Der
stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlags Christoph Keese erklärte uns in
seinem im Jahre 2014 erschienenen Buch Silicon Valley ̶ Was
aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, wie wichtig es ist
nach Kalifornien zu schauen. Ich fand sein Anliegen berechtigt und empfahl in
einem Blog-Beitrag von 2014, sich mit
seinen Ideen auseinanderzusetzen. Keese hat Mitte 2016 ein neues Buch
vorgelegt. Es heißt Silicon Germany - Wie wir die digitale Transformation
schaffen. Wie zu erwarten,
macht er eine Art Bestandsaufnahme. Ich kann auch dieses Buch nur empfehlen. Im
Folgenden gehe ich auf einige Punkte ein, die mich überraschten oder
beeindruckten.
Bereits
erfolgte Anpassungen
Keese
rückt inzwischen von seiner Aussage ab, dass Deutschland die Digitalisierung
generell verpasse. Nicht nur wallfahrten ganze Unternehmergruppen durch das Silicon
Valley, auch gäbe es einige mutige Leute, die den Wandel ernst nähmen. Digitalisierung
sei längst kein Fremdwort mehr. Es ist zum Mantra von Experten und Beratern geworden.
Ganz zufrieden ist Keese jedoch bei weitem nicht.
Was ihm
Grund zur Hoffnung gegeben habe, sei die Lernfähigkeit gewesen, die viele deutsche Unternehmen zeigten,
als es galt, Japans Detailgenauigkeit und Fehlerresistenz bei der Produktion nachzuahmen. So hätte zum Beispiel Porsche nicht nur Japans Stand erreicht,
sondern längst weit übertroffen. Dass es heute nicht mehr um die Verbesserung
von Produktionsmethoden gehe, hätten alle die Firmen verstanden, die sich
Startups im Silicon Valley, Berlin oder Shanghai zulegten. Dass da Firmen wie
Daimler und Siemens dazu gehörten, sei schon beachtenswert. Er habe allerdings
Zweifel, welcher Grad an Entschlossenheit überall dahinterstecke. Keese erwähnt,
dass die Deutsche Bundesbahn allein 260 Digitalisierungsprojekte habe. Auch da
ist unklar, was diese Zahl bedeutet.
Dass
sein eigenes Unternehmen, der Axel Springer-Verlag, längst vom Jammern zum
Handeln übergegangen ist, überraschte mich. Keese vermeidet es, damit übermäßig
zu prahlen. Es wurden Akquisitionen getätigt, die sich bald auch auf die Struktur
des Konzerns auswirken werden. Als Beispiele erwähnt werden das Preisvergleichsportal
Idealo, der Prospektdienst KaufDA und die Jobbörse StepStone. Bezeichnend ist, dass im Jahre 2015 bereits
2/3 des Konzernumsatzes und 3/4 des Gewinns aus dem Internet kamen. Da mag
Einiges schöngerechnet worden zu sein. Beachtlich ist es auf jeden Fall. Auch
SAP, Siemens und die Telekom hätten jede mehrere Startups aufgekauft. Besonders
ausführlich befasst er sich mit dem Heizungsbauer Viessmann, einem Mittelständler
aus Allendorf in Hessen. Von ihm seien demnächst intelligente Steuerungssysteme
höchster Perfektion zu erwarten.
Weiterer
Nachholbedarf
In der
deutschen Industrie herrsche immer noch das Denken von Maschinenbauern. So
gestand es ihm einer seiner Gesprächspartner. Diese dächten zu sehr in Einzelprodukten.
Sie betrachteten ihre Geräte als autarke Systeme. Sie hätten nicht gelernt sie
zu vernetzen. Ein Beispiel sei für ihn der Mähroboter von Bosch. Er habe weder
eine akzeptable Benutzerführung, noch sei er mit dem Internet verbunden.
Die hohe
Spezialisierung bringe uns derzeit Fortschritte bei isolierten Produkten. Wir
hätten vertikal integrierte Produkte vervollkommnet und hätten vertikale Netze
optimiert. Wir müssten die horizontale Vernetzung erst lernen und erproben. Ein
Experte befürchtete, dass Deutschland zu einem zweiten Shenzhen verkommen
könnte. Wir könnten zwar weiterhin gute Qualität abliefern, würden aber immer
mehr von außen gesteuert. Nur bei Datenschutz und Datensicherung führend zu
sein, reiche nicht aus.
Mögliche
falsche Schlussfolgerungen
Der
derzeitige Erfolg der deutschen Wirtschaft biete auch Gefahren. Es sei
fraglich, ob es richtig sei, immer neue Funktionen ins Auto zu integrieren, vor
allem dann, wenn es Funktionen sind, die auch außerhalb des Autos sinnvoll
sind. Es gibt heute bereits viele ältere Menschen, die ohne Auto auskommen
müssen (ich gehöre auch dazu) und junge Menschen, die ohne Auto auskommen
wollen (wie meine Enkel). Verbraucher mit Autofahrern gleichzusetzen, kann vor
allem im hochmütigen Autoland Deutschland zu Fehlschlüssen führen.
Während
Keese es als Außenstehender wagt der Autoindustrie unangenehme Wahrheiten zu
sagen, scheint Betriebsblindheit vorzuherrschen, wenn es um die eigene Branche,
das Verlagswesen, geht. Nur so kann ich es mir erklären, dass er in dem eBook-Lesegerät
Tolino einen Erfolg sieht. Ich erinnere mich zwar
an die Publicity beim Start des Projekts vor Jahren, hatte es aber vollkommen
aus dem Auge verloren. Keese berichtet, dass Tolino seine Ziele voll erreicht
habe, da es 2015 einen Marktanteil von 45% erreicht habe, und zwar vor Amazons
Kindle mit 39%. Das erinnert mich an ein eigenes Aha-Erlebnis. Als die Minis
von DEC als Konkurrenz zu IBM-Großrechnern im Markt erschienen, gab es in einem
bestimmten Jahr rund 100 Situationen, wo es zum Wettbewerb kam. IBM gewann in
90% der Fälle. Man glaubte also unbesorgt sein zu können. Erst wenn man in
Betracht zog, dass DEC in dem betreffenden Jahr über 1000 VAX-Systeme verkauft
hatte, sah das Bild ganz anders aus. Mit andern Worten, es ist ein riesengroßer
Fehler, den Markt für Lesegeräte mit Kindle gleichzusetzen. Ich lese auf meinem
Tablet zwar etwa 10 Bücher pro Monat, schaue aber auch Fotos bei Flickr und
Filme bei YouTube an – ganz zu schweigen von den TV-Sportübertragungen.
Mangelnde
Infrastruktur
Nach
seiner Rückkehr aus Kalifornien, empfand Keese Mitleid mit seinen eigenen Kindern.
Statt in einer aktiven und anregenden Moderne müssten sie in einer Art von
Technik-Museum des 20. Jahrhunderts aufwachsen. Alles Neue werde dort importiert.
Wir Deutschen lebten in einer mechanischen, vergangenen Welt und liebten sie. Die Berufe,
die seinen und auch unseren Kindern offen stehen, seien im Vertriebs- und
Service-Bereich für importierte Produkte. Überspitzt gesagt, es sei der Ticketverkauf
im Technik-Museum, der als Job verbliebe.
Kommt
die deutsche Industrie bei Keese mit einem blauen Auge davon, erstreckt sich
dies nicht auf den Bildungsbereich. Er hält das Wissen, das an Unis gelehrt
wird, meist nicht mehr für aktuell. Es würde zu sehr das Spezialistentum
(Silos) ohne Nutzererfahrung und Brückenfunktion angestrebt. Die Fehlervermeidung
(Nulltoleranz) stehe höher im Kurs als das Ausprobieren. Amerikaner würden
zeigen, dass man gut sein könne trotz Fehlern. Auch Scheitern ist als Erfahrung
wertvoll.
Für
deutsche Ingenieure spielten Geschäftsmodelle keine große Rolle, meint Keese. Ich
darf hinzufügen, dass es für Informatiker nicht viel besser aussieht (siehe meinen
entsprechenden Blogbeitrag). Ohne Schulung in
Geschäftsmodellen würden Ingenieure es in Zukunft schwer haben. Um Innovationen
zu erkennen und zu ermöglichen, seien Geschäftsmodelle sehr wichtig. Er
verweist auf den Business Model Navigator von Oliver Gassmann (St. Gallen). Darin werden 55 Modelle
vorgestellt. Gründer von Startups liebten es, mit Geschäftsmodellen zu spielen.
Es käme darauf an, Menschen mit Produktideen zu begeistern.
Politische
Glaubensbekenntnisse
Es
fehle nicht an Glaubensbekenntnissen deutscher Politiker, wenn es um die Digitalisierung
geht. Sigmar Gabriel hat gefordert, dass Deutschland außer der Produktion von
Gütern auch Plattformen anbietet. EU-Kommissar Günther Oettinger fordert
Gigabit-Netze in ganz Europa. Mit Recht weist er darauf hin, dass das von
deutschen Banken als Gegenmittel gegen PayPal konzipierte System PayDirekt schon
mit dem 'k' im Namen zeigt, dass man nur an Deutschland dachte. Peter Altmaier,
der Kanzleramtsminister, meint der Staat solle vorausschauend handeln bei
selbstfahrenden Autos und Drohnen. Bundesinnenminister Heiko Maas hat 13 Punkte
formuliert, die beachtet werden sollen. Die Frage ist, wie weit es bei solchen Lippenbekenntnissen bleibt, oder
ob konkrete Taten folgen.
Nicht
gut findet es Keese, dass die Zuständigkeit für die Digitalisierung auf vier Ministerien
(Dobrindt, Gabriel, de Maizière, Maas) verteilt ist. Ob ein
Bundes-Internet-Minister eine Lösung darstellt für ein Problem, für das die
Bundesbahn 260 Projekte braucht, darf hinterfragt werden.
Ist
Berlin wirklich der ideale Standort des Wandels?
Bei der
starken Verbundenheit, die das Unternehmen Axel Springer zur Stadt Berlin hat,
wundert es kaum, dass Keese Berlin gerne in einer Führungsrolle sieht. Ein Drittel
aller deutschen Startups säßen in Berlin, je 10% in München, Hamburg und dem
Rhein/Ruhr-Gebiet. Zwei Beispiele seien Zalando und HelloFresh. Hinter Zalando
stehen die Brüder Samwer mit Rocket International. In Berlin würde genau so
viel Geld investiert wie in London. Dabei seien die Lebenshaltungskosten nur
ein Drittel von London. Berlin sei sehr attraktiv für Talente aus aller Welt,
insbesondere für Osteuropäer und Skandinavier. Der letzte Punkt lässt sich kaum
bestreiten.
Wenn
Deutschland sich nur ein Zentrum für Startups leisten könne, dann möge es doch bitte Berlin sein. Diesem Wunsch Keeses zuzustimmen, dürfte Aachenern, Darmstädtern, Münchnern
und Hamburgern nicht leicht fallen. Würde die Stadt Berlin die Gründung von
Firmen so leicht machen wie der US-Staat Delaware, dann bestünde vielleicht
Grund zur Hoffnung. Dass die Frage des in Deutschland fehlenden Wagniskapitals auch von Keese leicht
überbewertet wird, sei ihm verziehen. Was mir vor fünf Jahren ein Insider dazu sagte, gilt
auch heute noch. Es ist halt ein typisches Henne-Ei-Problem.
Praktische
Szenarien
Keese
geht eine lange Liste von Branchen durch und macht Vorschläge, was sie tun
könnten, um in den Himmel der digitalen Glückseligkeit zu gelangen, die Banken,
Versicherungen, Energieversorger, Logistikunternehmen, Kommunikationsanbieter,
Wohnungsbauer und -verwalter, Handel und Gesundheitseinrichtungen. Für diese Mühe sollte man
Keese dankbar sein.