Montag, 22. Juni 2020

Peter Hiemann zum Thema Selbstorganisation

Schon längere Zeit vermuten Naturwissenschaftler, dass in der Natur – vor allem bei neuralen Gehirnprozessen – dem Prinzip 'Selbstorganisation' eine entscheidende Rolle zukommt.

Der Begriff der Selbstorganisation wurde in den 1950er-Jahren von Wesley A. Clark und Belmont G. Farley geprägt. Heinz von Foerster würdigt in dem Buch “Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“ (1998) Clark und Farley mit den Worten:

„Sie erkannten, daß sich Operatoren, die in einer geschlossenen Beziehung stehen, irgendwie stabilisieren und beobachteten – noch ohne eine Theorie der rekursiven Funktionen oder des Eigenwertes zu kennen – das Phänomen, daß bestimmte geschlossene Systeme nach einer gewissen Zeit stabile Formen des Verhaltens entwickeln“

Auch in sozialen Systemen lässt sich beobachten, wie Ordnung – unabhängig von den Handlungen eines Organisators – aus dem System selbst heraus entsteht. Die Selbstorganisation ist ein nicht nur in der Systemtheorie populärer Begriff. Ihm kommt sowohl in sozialen als auch in natürlichen, physikalischen, biologischen, chemischen oder ökonomischen Systemen Bedeutung zu. Diesem Ansatz zufolge können die Menschen nur dann ihr Leben selbst in die Hand nehmen, wenn sie nicht hierarchischen Organisationen unterworfen sind.

Der Physiker und naturwissenschaftlich orientierte Philosoph Heinz von Foerster (1911–2002) publizierte zusammen mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen das
Buch “Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker“. Es erschien 1998 und wurde 2019 mit dem Hinweis 'Systemische Horizonte' neu aufgelegt.

In dem Buch geht es um grundlegende Fragen zum Thema Selbstorganisation. Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Sind unsere Weltbilder lediglich Erfindungen, oder entspricht ihnen eine äußere Realität? Ist Wahrheitserkenntnis möglich? Es sind diese Fragen, die der Physiker und Philosoph Heinz von Foerster und der Journalist Bernhard Pörksen in ihren Gesprächen debattieren. Gemeinsam erkunden sie die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens, diskutieren die scheinbare Objektivität unserer Sinneswahrnehmung, die Folgen des Wahrheitsterrorismus und den Zusammenhang von Erkenntnis und Ethik, Sicht und Einsicht. Dabei offenbart sich ein Denken, das die Fixierung scheut und die eine, ewig gültige Antwort ablehnt. Und immer wieder geht es in diesen mit leichter Hand formulierten Dialogen um die innere Verbindung zwischen einem faszinierenden wissenschaftlichen Werk und einem ungewöhnlichen und aufregenden Leben.

Ein deutsches Nachrichtenmagazin hielt es 1998 für wichtig, das Buch nicht nur zu besprechen, sondern einen Teil des Dialogs zwischen dem Philosophen von Foerster und dem Medienwissenschaftler Pörksen zu veröffentlichen, um das Thema in der Öffentlichkeit besser diskutieren zu können.

Hier ist der Dialog, den das Nachrichtenmagazin wiedergab:

BERNHARD PÖRKSEN: Sie haben kürzlich den Satz formuliert, Wahrheit sei "die Erfindung eines Lügners". Was ist damit gemeint?
HEINZ VON FOERSTER: Damit ist gemeint, daß sich Wahrheit und Lüge gegenseitig bedingen: Wer von Wahrheit spricht, macht den anderen direkt oder indirekt zu einem Lügner. Diese beiden Begriffe gehören zu einer Kategorie des Denkens, aus der ich gerne heraustreten würde, um eine ganz neue Sicht und Einsicht zu ermöglichen. Meine Auffassung ist, daß die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet - man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition - Krieg. Man muß daran erinnern, wie viele Millionen von Menschen verstümmelt, gefoltert und verbrannt worden sind, um die Wahrheitsidee gewalttätig durchzusetzen.

PÖRKSEN: Sie sehen eine Korrelation zwischen der Anzahl der Gefallenen und einem statischen Wahrheitsverständnis?
VON FOERSTER: Ja - und auf einmal stehen die großen Armeen der Gläubigen einander gegenüber, sie knien nieder und beten beide zu ihrem Gott, daß die Wahrheit, daß ihre Wahrheit siegen möge. - Wer hat recht? Sind der Wein und das Brot, die zum christlichen Abendmahl gereicht werden, wirklich Blut und Körper Christi, oder handelt es sich bei Wein und Brot um Symbole, die das Blut und den Körper darstellen? Um diese Frage zu entscheiden, wird geschlachtet und geschlachtet. Und die Armee, die übrigbleibt, verkündet stolz, im Privatbesitz der Wahrheit zu sein. Sie kann jetzt beginnen, die Überlebenden der Gegenseite zu bekehren.

PÖRKSEN: Diese Ablehnung des Wahrheitsbegriffs hat, wenn ich richtig verstehe, einen ethischen Grund. Aber muß man - aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive - nicht zugeben, daß an den Orten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts Wahrheit produziert wird? Wir telephonieren, wir fahren Auto, es erheben sich tonnenschwere Flugzeuge in die Luft. Das kann doch nur heißen, daß es einen systematischen Zusammenhang zwischen unseren Vorstellungen und dem Wesen der Welt gibt.
VON FOERSTER: Es ist ein Wunsch des Menschen, seine Fertigkeiten und Möglichkeiten - das Autofahren, das Fliegen, die herrlichen Computer - zu erklären. Aber diese Erklärungsprinzipien sind kulturell bedingt und jeweils ganz verschieden man kann zwischen ihnen auswählen und hin und her hüpfen.
Ein Realist würde auf das Maxwellsche Prinzip verweisen, um das Funktionieren von Elektromotoren zu erläutern. Und ein Magier würde sagen, daß es die Menschen verstanden haben, mit Unerklärlichem umzugehen. Aber wenn Sie mich fragen: Mir erscheint die Idee vollständiger Erklärbarkeit als eine Hoffnung, die das Staunen befriedigt und beseitigt: Man kann nun in einer Welt leben, in der es das Wunder und das Unwißbare nicht mehr gibt; das ist das Ergebnis unserer Erklärungsversuche.

PÖRKSEN: Was Sie sagen, ist, so denke ich, keine Antwort. Sie machen die Implikationen meiner Frage zum Thema, aber Sie antworten mir nicht.
VON FOERSTER: Welche Antwort - so muß ich jetzt zurückfragen - möchten Sie denn gerne hören? Welche Antwort würden Sie akzeptieren, welche meiner Ausführungen würde Sie entzücken? Das womöglich beruhigende Bekenntnis, daß das Funktionieren einer Hypothese ein Wahrheitsbeweis ist, werde ich nicht ablegen. Meine Formel lautet: Das Funktionieren ist ein Beleg für das Funktionieren. Wieso soll ich dieses Funktionieren jetzt mit diesen lächerlichen acht Buchstaben W A H R H E I T gleichsetzen? Wozu? Um recht zu behalten? Um dem anderen über den Kopf zu hauen?

PÖRKSEN: Sie glauben nicht an die endgültige Verifizierung einer Hypothese?
VON FOERSTER: Nein, überhaupt nicht. Was möglich ist, da folge ich dem Philosophen Karl Popper, dem ich sonst längst nicht in allem zustimme, ist allein die Falsifizierung von Hypothesen: Diese können sich als falsch, aber nicht in einem absoluten Sinn als richtig erweisen. Aber in dem Moment, in dem man von Wahrheit spricht, entsteht ein Politikum, und es kommt der Versuch ins Spiel, andere Auffassungen zu dominieren und andere Menschen zu beherrschen. Wenn der Begriff der Wahrheit überhaupt nicht mehr vorkäme, könnten wir vermutlich alle friedlich miteinander leben.

PÖRKSEN: Was bleibt, ist ein ganz und gar unspektakuläres Erkenntnismotiv. Es geht allein um das Funktionieren - und nicht um die absolute Wahrheit.
VON FOERSTER: Aber dieses Funktionieren läßt sich doch als eine Serie von Wundern begreifen, die man feiern, über die man sich freuen kann. Es geht darum, nicht zu stolpern in dieser Welt. Und wenn uns dies gelingt, wäre das doch schon Anlaß genug, um gemeinsam eine Flasche Champagner zu entkorken.
Ich will noch einmal betonen, daß ich im Grunde genommen aus der gesamten Diskussion über Wahrheit und Lüge, Subjektivität und Objektivität aussteigen will. Diese Kategorien stören die Beziehungen von Mensch zu Mensch, sie erzeugen ein Klima, in dem andere überredet, bekehrt und gezwungen werden. Es entsteht Feindschaft. Man sollte diese Begriffe einfach nicht mehr verwenden, da sie, so behaupte ich, durch die bloße Erwähnung und auch durch die Verneinung oder Ablehnung am Leben erhalten werden.

PÖRKSEN: Inwiefern?
VON FOERSTER: Dazu fällt mir ein Satz von Ludwig Wittgenstein ein: Wenn man über eine Proposition "p" und ihre Verneinung "non p" spricht, heißt es bei Wittgenstein, so spricht man von demselben. Darf ich hier eine kleine Analogie anführen? Revolutionäre, die einen König stürzen wollen, machen häufig den bedauerlichen Fehler, daß sie laut und deutlich schreien: Nieder mit dem König! Das ist natürlich kostenlose Propaganda für den König, der sich bei seinen Gegnern eigentlich bedanken sollte: "Danke, daß ihr mich so oft erwähnt habt und daß ihr nicht aufhört, meinen Namen zu rufen!" Wenn ich eine Person, eine Idee oder ein Ideal laut und deutlich negiere, ist die endgültige Trennung noch nicht geglückt. Das verneinte Phänomen kommt wieder vor und wird ex negativo erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

PÖRKSEN: Nun könnte man sagen: Sie sind ein Revolutionär, der die Idee der Wahrheit grundsätzlich erledigen will, indem er sie aus dem Diskurs zu verbannen hofft.
VON FOERSTER: Gar nicht schlecht. Vielleicht paßt dazu eine Formel, die unter österreichischen Journalisten kursiert; es heißt, daß man eine Idee oder eine Person am besten demontieren kann, indem man sie überhaupt nicht mehr erwähnt. Die Formel lautet: "Nicht genannt soll er werden!" Wenn man einen Politiker zerstören will, dann schreibt man am besten nicht über seine außerehelichen Kontakte zu anderen Frauen; das wäre falsch, weil schon die bloße Erwähnung seine Existenz wieder zu Bewußtsein bringt und vielleicht einige Leute sagen: Was für ein fescher Mann! Viel wirksamer ist es, von ganz anderem zu sprechen, sich über das Wetter und die Wetterfrösche zu unterhalten. Der Politiker ist dann plötzlich weg. In diesem Sinn meine ich, daß man die Idee der Wahrheit zum Verschwinden bringen und sie durch Nichterwähnung erledigen sollte: "Nicht genannt soll sie werden!"

PÖRKSEN: Wäre es nicht auch möglich, den Begriff der Wahrheit etwas undramatischer als eine regulative Idee zu denken? Wahrheit ließe sich als eine orientierende Norm begreifen, die nicht in den Privatbesitz eines einzelnen, einer Gruppe oder Nation übergehen kann. Sie erschiene dann als ein Motiv des Aufbruchs, als der Stimulus einer Erkenntnisanstrengung, von der man weiß, daß sie nie zu einem Ende, zu einem Absoluten gelangt.
VON FOERSTER: Mir erscheint Ihr Versuch, den Begriff der Wahrheit zu retten, untauglich. Auch die Rede von Wahrheit in einem regulativen Sinn setzt eine Vorstellung von dem voraus, was die Wahrheit ist, was erreicht und angestrebt werden soll. Die zerstörerischen Konsequenzen, die diese Idee hat, werden demzufolge gar nicht berührt. Man geht in jedem Fall von einer ewigen Wahrheit aus, die da irgendwo am Horizont herumschwebt. Schon der Begriff der orientierenden Norm, von dem Sie sprechen, enthält den heimlichen Zwang zur Anpassung: Andere müssen sich dieser Norm unterwerfen.

PÖRKSEN: Und doch läßt sich nicht leugnen, daß ein emphatischer und meinetwegen auch naiver Wahrheitsbegriff Menschen im Laufe der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte auf eine sehr produktive Weise angeregt hat. Das Wahrheitsmotiv hat so verstanden seinen guten Sinn - und ist nicht allein Instrument von Fanatikern, die andere terrorisieren wollen.
VON FOERSTER: Sie sprechen jetzt von den persönlichen Glaubenssätzen eines Erkennenden, der eine bestimmte Idee auf eine wunderbare Weise benützt. Wenn dieser Mensch aber sagt, daß er die Wahrheit gefunden hat, wird er zu einem gefährlichen Tier. Auch die Behauptung einer allmählichen oder asymptotischen Wahrheitsannäherung ist mir unheimlich, weil hier immer schon das Wissen darüber vorausgesetzt wird, wo sich dieses vermeintliche Fernziel befindet.
Wäre es nicht möglich, so denke ich manchmal, den Verweis auf die Wahrheit durch die Idee des Vertrauens zu ersetzen: Schon das englische Wort für Wahrheit, truth, geht, wenn man die Wortgeschichte analysiert, auf den Begriff der Treue und des Vertrauens, trust, zurück. Wenn ich die Wahrheit als ein Vertrauen von Mensch zu Mensch begreife, dann brauche ich keine externen Referenzen mehr. Dann kann ich das, was er sagt, einfach hinnehmen, weil wir uns gegenseitig treu sind. Es ist nicht mehr die Frage, wer recht hat, wer lügt, sondern ob man dem anderen vertraut, ob man sich auf ihn verlassen kann. Wenn er mir sagt, daß die Klapperschlangen den Radetzkymarsch spielen, dann frage ich gar nicht, ob sie das wirklich tun. Ich vertraue ihm einfach, ich glaube ihm. Auf diese Weise entsteht eine vollkommen andere Relation.

PÖRKSEN: Übersieht diese Kritik der Wahrheitsidee nicht ein grundsätzliches Bedürfnis? Menschen kommen doch gar nicht ohne die Sehnsucht nach etwas Endgültigem und Fraglosem aus. Sie brauchen die Sicherheit des Absoluten.
VON FOERSTER: Für mich ist diese Sicherheit des Absoluten, die einem Halt geben soll, etwas Gefährliches, das einem Menschen die Verantwortung für seine Sicht der Dinge nimmt. Mein Ziel ist es, eher die Eigenverantwortung und die Individualität des einzelnen zu betonen. Ich möchte, daß er lernt, auf eigenen Füßen zu stehen und seinen persönlichen Anschauungen zu vertrauen. Mein Wunsch wäre es, dem anderen zu helfen, seine ganz eigenen Vorstellungen, seine eigenen Gedanken, seine eigene Sprache zu entwickeln, ihm zu helfen, seine Beobachtungsgabe zu schärfen, seine eigenen Augen und Ohren zu benutzen. Natürlich gibt es Menschen, die davon nichts wissen wollen und meinen, nicht ohne ein Dogma auszukommen, das ihnen vorgibt, wie sie zu sehen, zu hören und zu sprechen haben. Das sind Monotänzer, mit denen man keinen gemeinsamen Tanz, keinen gemeinsamen Dialog beginnen kann. Sie nehmen die Einladung nicht an, über diese Dinge zu sprechen, denn sie wissen ja bereits alles, sie kennen die Ergebnisse. Aber das ist nicht mein Problem, wenn ein anderer sich in die Blindheit gegenüber der Vielzahl der Möglichkeiten flüchtet, damit muß dieser Mensch selbst fertig werden. Ich würde niemals versuchen, ihn zu überzeugen.

PÖRKSEN: Manche Menschen empfinden Ihre These zweifellos als eine Provokation. Vor einigen Jahren ist einmal in einer christlichen Wochenzeitung ein Interview mit Ihnen erschienen, das eine ganze Reihe erboster Leserbriefe provoziert hat: Viele der Briefeschreiber fühlten sich ganz offensichtlich durch diesen Abschied von einem Wahrheitsideal, das auch im Zentrum religiöser Vorstellungen steht, verletzt. Einer der Schreiber nannte Sie den "großen Verwirrer". Das ist ein Bibelzitat: Die Rolle des großen Verwirrers spielt der Teufel.
VON FOERSTER: Nun, das klingt ja wenig schmeichelhaft. Allerdings möchte ich darauf hinweisen, daß ich eine etwas andere Vorstellung vom Teufel habe. Der Teufel ist für mich nicht der große Verwirrer, sondern der große Vereinheitlicher: Er versucht, die verschiedenen Ansichten zu homogenisieren, bis alle dasselbe denken, glauben und tun. Das ist das eigentlich Gefährliche. Der Verwirrer erweitert dagegen das Blickfeld, er eröffnet neue Möglichkeiten und macht die Fülle sichtbar. Ich kann den Verfasser dieses Briefes beruhigen: Es ist ein guter Geist, der verwirrt.
Ich meine, daß sich in der Verwirrung, die neue Möglichkeiten sichtbar werden läßt, ein ethisches Grundprinzip manifestiert. Es entsteht Freiheit. Ich habe einmal gesagt: Handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst. Das ist mein ethischer Imperativ, wobei allerdings wieder der falsche Eindruck entstehen könnte, auch ich wolle andere herumkommandieren. Das war also etwas schlampig formuliert. Besser wäre es gewesen, wenn ich geschrieben hätte: "Heinz, handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst."

PÖRKSEN: Können Sie diesen ethischen Imperativ erläutern?
VON FOERSTER: Gemeint ist, daß man die Aktivitäten eines anderen nicht einschränken soll, sondern daß es gut wäre, sich auf eine Weise zu verhalten, die die Freiheit des anderen und der Gemeinschaft vergrößert. Denn je größer die Freiheit ist, desto größer sind die Wahlmöglichkeiten und desto eher ist auch die Chance gegeben, für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen. Nur wer frei ist - und immer auch anders agieren könnte -, kann verantwortlich handeln. Das heißt: Wer jemand die Freiheit raubt und beschneidet, der nimmt ihm auch die Chance zum verantwortlichen Handeln. Und das ist unverantwortlich.

PÖRKSEN: Aber wessen Möglichkeiten sollen vergrößert werden? Man kann doch nicht, um ein Beispiel zu wählen, die Chancen eines Propagandisten, bösartige Hetzschriften zu verbreiten, unterstützen. Das kann doch kein Ziel sein.
VON FOERSTER: Warum nicht? Soll ich seine Schriften verbieten, die Bücher aus den Bibliotheken herausholen, weil sie nicht meiner Auffassung entsprechen?
Die Alternative ist mörderisch. Wenn man die Wahlmöglichkeiten erweitert, dann kann man sich entscheiden, ein Kindermörder oder ein Schulbusfahrer zu werden. Die Entscheidung für den einen oder den anderen Weg verknüpft einen mit der Verantwortung. Natürlich ist es bequem, sich zu entlasten, indem man etwas verbietet oder den Umständen, den Genen oder der Erziehung, nature or nurture, unserer Natur oder den bösen Eltern, die Schuld zu geben. Und es ist bequem, sich in einer Hierarchie zu verstecken und immer, wenn es eines Tages und am Ende des Krieges zum Prozeß kommt, zu sagen: Aber ich habe doch nur Befehle und Kommandos ausgeführt! Ich kann doch nichts dafür! Es gab doch gar keine andere Möglichkeit! Das sind, so würde ich sagen, alles Ausreden.

PÖRKSEN: Glauben Sie nicht, daß man gelegentlich auch intolerant sein und die Verbreitung bestimmter Propagandamaterialien - ich denke hier etwa an neonationalsozialistische Schriften, die zur Gewalt aufrufen - verbieten muß?
VON FOERSTER: Mit dieser Strategie des Verbietens kann ich Ihnen nur viel Glück wünschen, wirklich, alles Gute; ich glaube, die Zensur funktioniert nicht. Sie macht alles nur noch schlimmer. Meine Vorstellung wäre es, die Absurdität neonazistischer Ideen durch andere Ideen, denen auch die Möglichkeit der Verbreitung gegeben werden muß, zu illustrieren.

PÖRKSEN: Sie meinen, daß sich das Gute, Richtige und Schöne allein durch die Aufklärung durchsetzen wird?
VON FOERSTER: Sie scheinen sich in diesem Bereich sehr genau auszukennen.
Woher wollen Sie wissen, was dieses Gute, Richtige und Schöne ist? Wen fragen wir beide, um dieses Wissen zu erlangen? Die Konsequenz dieser absoluten Unterscheidungen zwischen dem Guten und dem Schlechten, dem Richtigen, dem Falschen, dem Schönen und dem Häßlichen ist, daß man sich zum Richter emporschwingt und als der ewig Gerechte, der alles ganz genau weiß, begreift.
Das heißt nicht, daß ich nun für einen ethischen Relativismus plädiere, überhaupt nicht, das muß nicht die Konsequenz sein. Aber ich möchte darauf aufmerksam machen, daß diese Unterscheidungen, die vermeintlich eine universale und absolute Gültigkeit besitzen, von Ihnen getroffen werden. Sie sind keineswegs losgelöst von Ihrer Person, sondern Sie tragen für ihre mögliche Durchsetzung die Verantwortung.

PÖRKSEN: Diese Toleranz gegenüber den Wirklichkeiten anderer könnte einen schier handlungsunfähig machen. Was ist mit den Erlebniswelten der Kühe, der Fische und des Blumenkohls? Um zu essen, vernichte ich ihre Welt, zerstöre ich ihre Möglichkeiten.
VON FOERSTER: Wollen Sie mich jetzt fragen, warum ich einen Blumenkohl esse? Wollen Sie wissen, ob es - gemäß diesem ethischen Prinzip - lieb ist, sich ein Steak zu braten?

PÖRKSEN: Nicht direkt. Meine These ist, daß der Lebensvollzug eines Menschen stets auch ein Moment der Zerstörung enthält. Immer werden die Entfaltungsmöglichkeiten anderer Wesen vernichtet.
VON FOERSTER: Allerdings bezieht sich mein ethischer Imperativ nicht auf die Möglichkeiten eines einzelnen Wesens, eines einzelnen Menschen oder eines einzelnen Blumenkohls, sondern auf die Vielzahl der Möglichkeiten für das Universum. Das ist gemeint. Und selbstverständlich könnte ich jetzt sagen: Wenn ich den Blumenkohl esse, dann kann ich ein schönes Gedicht schreiben, das - wenn ich verhungern müßte - nicht zustande käme. Ich habe also dem Blumenkohl die Gelegenheit gegeben, ein schönes Gedicht zu erzeugen. Aber das ist natürlich eine Ausrede.

PÖRKSEN: Wie würden Sie antworten, wenn Sie nicht diese Ausrede verwenden?
VON FOERSTER: Ich würde nach einer anderen Ausrede suchen; im übrigen genieße ich das sehr, wie Sie meinen ethischen Imperativ ad absurdum führen. Das zeigt doch, daß alle Aussagen nur eine endliche Reichweite besitzen. Alles, was ich will, ist, dazu aufzufordern, die Vielzahl der Möglichkeiten zu bedenken: Wir sind frei zu wählen, wir sind frei, uns zu entscheiden. Es gibt nicht irgendeine absolute Wahrheit, die einen zwingt, die Dinge so und nicht anders zu sehen, so und nicht anders zu handeln.


Nachbemerkung


Die eigentliche Entstehungsgeschichte der Selbstorganisation beginnt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der relativ späte Zeitpunkt hatte viele Gründe. Das vorherrschende mechanistische Paradigma dominierte menschliche Denkweisen. Mit Selbstorganisation in Verbindung stehende Phänomene wurden übersehen oder ignoriert. Gegenwärtig kann noch nicht von einer Theorie selbstorganisierender Systeme oder von empirisch getesteten Hypothesen gesprochen werden.

Von Foersters Ansatz darf als ein grundlegender Beitrag zum Thema Selbstorganisation betrachtet werden. Der universellen Anwendbarkeit verdankt der Begriff der Selbstorganisation seine breite Resonanz.

2015 präsentierte ein internationales Team zum ersten Mal das komplette Genom von Physarum polycephalum. Einem Schleimpilz auch genannt 'Blob'. Im Labor dient er als Stellvertreter für alle Schleimpilze und hilft dort, die Intelligenz der rätselhaften Einzeller zu ergründen – und eines Tages nutzbar zu machen.

Aber das ist eine andere interessante Geschichte – die Entdeckung des Phänomens Selbstorganisation geht weiter.

Mittwoch, 17. Juni 2020

Peter Hiemann über Nachhaltigkeit

Die Mächtigkeit des Planeten und dessen Natur

Lange kämpfte Homo sapiens ums Überleben. Er arrangierte sich entsprechend gegebener Umstände des Planeten und dessen Natur, und lebte von den Früchten und Tieren, die ihm die Natur bot. Wenn nötig, zog er an einen anderen Ort, wo Lebensbedingungen zum Überleben ausreichten. Lange glaubten Menschen, dass Geister ihre Schicksale bestimmten. Lange Zeit glaubten Menschen, dass Götter Menschen geschaffen haben und Götter über ihre Schicksale entscheiden. Lange glaubten Menschen, dass von Gott auserwählte Herrscher ihre Schicksale gestalten. Lange glaubten Menschen, dass menschliche Fähigkeiten dafür sorgen, allen Menschen Wohlstand, Harmonie und Glück auf Erden zu bringen. Sie erlebten Planet und Natur als ein Wunder:
  • Sie erfreuen sich an der Vielfalt und Schönheit des Planeten und dessen Natur – Landschaften, das Meer, Pflanzen, Tiere und Menschen.
  • Sie erfreuen sich natürlicher Produkte – Getreide, Milch, Butter, Fleisch und Gewürze.
  • Sie gestalten ihr Leben vermittels angenehmer Beziehungen und Spiele.
  • Sie träumen vom Glück.
Menschen erleben heute aber auch, wie die Vielfalt und Schönheit des Planeten und dessen Natur verloren gehen kann, dass dauerhafter Wohlstand und dauerhaftes Glück für alle Menschen eine Illusion ist, Menschen erschrecken, wenn der Planet und dessen Natur anders als erwartet, angenehme Lebensbedingungen 'verweigert'. Menschen ahnen, dass ihr Leben von der Mächtigkeit des Planeten und dessen Natur mehr geprägt wird, als sie bisher annahmen. Menschen begreifen langsam, dass sie natürliche, nachhaltige Prozesse nicht gebührend beachtet haben, Menschen ahnen, dass sie sich um nachhaltige Denk- und Verhaltensweisen bemühen müssen.

Ein Sachse, der in Dresden geboren wurde und seit längerer Zeit an der schönen Côte d'Azur lebt, hatte sich vorgenommen, eine vorangegangene Gedankenkette über Wertvorstellungen und gesellschaftliche Kultur vermittels Gedanken über nachhaltige Denk- und Verhaltensweisen 'weiterzuspinnen'. Dabei konnte der Dresdner feststellen, dass vor ihm bereits der längst verstorbene Sachse Hans Carl von Carlowitz (1645 – 1714) das Thema Nachhaltigkeit ziemlich umfassend dargestellt hat. 

Ulrich Grober (* 1949) hat auf Carlowitz' aufmerksam gemacht, und darüber hinaus gezeigt, wie lebendig das Thema Nachhaltigkeit schon immer war und heute mehr denn je ist.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit: Kulturgeschichte eines Begriffs

Ulrich Grober

Nachhaltig ist heutzutage alles, von der Diät bis zum Ausbau der Kapitalkraft. Nachhaltigkeit ist aber unser ursprünglichstes Weltkulturerbe, ein Begriff, der tief in unserer Kultur verwurzelt ist und den es vor seinem inflationären Gebrauch zu retten gilt. Das von Joachim Heinrich Campe 1807 herausgegebene Wörterbuch der deutschen Sprache definiert das Wort »Nachhalt« als das, »woran man sich hält, wenn alles andere nicht mehr hält«. An was kann man sich halten, was bedeutet Nachhaltigkeit? In diesem anschaulich erzählten Buch wird der Begriff »Nachhaltigkeit« neu vermessen. Vor fast 250 Jahren avancierte er zum Leitbegriff des deutschen Forstwesens und bezeichnet seitdem die Verpflichtung, Reserven für künftige Generationen nachzuhalten. Das von Hans Carl von Carlowitz 1713 erstmals beschriebene Dreieck der Nachhaltigkeit ökologisches Gleichgewicht, ökonomische Sicherheit und soziale Gerechtigkeit ist heute als »sustainable development« in aller Munde. Die Idee dieses Begriffs aber reicht noch weiter zurück. Sie findet sich im »Sonnengesang« des Franziskus von Assisi genauso wie bei den griechischen Philosophen und den Philosophen der Aufklärung. Ulrich Grobers spannende (Zeit)Reise führt uns an den Hof des Sonnenkönigs und in die deutschen Fürstenstaaten, erzählt vom sächsischen Silberbergbau und vom Holzmangel. Und davon, dass die Nachhaltigkeitsidee überall, wo sie auftaucht, ein Kind der Krise ist, aber auch die Entstehung eines neuen Bewusstseins markiert. Des Bewusstseins, dass der Planet, auf dem wir leben, erhalten und bewahrt werden muss.

Von Freiberg nach Rio –  Carlowitz und die Bildung des Begriffs ›Nachhaltigkeit‹

Wer sich heute für Nachhaltigkeit engagiert, ist nicht nur Teil einer großen und wachsenden globalen Suchbewegung. Er ist auch Teil einer reichen Geschichte. Und diese Geschichte beginnt nicht erst in unserer Gegenwart, nicht erst in den ›think tanks‹, den Denkfabriken der UNO oder des Club of Rome. Dieses Denken ist uralt. Es hat tiefe Wurzeln in den Kulturen der Welt. Es ist ein geistiges Weltkulturerbe. Aber die Geschichte des Begriffs beginnt mit einem Buch, das in Freiberg geschrieben wurde -hinter den wuchtigen Mauern des spätgotischen Gebäudes unweit des Domes, in dem seit 350 Jahren fast ununterbrochen das sächsische Oberbergamt seinen Sitz hat. Erschienen ist das Buch 1713, vor 300 Jahren, in Leipzig. Der Titel klingt sperrig: Sylvicultura oeconomica – Anweisung zur wilden Baumzucht. Der Autor, Hans Carl von Carlowitz, amtierte 1713 als sächsischer Oberberghauptmann in Freiberg. Sein Buch hat es in sich. Es schenkte uns eine semantische Innovation, die bis heute nachwirkt, ja erst heute ihr volles Potenzial entfaltet. Wenn es in barocker Sprache, in immer neuen Anläufen, in weitschweifigen, kreisenden und tastenden Denkbewegungen die »nachhaltende Nutzung« der Ressource Holz im Dienste des »gemeinen Wesens« (= des Gemeinwesens) und der »lieben Posterität« (Nachkommenschaft) einfordert, erlebt der Leser die Verknüpfung eines spezifischen Wortes mit einer klar umrissenen Idee. Mit diesem Buch begann die Ausprägung dieses Wortes zu einem Begriff, die Begriffsbildung von Nachhaltigkeit. Das Buch liefert uns die Blaupause für unser Leitbild. 

Gewiss hat der moderne Begriff einen wesentlich größeren Umfang. Er zielt auf das große Ganze. ›Sustainability‹ gilt als universelles Prinzip für den Umgang mit allen Ressourcen, ja sogar für eine Transformation unserer gesamten Lebensweise, also der Muster, wie wir produzieren, konsumieren und zusammenleben. Folgende, nicht weiter gekennzeichnete Seitenangaben beziehen sich alle auf dieses Buch. Für Carlowitz stand noch die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz im Vordergrund. Doch in den Tiefenstrukturen des Begriffs werden Zusammenhang und Kontinuität zwischen der Sylvicultura oeconomica und unserem modernen Konzept sichtbar. Spiegelt man unseren modernen Diskurs in der alten Quelle, so macht man erstaunliche Entdeckungen: Wo die Brundtland-Kommission der UN 1987 Nachhaltigkeit als eine Entwicklung definierte, »welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen «,ging es Carlowitz vor 300 Jahren um »eine immerwährende Holtz=Nutzung« (Untertitel) »zum Besten des gemeinen Wesens und denen Nachkommen zum Besten« (Widmung).Wo der Brundtland-Report von den »future generations« schreibt, spricht Carlowitz von der »lieben Posterität«. Wo Gro Harlem Brundtland »conservation and enhancement« (Bewahrung und Erweiterung) der Ressourcenbasis für erforderlich hält, ist für Carlowitz »Conservation und Anbau des Holtzes ... unentbehrlich«. Wo der Club of Rome-Bericht von 1972 über die Grenzen des Wachstums nach einem Modell für die Zukunft sucht, das »sustainable« ist, und das heißt: gegen einen »plötzlichen und unkontrollierbaren Kollaps« gefeit, spricht Carlowitz davon, dass ohne die »nachhaltende« Nutzung der Ressource Holz »das Land in seinem Esse«, in seiner Existenz »nicht bleiben mag« (S. 105), also kollabiert. Wo heutige Ökonomen wie der Amerikaner Herman Daly eine ›steady-state economy‹ entwerfen, also eine stetige Wirtschaft, die im »Fließgleichgewicht« oder »Beharrungszustand« bleibt, sprach Carlowitz von einer »beständigen, kontinuierlichen und nachhaltenden Nutzung«. Die Analogien sind frappierend: Heute wie damals geht es darum, die Selbstsorge der gegenwärtigen Generation unlösbar mit der Vorsorge für die kommenden Generationen zu verbinden. Generationengerechtigkeit ist über die drei Jahrhunderte hinweg der ethische Kern dieses Begriffs. Vielleicht haben Gro Harlem Brundtland und die vielen Wegbereiter des modernen Nachhaltigkeitsdiskurses Carlowitz weder gelesen noch seinen Namen gekannt. Entscheidend ist vielmehr Folgendes: Seit Carlowitz ist die Vokabel, der Wortkörper des allgemeinsprachlichen Verbes »nachhalten« mit Bedeutungen aufgeladen, die es zu einem Begriff machten. Diese Aufladungen blieben erhalten, als der deutsche forstliche Fachterminus »Nachhaltigkeit« im 19. Jahrhundert mit »sustained yield forestry« ins Englische übersetzt wurde. Sie sind bis heute wirksam. Darin liegt die historische Bedeutung der Sylvicultura oeconomica. Carlowitz hat als erster eine Form des Wortes »nachhalten« mit dem Gedanken der Daseinsfürsorge und der Daseinsvorsorge verknüpft und so ein Denken der Verantwortung für die nachkommenden Generationen begreiflich gemacht, auf den Begriff gebracht. Wie konnte ein Begriff aus dem vormodernen, kameralistischen Denken kleiner geschlossener mitteleuropäischer Territorien urplötzlich und explosionsartig in der globalisierten Welt des 20. Jahrhunderts eine derartig fulminante Wirkung entfalten? Eine erste Antwort: Auf den Fotos aus dem Weltall, die um 1970 von den bemannten Mondflügen zur Erde gesendet wurden, sah sich die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz und gar von außen. Ein epochales Ereignis: Schlagartig wurde man sich im ›global village‹ bewusst, dass der blaue Planet insgesamt ein geschlossenes, begrenztes System darstellt: ›spaceship earth‹. Die Grenzen des Wachstums kamen in Sicht und damit der Zwang zur Selbstbeschränkung.

Die Begriffe richtigstellen

Warum im Jahr 2013 Carlowitz und sein 300 Jahre altes Buch neu zur Kenntnis nehmen, ja sogar lesen? Auf die Frage, was er als erstes tun würde, wenn ihm der Kaiser die Regierung des Staates anvertraute, antwortete im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung der chinesische Weise Konfuzius: »Unbedingt die Bezeichnungen richtigstellen«. ›Zheng Ming‹ – die Richtigstellung der Worte – wörtlich übersetzt »auf korrekte Begriffe halten« – steht noch heute im Zentrum chinesischer Philosophie. Eine solche Arbeit am Begriff, eine neue Sorgfalt des Umgangs damit scheint heute im Fall von Nachhaltigkeit besonders dringlich. Alle reden von Nachhaltigkeit und das ist gut so. Aber dabei ist das Konzept in das Feuerwerk der Reklamesprache und der politischen Propaganda geraten. Wo alles nachhaltig ist, ist nichts mehr nachhaltig. Diese Beliebigkeit macht uns begriffslos. Ist das Wort schon verbraucht? Jetzt, da wir es so dringend brauchen? Nämlich als »key to human survival«, als Schlüssel zum Überleben der Menschheit. Können wir darauf verzichten? Haben wir einen gleichwertigen Ersatz? Ein anderes Wort mit demselben Bedeutungsumfang, mit der derselben Gravität und Flexibilität? Die Alternative zum sehr riskanten Verzicht auf den Begriff: Der schleichenden Entkernung des Begriffs die Suche nach seinem Kern entgegenzusetzen. Diese Suche führt uns in die Geschichte des Begriffs – und zu Carlowitz. In den Anfängen einer Begriffsbildung wird immer Elementares verhandelt. Hier wird die Substanz entwickelt, die später ihr Potenzial entfaltet, aber im Prozess der Operationalisierung und Anwendung zu verschwimmen droht. In diesem Sinn kann die Sylvicultura oeconomica uns heute dienen: Als Quelle, in der wir unseren Gebrauch des Wortes spiegeln und überprüfen können – und seine Würde neu erfahren. Die Entdeckung der Nachhaltigkeit geht weiter.

Die Macht bei menschlichen Beziehungen

Nachhaltiges menschliches Verhalten betrifft also nicht nur die Art und Weise, wie Menschen mit der Natur umgehen. Es betrifft zwar vordergründig menschliche Beziehungen zu Tieren und Personen, aber auch Beziehungen zu Produkten (und Dienstleistungen), zu Arbeitsverhältnissen, zu Plänen, zu Ereignissen, zu Themenbehandlung und zur Zeit. Beziehungen werden auf unterschiedliche Weise erlebt:
  • objektiv (kognitiv)
  • subjektiv (emotional, gefühlt)
  • achtsam (bewusst)
  • gewohnheitsmäßig (unbewusst)
Kürzlich wurde ich gefragt, ob der allgemeine menschliche Anspruch berechtigt ist, „ein gutes Leben für alle, in der Gegenwart und in der Zukunft, zu haben.“ Der Fragesteller sagte nicht, ob es ihm um ein objektives oder subjektives Anliegen geht. Es ist offensichtlich, dass wir uns alle an Tätigkeiten und Personen erfreuen, die uns verlockend 'erscheinen'. Falls der Erwerb einer Fähigkeit wenig Mühe macht, wird sie relativ schnell zur Gewohnheit. Dagegen erfordert der Erwerb anspruchsvoller (auch professionell nützlicher) Fähigkeiten viel Mühe, bis sie 'verinnerlicht' werden. Eine mühsam erworbene Handlungsmöglichkeit zu verlieren – aufgrund des Verlustes des Arbeitsplatzes, des Verlustes einer Liebesbeziehung, des fortgeschrittenen Alters oder einer Krankheit – kann bewirken, dass Denk- und Verhaltensweisen entsprechend einer neuen Situation mühsam revidiert werden müssen.

Meines Erachtens gibt es keine Hinweise, dass ein Anspruch auf ein sowohl objektiv als auch subjektiv erlebtes gutes Leben vermittels der menschlichen biologischen Evolution im menschlichen Gehirn von Geburt an 'verankert' ist. Neurobiologische Erkenntnisse weisen vielmehr darauf hin, dass
  1. in allen Lebewesen existiert der Instinkt zum Überleben ,
  2. menschliche Wesen in der Lage sind Fähigkeiten zu erwerben, um mit möglichst vielen Situationen im Leben zurechtzukommen,
  3. etwa 80 bis 90 Prozent menschlicher Gehirntätigkeit unbewusst ablaufende Vorgänge betrifft – emotionalem, intuitivem und an-gewohntem Denken und Handeln.
Der Neurobiologe Gerald Hüther (*1951) vertritt eine Theorie des Bewusstseins, die besagt: „Es gibt immer übergeordnete [neuronale] Muster, die darunterliegende Prozesse lenken und steuern. Zum Beispiel haben wir ein Bewegungsmuster, das uns hilft, ein Glas an den Mund zu führen. Das ist eine Bewegungsgestalt, die im Hirn abgespeichert ist. Wollen wir nun also etwas trinken, wissen wir durch das Muster, wie es geht und brauchen uns das Trinken nur vorzustellen. Das Gehirn reguliert dann von allein die ganzen einzelnen Bewegungen und Muskelkontraktionen, um das Glas anzuheben und zu trinken. Dieses Beispiel können wir auch auf der Ebene der Steuerung unseres Verhaltens anwenden. Dort nennt man übergeordnete Muster innere Einstellung, Haltung oder Mindset. Von dieser Haltung hängt es ab, wie wir uns verhalten. Wenn Menschen die Frage beantworten, was für ein Mensch sie sein wollen, dann ist die Antwort immer gleich. Denn die Frage ist so grundlegend, dass es darauf nur eine Antwort gibt: Ich möchte jemand sein, der andere Menschen glücklich macht. Oder ich möchte jemand sein, der diese Natur erhält und der dazu beiträgt, dass hier alles wachsen kann. Es gibt keine Antwort wie „ich möchte jemand sein, der besonders viel Geld hat....... Stellen wir uns mal vor, wir fragen jemanden und der antwortet: „Ich bin auf der Welt, damit ich ein gutes Leben habe, damit es mir gut geht.“ Dann würde ich fragen, was ist denn das, was dich glücklich macht? „Wenn ich viel Geld habe.“ Und was machst du mit dem vielen Geld? „Damit kaufe ich mir eine Segeljacht.“ Und was hast du damit vor? „Dann fahr ich umher.“ Wie viele Jahre möchtest du gern umherfahren? Dann fängt er an nachzudenken, denn er möchte nicht sein ganzes Leben auf der Segeljacht fahren – was ich damit zeigen will: In diesen Befragungen müssen Sie immer weiterfragen. Am Ende wird die Person erkennen, dass sie nur glücklich sein kann, indem sie auf eine Art und Weise lebt, dass andere Lebewesen auch leben können. Es geht gar nicht anders.

Als Gerald Hüther gefragt wurde, wie kann man Menschen dazu bringen, ihr Denken und Verhalten zu ändern, war seine Antwort: : „Bisher haben wir immer gedacht, dass wir Menschen von außen dazu bringen können, ihr Verhalten zu ändern. Doch noch nie sind die Leute mit solchen großen Autos umhergefahren, noch nie waren die landwirtschaftlichen Nutzflächen so ausgebeutet und noch nie ist so viel Plastikmüll in den Meeren geschwommen. Also heißt das doch, dass unsere bisherigen Strategien nicht funktioniert haben. Wenn es also nicht von außen geht, muss es von innen gehen. Wir müssen uns fragen: Was im Menschen kann man wachrufen und stärken, damit er aufwacht und sich anders verhält? Wir müssten ein bestimmtes Bild von uns selbst haben und feststellen, dass dieses Bild nicht mit dem übereinstimmt, wie wir tagtäglich handeln. Durch dieses Missverhältnis ginge es uns nicht gut. Und dann würden wir versuchen, unser Verhalten an das Bild von uns selbst anzupassen. Vorausgesetzt ist, dass wir ein starkes Bild von uns haben, denn sonst kann man dieses Bild in die Ecke legen und sagen „das interessiert mich nicht“. Das stärkste Bild, das ich für solche Fälle gefunden habe, ist die Vorstellung von der eigenen Würde.“

Hüther irrt, wenn er glaubt, dass Menschen am Ende erkennen, dass sie nur glücklich sein können, indem sie auf eine Art und Weise leben, dass andere Lebewesen auch leben können. Hüther übersieht die Rolle der Macht.

Robert V. Levine (1945 - 2019), ein US Sozialpsychologe, widmete viele Studien dem Thema wie Menschen unterschiedlicher Kulturen Zeit wahrnehmen. Im Verlauf der menschlichen Kulturgeschichte wurde es notwendig, die Uhrzeiten zwischen staatlichen Grenzen weltweit zu normieren. Damit war die Voraussetzung geschaffen, Uhrzeiten weltweit zwischen Staaten zu synchronisieren. Damit wurde aber auch weltweit die Möglichkeit geschaffen, dass Zeit das Maß menschlicher Denk- und Verhaltensweisen wurde: “Zeit ist Geld“. Produkte und Dienstleistungen hatten nicht nur einen Handelswert, ihr Wert bemaß sich am Wert von persönlicher Arbeitskraft. Ereignisse und Themenbehandlungen hatten keinen ethischen und moralischen Wert, ihr Wert bemaß sich am kommerziellen Erfolg. Selbst menschliche Beziehungen wurden daran gemessen, inwieweit sie zu kommerziellem Erfolg beitragen.

Die Vorstellung “Zeit ist Geld“ betrifft jedoch nur ein objektiv messbares Zeitgefühl. Es wurde und wird auch heute als plausible Vorstellung von der Mehrheit der Bevölkerungen verinnerlicht. Das Maß “Zeit ist Geld“ hilft hierarchisch operierender Organisationen effektiv zu funktionieren. Geld manifestiert sich als Macht. Häufig wird übersehen oder gar ignoriert, dass auch ein subjektives Zeitgefühl existiert, das sich derzeit mehr oder weniger lautstark bemerkbar macht.

Wenn man bedenkt, wie lange Erkenntnisse hinsichtlich nachhaltigem Denken und Verhalten schon existieren, ohne dass sich Menschen in diesem Sinn wesentlich verändert haben, kommt man zu dem Schluss, dass Aufklärung weniger bewirkt als oft angenommen. Es ist letztlich notwendig, dass jeder sein Denken und Verhalten selbst einschätzt, inwieweit es nachhaltigen Zielen dienlich ist. und der Würde aller Menschen gerecht wird.

Die derzeitigen gesellschaftlich schwierigen Situationen deuten darauf hin, dass Homo sapiens früher oder später gezwungen sein wird zu lernen, gesellschaftliche Prozesse nachhaltig zu gestalten. Gewohnte gesellschaftliche Vorstellungen und Prozesse zu revidieren (zu reformieren?) ist jedoch ein schwieriges Unterfangen und braucht viel Zeit, weil Lernen auf dem Prinzip 'Versuch und Irrtum' beruht. Öffentliche polarisierende Meinungen, die heute stärker denn je von Medien beeinflusst werden, erschweren das Unterfangen zusätzlich.

Die Entdeckung der Nachhaltigkeit geht weiter.

Referenzen:

Ulrich Grober - Die Entdeckung der Nachhaltigkeit – Kulturgeschichte eines Begriffs.
Antje Kunstmann Verlag, München, 2013.
Ulrich Grober - Sustainability –  A cultural history.
Green Books, Totnes UK, 2012
Quelle:

Ulrich Grobers “Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ (2010) gilt als Standardwerk. Im Jahr 2012 wurde es ins Englische übersetzt. Die Royal Society lud ihn 2013 ein, seine Erkenntnisse zur Nachhaltigkeit darzustellen. 2014 diente ein Text von Grober der UNO in ihrem "Global Sustainable Development Report" als Referenz für die Geschichte des Konzepts Nachhaltigkeit.
Das Umweltministerium in Brandenburg: Grober leiste mit seinem Buch einen wichtigen Beitrag dazu, dass Nachhaltigkeit nicht zum Modewort verkommt, sondern die Idee vom nachhaltigen Denken, Leben und Handeln die Köpfe und Herzen der Menschen im Alltag erreicht. Dabei zeichnet er in unterhaltsamer und gut lesbarer Form die historische Entwicklung des Wortes nach. Der Leser erfährt auf einer Gedankenreise vom Buch Genesis über mittelalterliche Klöster, barocke Verwaltungssprache, Woodstock und John Lennon – um nur einige Stationen zu nennen – Erstaunliches über und um den Begriff der Nachhaltigkeit. (Wikipedia)

Boje Maaßen - Ein Interview mit Ulrich Grober: “Das Gegenteil von Kollaps“

Gerald Hüther: „Das Leben besteht nicht darin, sich irgendwelche Konsumbedürfnisse zu erfüllen“