Donnerstag, 27. Oktober 2016

Deutschland und das Modell Silicon Valley

Der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Axel-Springer-Verlags Christoph Keese erklärte uns in seinem im Jahre 2014 erschienenen Buch Silicon Valley  ̶  Was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt, wie wichtig es ist nach Kalifornien zu schauen. Ich fand sein Anliegen berechtigt und empfahl in einem Blog-Beitrag von 2014, sich mit seinen Ideen auseinanderzusetzen. Keese hat Mitte 2016 ein neues Buch vorgelegt. Es heißt Silicon Germany - Wie wir die digitale Transformation schaffen. Wie zu erwarten, macht er eine Art Bestandsaufnahme. Ich kann auch dieses Buch nur empfehlen. Im Folgenden gehe ich auf einige Punkte ein, die mich überraschten oder beeindruckten.

Bereits erfolgte Anpassungen

Keese rückt inzwischen von seiner Aussage ab, dass Deutschland die Digitalisierung generell verpasse. Nicht nur wallfahrten ganze Unternehmergruppen durch das Silicon Valley, auch gäbe es einige mutige Leute, die den Wandel ernst nähmen. Digitalisierung sei längst kein Fremdwort mehr. Es ist  zum Mantra von Experten und Beratern geworden. Ganz zufrieden ist Keese jedoch bei weitem nicht.

Was ihm Grund zur Hoffnung gegeben habe, sei die Lernfähigkeit  gewesen, die viele deutsche Unternehmen zeigten, als es galt, Japans Detailgenauigkeit und Fehlerresistenz bei der Produktion nachzuahmen. So hätte zum Beispiel Porsche nicht nur Japans Stand erreicht, sondern längst weit übertroffen. Dass es heute nicht mehr um die Verbesserung von Produktionsmethoden gehe, hätten alle die Firmen verstanden, die sich Startups im Silicon Valley, Berlin oder Shanghai zulegten. Dass da Firmen wie Daimler und Siemens dazu gehörten, sei schon beachtenswert. Er habe allerdings Zweifel, welcher Grad an Entschlossenheit überall dahinterstecke. Keese erwähnt, dass die Deutsche Bundesbahn allein 260 Digitalisierungsprojekte habe. Auch da ist unklar, was diese Zahl bedeutet.

Dass sein eigenes Unternehmen, der Axel Springer-Verlag, längst vom Jammern zum Handeln übergegangen ist, überraschte mich. Keese vermeidet es, damit übermäßig zu prahlen. Es wurden Akquisitionen getätigt, die sich bald auch auf die Struktur des Konzerns auswirken werden. Als Beispiele erwähnt werden das Preisvergleichsportal Idealo, der Prospektdienst KaufDA und die Jobbörse StepStone. Bezeichnend ist, dass im Jahre 2015 bereits 2/3 des Konzernumsatzes und 3/4 des Gewinns aus dem Internet kamen. Da mag Einiges schöngerechnet worden zu sein. Beachtlich ist es auf jeden Fall. Auch SAP, Siemens und die Telekom hätten jede mehrere Startups aufgekauft. Besonders ausführlich befasst er sich mit dem Heizungsbauer Viessmann, einem Mittelständler aus Allendorf in Hessen. Von ihm seien demnächst intelligente Steuerungssysteme höchster Perfektion zu erwarten.

Weiterer Nachholbedarf

In der deutschen Industrie herrsche immer noch das Denken von Maschinenbauern. So gestand es ihm einer seiner Gesprächspartner. Diese dächten zu sehr in Einzelprodukten. Sie betrachteten ihre Geräte als autarke Systeme. Sie hätten nicht gelernt sie zu vernetzen. Ein Beispiel sei für ihn der Mähroboter von Bosch. Er habe weder eine akzeptable Benutzerführung, noch sei er mit dem Internet verbunden.

Die hohe Spezialisierung bringe uns derzeit Fortschritte bei isolierten Produkten. Wir hätten vertikal integrierte Produkte vervollkommnet und hätten vertikale Netze optimiert. Wir müssten die horizontale Vernetzung erst lernen und erproben. Ein Experte befürchtete, dass Deutschland zu einem zweiten Shenzhen verkommen könnte. Wir könnten zwar weiterhin gute Qualität abliefern, würden aber immer mehr von außen gesteuert. Nur bei Datenschutz und Datensicherung führend zu sein, reiche nicht aus.

Mögliche falsche Schlussfolgerungen

Der derzeitige Erfolg der deutschen Wirtschaft biete auch Gefahren. Es sei fraglich, ob es richtig sei, immer neue Funktionen ins Auto zu integrieren, vor allem dann, wenn es Funktionen sind, die auch außerhalb des Autos sinnvoll sind. Es gibt heute bereits viele ältere Menschen, die ohne Auto auskommen müssen (ich gehöre auch dazu) und junge Menschen, die ohne Auto auskommen wollen (wie meine Enkel). Verbraucher mit Autofahrern gleichzusetzen, kann vor allem im hochmütigen Autoland Deutschland zu Fehlschlüssen führen.

Während Keese es als Außenstehender wagt der Autoindustrie unangenehme Wahrheiten zu sagen, scheint Betriebsblindheit vorzuherrschen, wenn es um die eigene Branche, das Verlagswesen, geht. Nur so kann ich es mir erklären, dass er in dem eBook-Lesegerät Tolino einen Erfolg sieht. Ich erinnere mich zwar an die Publicity beim Start des Projekts vor Jahren, hatte es aber vollkommen aus dem Auge verloren. Keese berichtet, dass Tolino seine Ziele voll erreicht habe, da es 2015 einen Marktanteil von 45% erreicht habe, und zwar vor Amazons Kindle mit 39%. Das erinnert mich an ein eigenes Aha-Erlebnis. Als die Minis von DEC als Konkurrenz zu IBM-Großrechnern im Markt erschienen, gab es in einem bestimmten Jahr rund 100 Situationen, wo es zum Wettbewerb kam. IBM gewann in 90% der Fälle. Man glaubte also unbesorgt sein zu können. Erst wenn man in Betracht zog, dass DEC in dem betreffenden Jahr über 1000 VAX-Systeme verkauft hatte, sah das Bild ganz anders aus. Mit andern Worten, es ist ein riesengroßer Fehler, den Markt für Lesegeräte mit Kindle gleichzusetzen. Ich lese auf meinem Tablet zwar etwa 10 Bücher pro Monat, schaue aber auch Fotos bei Flickr und Filme bei YouTube an – ganz zu schweigen von den TV-Sportübertragungen.

Mangelnde Infrastruktur

Nach seiner Rückkehr aus Kalifornien, empfand Keese Mitleid mit seinen eigenen Kindern. Statt in einer aktiven und anregenden Moderne müssten sie in einer Art von Technik-Museum des 20. Jahrhunderts aufwachsen. Alles Neue werde dort importiert. Wir Deutschen lebten in einer mechanischen, vergangenen Welt und liebten sie. Die Berufe, die seinen und auch unseren Kindern offen stehen, seien im Vertriebs- und Service-Bereich für importierte Produkte. Überspitzt gesagt, es sei der Ticketverkauf im Technik-Museum, der als Job verbliebe.

Kommt die deutsche Industrie bei Keese mit einem blauen Auge davon, erstreckt sich dies nicht auf den Bildungsbereich. Er hält das Wissen, das an Unis gelehrt wird, meist nicht mehr für aktuell. Es würde zu sehr das Spezialistentum (Silos) ohne Nutzererfahrung und Brückenfunktion angestrebt. Die Fehlervermeidung (Nulltoleranz) stehe höher im Kurs als das Ausprobieren. Amerikaner würden zeigen, dass man gut sein könne trotz Fehlern. Auch Scheitern ist als Erfahrung wertvoll.

Für deutsche Ingenieure spielten Geschäftsmodelle keine große Rolle, meint Keese. Ich darf hinzufügen, dass es für Informatiker nicht viel besser aussieht (siehe meinen entsprechenden Blogbeitrag). Ohne Schulung in Geschäftsmodellen würden Ingenieure es in Zukunft schwer haben. Um Innovationen zu erkennen und zu ermöglichen, seien Geschäftsmodelle sehr wichtig. Er verweist auf den Business Model Navigator von Oliver Gassmann (St. Gallen). Darin werden 55 Modelle vorgestellt. Gründer von Startups liebten es, mit Geschäftsmodellen zu spielen. Es käme darauf an, Menschen mit Produktideen zu begeistern.

Politische Glaubensbekenntnisse

Es fehle nicht an Glaubensbekenntnissen deutscher Politiker, wenn es um die Digitalisierung geht. Sigmar Gabriel hat gefordert, dass Deutschland außer der Produktion von Gütern auch Plattformen anbietet. EU-Kommissar Günther Oettinger fordert Gigabit-Netze in ganz Europa. Mit Recht weist er darauf hin, dass das von deutschen Banken als Gegenmittel gegen PayPal konzipierte System PayDirekt schon mit dem 'k' im Namen zeigt, dass man nur an Deutschland dachte. Peter Altmaier, der Kanzleramtsminister, meint der Staat solle vorausschauend handeln bei selbstfahrenden Autos und Drohnen. Bundesinnenminister Heiko Maas hat 13 Punkte formuliert, die beachtet werden sollen. Die Frage ist, wie weit es bei solchen Lippenbekenntnissen bleibt, oder ob konkrete Taten folgen.

Nicht gut findet es Keese, dass die Zuständigkeit für die Digitalisierung auf vier Ministerien (Dobrindt, Gabriel, de Maizière, Maas) verteilt ist. Ob ein Bundes-Internet-Minister eine Lösung darstellt für ein Problem, für das die Bundesbahn 260 Projekte braucht, darf hinterfragt werden.

Ist Berlin wirklich der ideale Standort des Wandels?

Bei der starken Verbundenheit, die das Unternehmen Axel Springer zur Stadt Berlin hat, wundert es kaum, dass Keese Berlin gerne in einer Führungsrolle sieht. Ein Drittel aller deutschen Startups säßen in Berlin, je 10% in München, Hamburg und dem Rhein/Ruhr-Gebiet. Zwei Beispiele seien Zalando und HelloFresh. Hinter Zalando stehen die Brüder Samwer mit Rocket International. In Berlin würde genau so viel Geld investiert wie in London. Dabei seien die Lebenshaltungskosten nur ein Drittel von London. Berlin sei sehr attraktiv für Talente aus aller Welt, insbesondere für Osteuropäer und Skandinavier. Der letzte Punkt lässt sich kaum bestreiten.

Wenn Deutschland sich nur ein Zentrum für Startups leisten könne, dann möge es doch bitte Berlin sein. Diesem Wunsch Keeses zuzustimmen, dürfte Aachenern, Darmstädtern, Münchnern und Hamburgern nicht leicht fallen. Würde die Stadt Berlin die Gründung von Firmen so leicht machen wie der US-Staat Delaware, dann bestünde vielleicht Grund zur Hoffnung. Dass die Frage des in Deutschland fehlenden Wagniskapitals auch von Keese leicht überbewertet wird, sei ihm verziehen. Was mir vor fünf Jahren ein Insider dazu sagte, gilt auch heute noch. Es ist halt ein typisches Henne-Ei-Problem.

Praktische Szenarien

Keese geht eine lange Liste von Branchen durch und macht Vorschläge, was sie tun könnten, um in den Himmel der digitalen Glückseligkeit zu gelangen, die Banken, Versicherungen, Energieversorger, Logistikunternehmen, Kommunikationsanbieter, Wohnungsbauer und -verwalter, Handel und Gesundheitseinrichtungen. Für diese Mühe sollte man Keese dankbar sein.

1 Kommentar:

  1. Otto Buchegger aus Tübingen schrieb:

    Keese ist eine sehr unglaubwürdige Quelle...

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.