resultaten führen. Es wird von vielen der Biologie nahe stehenden Personen angenommen, dass geistig relevante Wechselwirkungen ihrerseits zu sinnvollen Resultaten führen können, besonders dann wenn geistige Vorstellungen für die Sinngestaltung wirksam werden.



Doppelköpfiger Jaguar als Opfertisch

Ich möchte besonders auf den geradezu epochalen Reduktionsprozess hinweisen, der hinter den beiden obigen Formeln steckt. Reduziert Kuschera alle nicht realen Wissenschaften auf die Biologie, so reduziert Dobzhansky die Biologie auf die Evolution. Zur Entschuldigung wird man eines fernen Tages vielleicht sagen, dass dieser Schritt unvermeidlich war. Auch die Physik musste ihn gehen, als sie nicht mehr länger als Teil der Philosophie betrachtet sein wollte.

Worte versus Bilder und Zahlen

Von dem berühmten und erfolgreichen britischen Physiker Lord Kelvin (1824-1907) stammen nicht nur berühmte Erfindungen, sondern auch viele kluge Zitate. Zu den bekannteren gehören die Sätze: „To measure is to know" und "If you can not measure it, you can not improve it". Schon vor 150 Jahren war ihm klar, dass echtes Wissen und technischer Fortschritt auf der Erfassung und Analyse empirischer Daten beruht. Er sagte dies für solche Kollegen, die ihr Wissen am liebsten aus alten Texten bezogen, bevorzugt denen der antiken Griechen. Nur wer beobachtet und misst, betreibt Wissenschaft, so Lord Kelvins Botschaft.

Es ist kaum zu glauben. Auch heute noch werden empirisch gewonne Daten (Zahlen, Grafiken und Bilder) in wissenschaftlichen Publikationen geradezu stiefmütterlich behandelt. Auf ein aktuelles Beispiel stieß ich dieser Tage. Bei der APE2016 im Januar in Berlin forderte der Eröffnungsredner (der Mediziner Barend Mons)  ̶  allerdings mit wenig Hoffnung auf Erfolg  ̶  dass man die einem Artikel zugrunde liegenden Daten nicht länger als Anhängsel eines Artikels (engl. supplementary material) betrachten sollte, das in Schubladen verschwindet, sondern als zum Text gleichwertiges Material, das einer systematischen Archivierung zugeführt wird. Die Daten seien schließlich das, was die Wissenschaft bräuchte und weiterverarbeitete, und nicht die nachträglich dazu erdichteten Texte. Offensichtlich dachte der Redner dabei nicht an Patentschriften, in denen immer Skizzen ein wichtiger Bestandteil sind.

Kreative Berufe oder dritte Kultur

Künstler haben viele Möglichkeiten sich auszudrücken. Ai Weiwei (*1957)  aus China nennt sich Konzeptkünstler, Bildhauer und Kurator. Christo (*1935) wurde bekannt, als er das Reichstagsgebäude in Berlin verhüllte. Es gibt viele andere so genannte gestaltende Künstler. Keiner von diesen sagt, dass sie sich auch im Medium Sprache, also mit Prosa oder Lyrik, im selben Maße ausdrücken könnten.

Anders ist es in weiten Teilen der Wissenschaft. Heute gilt derjenige als hoffnungsvoller Nachwuchs, der viele textuelle Publikationen hat. Bei einem Architekten, Musiker oder Maschinenbauer ist man schon eher geneigt zu fragen, was hat er vollbracht, bzw. gebaut oder entwickelt und nicht, was hat er für Texte verfasst. Selbst die nach Theologie und Philosophie einzige andere aus dem Altertum übrig gebliebene Wissenschaft reduzierte sich nicht auf Worte (oder Verbales). Ich meine die Medizin. Sie misst ihre Leistungen anders, sowohl die des Fachs als Ganzes wie die einzelner ihrer Vertreter.



Kaktus-Gottheit der Maya

Auch der Ingenieur und Informatiker spricht primär durch seine Produkte und Dienste, nicht durch seine Worte und Texte. Künstler, Ärzte, Ingenieure und Informatiker kann man daher weder zu den Real- noch zu den Verbalwissenschaftlern (im Sinne Kutscheras) rechnen. Auch Landwirte und Tierzüchter geben sich nicht mit dem Vorgefundenen zufrieden. Sie alle wollen die heutige Realität verändern, mal verbessern, mal reparieren. Alle diese Berufe stellen demnach eine dritte Form von Kultur dar. Wären wir uns dessen bewusst, würde bestimmt Einiges in der Ausbildung unseres Nachwuchses anders gewichtet.

PS: Die Bilder im Text sind Kopien von Tuschezeichnungen, die ich 1972 beim Besuch der Maya-Ruinen von Uxmal in Yucatan erwarb,

Samstag, 5. März 2016

Erasmus-Semester in Barcelona ̶ Abschlussbericht

Meine Enkeltochter, die in Stuttgart Elektrotechnik studiert, verbrachte das WS 2015/16 an der Universitat Polytécnica de Cataluña (UPC) in Barcelona. In einem ersten Bericht im Oktober 2015 hatte sie ihre anfänglichen Eindrücke geschildert. Hier ist der angekündigte Rückblick.

Studium und Prüfungen

Wie bereits im ersten Bericht dargelegt, habe ich an drei Vorlesungen teilgenommen. Alle diese Vorlesungen habe ich erfolgreich absolviert. Die Anmeldung zu den Vorlesungen konnten in den ersten beiden Wochen noch geändert werden, danach war es verpflichtend und gab es keinen Schwund an Studenten mehr. Ganz anders als an der Uni Stuttgart, an der bei den Vorlesungen keine Anwesenheitspflicht herrscht und die Prüfung am Ende des Semesters der einzige Leistungsnachweis ist. Die Prüfungen werden erst in der Mitte des Semesters angemeldet und können eine Woche vorher noch abgemeldet werden. Entsprechend würde ich den Schwund an Studenten dort höher einschätzen.

Die Prüfungen an der UPC waren auf eine Bearbeitungsdauer von drei Stunden angesetzt. Verlangt waren alle Aufgaben. In der Prüfung durften wir  ̶   wie auch aus Stuttgart gewohnt  ̶   alle Hilfsmittel außer Kommunikationsgeräte benutzen. Am meisten halfen hierbei die Notizen, die eigenhändig während der Vorlesung angefertigt wurden. Ein klassisches Skript gab es nicht und die PowerPoint-Folien der Professoren dienten lediglich als Gedächtnisstütze. Wer während der Vorlesung kaum aufgepasst hat, hatte bei der Prüfung schlechte Karten. Die meisten Prüfungen wurden sehr schnell korrigiert, bereits nach zwei Wochen bekamen wir die Ergebnisse. Dies ist mit Sicherheit auch auf die geringe Anzahl an Studenten pro Vorlesung zurückzuführen. In Stuttgart darf man je nach Beliebtheit und Art der Vorlesung an die zwei Monate auf die Ergebnisse warten. Die Benotung in Spanien erfolgt auf einer Skala von 0 bis 10 Punkten. Zusätzlich erhält jeder Student eine Rückmeldung, wie er im Vergleich zu den anderen Studenten abgeschnitten hat. Die Noten der anderen Studenten waren nicht in jeder Vorlesung einsehbar. Die Umrechnung in das Süddeutsche Notensystem wird mit der sogenannten Bayerischen Formel durchgeführt.


Bayerische Formel: Anerkennung von Prüfungsleistungen an der Uni Stuttgart (Rechnung von der Seite des Internationalen Zentrums (IZ) der Uni Stuttgart: http://www.ia.uni-stuttgart.de/asb/faq/docs/Bayerische_Formel.pdf)

Die Anerkennung erfolgt anschließend durch den Prüfungsausschuss des Studienganges. Ich gehe davon aus, dass ich zwei der Vorlesungen sicher anrechnen lassen kann. Die Anrechnung der dritten Vorlesung (IBSM) ist noch unklar und bedarf einer ausführlichen Rücksprache mit dem Prüfungsausschuss.

Ergänzende Vorlesungen in Stuttgart

Parallel zu den Vorlesungen an der UPC in Barcelona habe ich drei Vorlesungen an der Uni Stuttgart belegt, um dort den Anschluss zu behalten. Ich habe mir dabei bewusst Vorlesungen ausgesucht, zu denen Aufzeichnungen oder Live-Streams angeboten werden, sodass ich an diesen bequem aus Spanien teilnehmen konnte. Ich habe an den Vorlesungen Automatisierungstechnik 2 (IAS), an Softwaretechnik 2 (IAS) und an Stochastische Signale (ISS) teilgenommen. Bei der Vorlesung  Stochastische Signale des Institutes für Signale und Systeme (ISS) handelt es sich um eine Grundlage für viele weitere Vorlesungen des ISS, die ich im kommenden Sommersemester belegen möchte. Deshalb waren mir das erfolgreiche Absolvieren und die Teilnahme an dieser Vorlesung besonders wichtig. Dass die Prüfungszeit an der Uni Stuttgart einen Monat nach der an der UPC begann, kam mir dabei sehr gelegen. Die Prüfungstermine wurden gut entzerrt und dadurch die Lernzeit deutlich entspannter als für gewöhnlich, wenn man für dieselbe Anzahl an Prüfungen einen kleineren Zeitraum hat.

Stadt, Kultur und Leute

Die größten Umstellungen von Spanien auf Deutschland waren selbstverständlich die Sprache und die Umgebung. Ich musste mich erst wieder daran gewöhnen, dass alle Menschen um mich herum deutsch sprechen. Gerade in den ersten Wochen war das sehr ungewohnt. Weniger Gewöhnungszeit bedarf die Umstellung, nicht mehr in einer Großstadt zu leben. Ich habe mich schon auf die Ruhe auf dem Land gefreut, doch ich vermisse auch die tollen Möglichkeiten, die Barcelona als Stadt geboten hat. Direkt um die Ecke konnte ich alles kaufen, was ich brauchte und ich war nur eine Straße vom Platz des Geschehens, der Rambla entfernt. Nach nur wenigen Gehminuten war man mitten im Geschehen und irgendetwas hatten die Katalanen immer zu feiern. Natürlich war auch die Temperatur eine Umstellung. Zwar ist es ein milder Winter in Deutschland, doch Barcelona konnte das mit fast 20°C im Januar noch toppen. Wer kann schon von sich behaupten, im Januar im Mittelmeer gebadet zu haben? Mein Eindruck bezüglich den Katalanen hat sich im Vergleich zu meinem ersten Erfahrungsbericht nicht verändert. Sie sind deutlich kontaktfreudiger als die Deutschen, aber vielleicht nicht ganz so sehr wie die Spanier. In Barcelona muss man auf jeden Fall bei den vielen Taschendieben und Trickbetrügern aufpassen. Besonders, wenn man mit dicken Koffern gerade vom Flughafen kommt und wie ein typischer Tourist aussieht.

Ausflüge und Reisen

Wenn man die Möglichkeit hat, für ein halbes Jahr in einer fremden Stadt in einem fremden Land zu leben, dann ist dies die perfekte Gelegenheit, möglichst viel von der Stadt und der Umgebung mitnehmen. Auf diese Weise kann man ebenfalls viele neue Leute kennenlernen oder die Beziehung zu den Kommilitonen stärken. Während meines Aufenthaltes in Barcelona habe ich viele Ausflüge unternommen. Von einigen davon, habe ich bereits im ersten Erfahrungsbericht erzählt. Montserrat, Girona, Sitges und Tarragona würde ich jedem, der sich in der Region aufhält und etwas Zeit mitbringt, dringend empfehlen. Am Ende des Semesters nach den Prüfungen bot sich mir durch die freie Zeit die Gelegenheit, zusammen mit zwei Kommilitonen eine zweitägige Rundreise durch Nordkatalonien zu unternehmen.

Für die Reise haben wir uns ein Auto am Flughafen gemietet und früh morgens ging die Reise los. Auf der Karte 1 ist unsere Fahrtstrecke vom ersten Tag zu sehen.


Karte 1: Erster Tag

Von Barcelona aus sind wir direkt nach Vic gefahren. Vic ist bekannt für seine Kathedrale mit den Wandmalereien und seinen Marktplatz, der von Gebäuden aus der Barockzeit eingeschlossen ist. Es war sehr schön, die Stadt im Sonnenaufgang zu besichtigen und zu sehen, wie das Leben dort langsam erwacht.



Bild 1: Der Marktplatz von Vic

Nach dem morgendlichen Aufenthalt in Vic, sind wir zum Frühstücken zu dem Stausee Pantà de Sau gefahren. Als wir dort ankamen, hing ein dicker Nebel über dem Wasser, sodass man leider kaum etwas sehen konnte. Anschließend ging es hinauf in die Berge. Rupit i Pruit und Tavertet waren unsere Ziele.



Bild 2: Rupit

Nach einem Mittagessen direkt am Abgrund von Tavertet, fuhren wir zu dem „Dorf über dem Abgrund“ Castellfollit de la Roca. Es begann bereits zu dämmern.



Bild 3: Castellfollit de la Roca

Es war schon dunkel, als wir in Besalú und Banyoles ankamen. Von Kataloniens größtem See konnten wir daher leider nicht viel sehen. Umso schöner war es in Besalú. Auf einem Platz hat ein kleines Streichorchester gespielt und die Katalanen haben dazu ihren Volkstanz getanzt. Die dadurch erzeugte Stimmung war unglaublich.


Bild 4: Der katalanische Volkstanz

Am Ende des Tages kamen wir erschöpft aber glücklich in unserer Unterkunft in Figueres an. Wir ließen den Tag mit einer kleinen Stadterkundung ausklingen.



Bild 5: Dali-Museum in Figueres

Am nächsten Tag brachen wir nach einem guten Frühstück in unserem Hostel auf. Unsere Reiseroute für den zweiten Tag, kann er folgenden Karte entnommen werden.



Karte 2: Zweiter Tag

Unser erster Halt an dem frühen Morgen war „das weiße Dorf“ Cadaqués am Cap Creus. Wir waren von der Schönheit dieses Anblickes überwältigt. Nach einem Rundgang am Meer entlang, gingen wir in der Nähe von Cadaqués, am Leuchtturm von Cap Creus wandern. Die Gebirgsformationen und die Aussicht waren den beschwerlichen Aufstieg wert.



Bild  6: Cadaqués

Danach ging es weiter nach Empúriabrava und Empúries. Empúriabrava wird auch „das katalanische Venedig“ genannt, da er von vielen Kanälen durchzogen wird. Auch reiht sich dort eine Villa an die nächste, wodurch einem der Blick auf die Kanäle mit den angrenzenden Villen und Yachten einen atemberaubenden Anblick bietet. Nach der Besichtigung der Stadt traten wir die Heimreise die Costa Brava hinunter mit Zwischenstopps in Tossa del Mar und Lloret del Mar an. Lloret del Mar war von allen Städten, die wir auf unserem Nordkatalonien-Trip kennenlernen durften, die belebteste. Wir kamen erst sehr spät dort an, es war bereits dunkel, doch die Gassen und Geschäfte waren noch mit viel Leben gefüllt. Schließlich gehört Lloret del Mar auch zu einem der bekanntesten Touristenziele an der Costa Brava.

Nochmals: Stadt Barcelona

In Barcelona gibt es unzählige Angebote an Stadtrundgängen. Ich habe zusammen mit einigen Kommilitonen an einer Gaudi-Führung von FreeCityTours teilgenommen. Unser Führer konnte uns alle mit der Begeisterung für Gaudi und dessen Zeit und Werke anstecken. Gaudi hat in Barcelona nicht nur die Sagrada Familia und die Gaudi-Häuser entworfen. Sein erstes Großprojekt wird alltäglich gesehen, aber durch den unwissenden Betrachter nicht direkt als Kunstwerk wahrgenommen: Die Pflastersteine am Passeig de Gracia. Während unserer Tour haben wir diese auch genauer unter die Lupe genommen und konnten viele Merkmale entdecken, die die damalige Zeit widerspiegelten. Generell lässt sich der Modernisme in der Architektur an drei Merkmalen erkennen: Eisen, Drachen und Natur.

Persönliches Fazit

Der Auslandsaufenthalt hat mir sehr gut gefallen. Ich kann es wirklich jedem nahelegen, so etwas auch einmal zu machen. Ich habe unglaublich viele Erfahrungen gesammelt und ein besseres Gefühl für fremde Kulturen und Menschen bekommen. Man muss dafür natürlich eine ganze Menge an Organisationsarbeit auf sich nehmen und wie bereits im ersten Bericht bemängelt, bekam ich dabei nicht besonders viel Hilfe. Nun hoffe ich, dass die Anerkennung meiner an der UPC absolvierten Leistungen klappt, sodass ich durch den Auslandsaufenthalt kein Semester verliere.

Nach meinem Auslandssemester wurde ich von meiner Stuttgarter Betreuerin u.a. gefragt, ob ich mich nun mehr als Europäerin fühle. Das konnte ich mit einem klaren „Ja“ beantworten. Ich habe sehr viele Menschen (überwiegend Studenten) unterschiedlicher Länder und Kulturen kennengelernt. Ich hatte vermehrt Kontakt zu anderen Erasmus-Studenten und da war der gemeinsame Gedanke an ein Europa das, was uns verbunden hat. Wir sind alle Europäer und ich hoffe, dass diese Gemeinschaft bestehen bleibt.